Eine bayerische Wahlnacht

Die neue Wahlfreiheit

17 Prozent Stimmverlust für die CSU bei den Landtagswahlen in Bayern sind das Ergebnis der Ära Stoiber ohne Stoiber.

»Es war ein schwarzer Tag für die CSU – aber auch für Bayern.« In dieser Bilanz der Generalsekretärin der CSU, Christine Haderthauer, wird einmal mehr die Einheit von Partei und Freistaat beschworen. Jedoch sie ist dahin: 43,3 Prozent und ein Stimmenverlust von 17 Prozent sind ein derart desaströses Ergebnis, wie es selbst realitätsvergessene Utopisten nicht für möglich gehal­ten hätten. Der Verlust der absoluten Mehrheit für die über Jahrzehnte allein regierende CSU wird denn auch mit wolkigen Worten beschrieben: Verlust des Nimbus, Ende eines Mythos, Bayern normal, entzaubert! Es soll jetzt sogar Menschen geben, die können sich vorstellen, die CSU nicht zu wählen.

Noch vor fünf Jahren erreichte Edmund Stoiber eine satte Zwei-Drittel-Mehrheit. Dies war jedoch paradoxerweise der Anfang vom Ende. Denn Stoiber setzte auf der Höhe seines Erfolgs ehrgeizige Pläne durch: umfangreiche Sparmaßnahmen, um einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen, und eine unglückliche Verwaltungsreform. Und nachdem über lange Zeit das neunjährige Gymnasium als wichtigster Bestandteil des bayerischen Bildungssystems beschworen worden war, wurde über Nacht verkündet, dass acht Schuljahre reichen sollten. Während die Straßen im Land verkamen, weil dafür zu wenig Mittel bereitgestellt wurden, präsentierte sich der Ministerpräsident vor teuren Modellen des Magnetschwebezugs Trans­rapid, mit dem er den Flughafen München näher an, ähem, Bayern rücken wollte.
Mit diesen Unterfangen, die, in der Staatskanzlei beschlossen, ohne offene Diskussion in Partei oder Landtag durchgesetzt wurden, läutete Stoiber selbst das Ende seiner Ära ein. Er vergraulte damit zuallererst die eigene treue und stockschwarze Beamtenklientel. Dass dann nach seiner Ablösung zwei langjährige Stoiberianer wie Günther Beckstein und Erwin Huber einfach als Ministerpräsident bzw. Parteivorsitzender weiter regieren wollten, sah auch das konservative Stimm­vieh nicht mehr ein.

