Überwachungsstaat in Frankreich?

Datenhunger in Paris

Nach der Einführung einer neuen polizei­lichen Datenbank, die Einblicke in das Privat­leben der Bürger gewähren soll, fürch­ten viele Franzosen den totalen Über­wachungsstaat. Angesichts des starken gesellschaftlichen Protests musste die ­Regierung ihre umfassenden Überwachungspläne teilweise entschärfen.

Es hört sich zwar zunächst so an wie ein schön klingender Frauenname. In Wirklichkeit verbirgt sich hinter »Edvige« der weniger poetische Titel »Exploitation documentaire et valorisation de l’information générale«, zu Deutsch: »Dokumentarische Auswertung und Nutzung der allgemeinen Information«. Es handelt sich um eine polizeiliche Datenbank, die tiefe Einblicke in das Privatleben der Franzosen gewähren soll.
Bereits nach der Einrichtung der neuen Kartei durch ein Regierungsdekret Ende Juni wurden die Überwachungspläne der Regierung scharf kri­tisiert. Noch im Juli sammelten sich Dutzende von Vereinigungen und Initiativen, um den Protest zu organisieren. Zu den Kritikern der staat­lichen Speicherwut gehören mittlerweile Gewerk­schafter und Linksradikale sowie Liberale aus der rechten Mitte.
Angesichts des immer heftiger werdenden Protests, der offenbar von der Regierung unterschätzt wurde und der auch aus den eigenen Reihen kam, sah sich Staatspräsident Nicolas Sar­kozy in der vergangenen Woche gezwungen, die Notbremse zu ziehen. Ein neues Dekret wurde an­gekündigt, das voraussichtlich einige Aspekte des gigantischen Datenspeichers entschärfen und das, wie Sarkozy formulierte, »die Wahrung der Freiheitsrechte« garantieren soll. Dies bedeutet dennoch nicht, dass die Edvige vom Tisch ist. An­dere wichtige Teile des Datensammelprojekts wer­den beibehalten. Vor allem diente Sarkozys Einsatz darauf, einen schnellen Schlussstrich unter die Debatte ziehen, bevor sie richtig begonnen hat.

Das neue Instrument erlaubt der Polizei, grund­sätzlich zwei große Personenkreise zusammen in einer einzigen Datenbank einzuspeichern. Einerseits handelt es sich um »Friedensstörer«, die durch straffälliges oder sonstiges als »negativ« eingeordnetes Verhalten auffällig geworden sind. Erfasst werden kann man ab dem Alter von 13 Jahren. Auch bestimmte »Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens« sollen erfassbar werden. Zu ihnen zählen auch alle »Personen, die ein politisches, gesellschaftliches oder gewerkschaft­liches Mandat ausgeübt oder sich für ein solches Mandat beworben haben«. Hinzu kommen »Personen, die im wirtschaftlichen oder sozialen Leben eine wichtige Rolle spielen«.
Diese Bestimmung erlaubt es vorbehaltlos, et­wa die Namen von Gewerkschaftsmitgliedern, Ak­tivisten von Bürgerinitiativen und von Personen, die beispielsweise Demonstrationen anmelden, systematisch in dieselbe Datei der »Friedensstörer« abzuspeichern. Scharfe Kritik regt sich vor allem gegen einen Punkt: In »Ausnahmefällen«, die aber in der Praxis schnell zur Regel werden könnten, sollen auch Eigenschaften wie Gesundheitszustand, sexuelle Orientierung oder auch ethnische Herkunft erfasst werden können.
Manche Beobachter weisen darauf hin, dass es schon seit längerem ähnliche Pläne gegeben habe. Tatsächlich gehen die Grundzüge der neuen Datenbank auf den 1991 unter der sozialdemokratischen Regierung von Michel Rocard offiziell eingeführten Datenspeicher der politischen Abteilung der Polizei zurück. Auch damals wurden etwa »Mandatsträger« explizit erfasst. Nur werden jetzt die legal abgespeicherten – und damit eventuell vor Gericht verwertbaren – Informa­tionen, die zuvor über mehrere Dateien verstreut waren, zu einem großen Pool vereinheitlicht. Auf ihn werden entsprechend viele Beamte und Abteilungen gleichzeitig Zugriff haben. Zudem handelte es sich bislang oft noch um Karteien, die mit Registrierkarten aus Papier funktionierten und durch Schreibtischbeamte relativ mühsam ausgewertet werden mussten. Nun soll alles di­gitalisiert werden.
Seit Anfang September wandten sich auch Rechts­liberale, wie der Oppositionspolitiker Fran­çois Bayrou und sogar der amtierende Verteidigungsminister Hervé Morin, gegen das Überwachungsprojekt. Auch die Vorsitzende des Unternehmerverbands, Laurence Parisot, wandte sich überraschend gegen Edvige. Dadurch vertiefte sich die Spaltung im konservativ-liberalen Spektrum.
Gleichzeitig steigerten sich auch die Aktivitäten der sozialen Opposition nochmals sprunghaft. Innerhalb weniger Tage nahm die Zahl der Unter­schriften der Petition gegen die Datei von 100 000 auf über 140 000 zu. Und dies wird noch nicht alles sein, denn die Opponenten möchten einen langen Atem beweisen. Sie rufen nun zu einem Aktionstag am 16. Oktober auf, das ist der Namens­tag der Schutzpatronin Saint-Edvige. Heilige Hedwig, bitte für uns!
Die »Kompromisslinie« der Regierung scheint darauf hinauszulaufen, dass die Speicherung von Angaben über die sexuelle Orientierung und den Gesundheitszustand sowie die Namen von (ohnehin bekannten) Prominenten aus dem über­arbeiteten Speicher Edvige verschwinden. Der Rest hingegen soll bleiben. So kündigte der Radio­sender Europe 1 es am Montag an. Er zitierte Präsident Sarkozy, der darauf drängt, eine »Lösung innerhalb der nächsten Tage« zu finden, und bis zum Ende der Woche einen Deckel auf dem Topf sehen will. Von Nicolas Sarkozy stammen auch die Worte, es gehe nun darum, an Edvige »alles zu entfernen, was nicht unabdingbar ist«, aber »alles zu bewahren, was für die Sicherheit der Franzosen nötig ist«.

Die Regierung steckte damit zwar symbolisch zurück – und hat dadurch bereits durchgegeben, dass sie erstmals in einer die »Innere Sicherheit« betreffenden Frage nicht die Öffentlichkeit mehrheitlich hinter sich weiß. Aber zugleich versucht sie dennoch, das Wesentliche zu retten. Die Oppo­nenten lassen unterdessen nicht locker. Die linke Richtergewerkschaft Syndicat de la Magistrature befindet etwa, die aktuell laufende »Konzertierung« sei »eine Phantasieangelegenheit«. Denn niemandem sei damit gedient, mit der Regierung zu beraten, während diese bereits die neugefassten, überarbeiteten Bestimmungen fertig in der Hinterhand habe. An ihren angekündigten Protesten werden die Gegner von Edvige auch weiter­hin festhalten.
Unterdessen werden aber, im Windschatten der anhaltenden Polemik rund um die Datenspeiche­rei, in der französischen Innenpolitik noch andere autoritäre Vorhaben im Namen der »Sicherheits­erfordernisse« still und leise durchgezogen. Am 9. September erschien das Regierungsdekret, wonach es künftig Beamten der Kommunalpolizei in französischen Städten erlaubt werden soll, sich mit Elektroschockpistolen, so genannten Ta­ser, auszurüsten, die ihr »Opfer« vorübergehend in einen Lähmungszustand versetzen. Bisher war die »nicht letale (tödliche) Waffe« nur bei der nationalen Polizei und der Gendarmerie im Einsatz.