Die großen Gewinner sind die Freien Wähler (FW), die 10,2 Prozent der Stimmen erhielten. Sie haben vor allem im ländlichen Raum abgeräumt, was nicht verwundert, sind sie doch bisher nur in den kleineren Kommunen vertreten und stellen in Bayern jeden dritten Bürgermeister. Politisch fordern sie ein »Best of« der Wahlprogramme von CSU, SPD und FDP. Also für mehr Bildung, Familie, ÖPNV und Straßenbau bei weniger Steuern und Bürokratie. Wie – und ob überhaupt – diese heterogene »bürgernahe« (und stark männlich dominierte) Gruppierung ihren Willen politisch artikulieren kann, weiß sie vermutlich noch nicht einmal selbst. Ihr markigster Wahlkampfspruch lautete: »Schutz des Eigentums, auch im Erbfall!« Es handelt sich um eine eher diffuse Protestwählerbewegung, allerdings (noch?) ohne eindeutige rechtspopulistische oder rechtsextreme Positionierung, was sie von anderen Protestparteien unterscheidet. Man denke etwa an Ronald Schills Statt-Partei oder die aktuellen rechts­populistischen Wahlgewinner in Österreich. Dafür sind die kommunalen Mandatsträger der Freien Wähler wohl auch zu bieder. Sie haben vor allem von Wählerwanderungen aus der CSU profitiert, und besonders Landwirte haben für sie gestimmt.
Die große Hoffnung der CSU ist nun, dass bei den nächsten Europa- und Bundeswahlen, wo die FW nicht antreten, die enttäuschten Wähler wieder zurückkehren, die aktuellen Verluste also nur temporär sind. Sollte dies nicht der Fall sein, werden CDU und CSU auf Dauer geschwächt und vermutlich keine Koalitionen auf Bundesebene mehr mit nur einer kleineren Partei, wie der FDP, bilden können. Sollte die CSU noch weiter an Stimmen verlieren, könnte sie bei Europawahlen sogar an der der Fünf-Prozent-Klausel scheitern.
Die ewige Oppositionspartei in Bayern konnte jedenfalls nicht von den enormen Verlusten der CSU profitieren. »Die SPD ist bundesweit in den letzten Wochen und Monaten abgestürzt – wir sind in Bayern stabil geblieben.« So verkauft der Spitzenkandidat Franz Maget das historisch schlechteste Ergebnis der SPD in Bayern mit 18,6 Prozent.
Die FDP ist mit acht Prozent der Stimmen nach 14jähriger Abwesenheit in den Landtag zurückgekehrt, wo sie sich mit den gleichfalls erstarkten Grünen (9,4 Prozent) um die Belange der Besserverdienenden bemühen darf. Vermutlich dürfen die Liberalen wohl gleich aus dem außerparlamentarischen Nichts in die Regierung und koalieren.
Hingegen ist die Linkspartei knapp mit 4,3 Pro­zent gescheitert, sonst wären sechs Parteien im Parlament vertreten. Bemerkenswert, dachte man doch, die Linken könnten mit »ihrer Freibier-Mentalität« (Sepp Daxenberger, Vorsitzender der bayerischen Grünen) hier durchaus reüssieren.

Tja, was machen nun die Bayern mit der neuen Unübersichtlichkeit? Wie fühlt man sich, wenn man vom Absolutismus in die Wahlfreiheit gebeamt wird? Wenn man Part eines Lehrstücks über die Arroganz der Macht war? Bisher hat die CSU während ihrer 46 Jahre dauernden Regentschaft alle Umbrüche überlebt, ja dem Untergang ganzer Reiche nach dem Fall der Mauer zugesehen. Selbst die Digitale Revolution haben die Christsozialen mit dem Slogan von »Laptop & Lederhose« in eine ganz spezielle symbiotische Beziehung aufgelöst und gebannt. Dabei entwickelte sich München und das oberbayerische Umland zur beispiel­losen Boomregion, was Wirtschaftswachstum, Kaufkraft und Mietpreise angeht.
Der ländliche Raum, vor allem die ehemaligen Zonenrandgebiete, konnte jedoch nicht an diese Entwicklung anknüpfen. Die Verlagerung von Lan­desbehörden in die endlosen Weiten der bayerischen Pampa führte nur zum Verdruss der zwangs­versetzten Beamten, nicht aber zum Pros­perieren dieser Gebiete. Auch auf den gewaltigen Verlust an Arbeitsplätzen in der Industrie fränkischer Städte wie Schweinfurt und Nürnberg wusste die Regierung des Freistaats bisher keine Antwort. Die wirtschaftspolitische Bilanz der CSU ist, München einmal ausgenommen, also eher durchwachsen. Da die Partei aber, abgesehen von der Forderung nach der Wiedereinführung der Pendlerpauschale, keine Themen zu besetzen wusste, ist sie von den Wählern gehörig abgestraft worden. Etwas spät vielleicht und etwas ungerecht, weil andere die Verantwortung für Stoibers verfehlte Politik tragen müssen. Der hat übrigens am Wahltag seinen 67. Geburtstag gefeiert. Aber vermutlich wird er sich nicht lange an seinem Ge­burtstagsgeschenk, der Niederlage der Männer, die ihn zum vorzeitigen Rücktritt gezwungen hatten, freuen können.
Wo sich alles ändert, werden dennoch alte Traditionen mit Leben erfüllt. Wie einst Franz Josef Strauß, tat auch der Parteivorsitzende Erwin Huber, als ein durchaus würdiger Nachfolger am Wahlabend zu vorgerückter Stunde sichtlich angeheitert und mit deutlichem Zungenschlag im Fernsehen seine Meinung kund.