Cem Özdemir wird Vorsitzender der Grünen

Der Extrembefürworter

Cem Özdemir will Bundesvorsitzender der Grünen werden. Trotz allem. Die baden-württembergischen Delegierten der einzigen deutschen Partei mit moralisch rigoroser Basis lassen ihn nicht in den Bundestag, obwohl er doch eigentlich alles richtig gemacht hat.

Dass der ehemalige Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir vor einigen Jahren dienstlich gesammelte Flugmeilen für sich privat nutzte und seinen Eltern Freiflüge verschaffte, weswegen ihm seinerzeit die so genannte »Bonusmeilen-Affäre« zum Verhängnis wurde, ist ihm nicht vorzuwerfen.
Ein gewisses Maß an Korruption gehört seit je zum politischen Geschäft. Und würde man es denn allen Ernstes irgendwem verübeln, dass er sich in seinem Job ungehemmt die Vorteile verschafft, die sich ihm bieten? Wozu ist man schließ­lich Politiker geworden? Wer Gutes tun will, ge­he zu den Pfadfindern oder zur Heilsarmee.

Özdemir legte seinerzeit infolge der Affäre, von seinen Parteikollegen nicht gerade flammend ver­teidigt, sein Bundestagsmandat nieder. Seither parkte man ihn im Europa-Parlament, einer Art überdimensioniertem Abstellraum für in Korruptionsaffären geratene und anderswo gerade nicht brauchbare Politiker. »Hier durfte er die von den Bundesgrünen heutzutage so betonte ›Of­fenheit nach allen Seiten‹ ausreichend praktizieren«, freut sich in einem Jubel-Artikel das Zentralorgan der Partei, die taz.
Die Zeit schrieb im Jahr 2002, nach Özdemirs Ausscheiden aus der Bundespolitik, in einem ebenso kenntnisfreien wie liebedienerischen Kom­mentar: »Cem Özdemir wird sich nun gezwungenermaßen außerhalb der Politik umtun. Dass er mit seinen Talenten auch dort Karriere machen kann, ist nicht gerade unwahrscheinlich. Er wird sich engagieren und Verantwortung übernehmen – wie bisher. (...) Seine Sehnsucht, sich in vier Jahren erneut dem moralischen Rigorosum der grünen Basis zu stellen, könnte sich dann allerdings in engen Grenzen halten.« Özdemir hat sich nach allem Anschein kaum außerhalb der Politik umgetan, und auch seine Sehnsucht, den grünen Hampelmann zu machen, hat sich nicht in engen Grenzen gehalten.
Und nein, auch nicht um Gutes zu tun, ist der angeblich so überaus talentierte Cem Özdemir jetzt, nach einer Zeit des rastlosen Engagements und Verantwortungübernehmens im EU-Parlament, angetreten, sondern um des Gegenteils wil­len: um Parteivorsitzender der Grünen zu werden, der einzigen deutschen Partei mit moralisch rigoroser Basis.
Alle notwendigen Voraussetzungen dafür hat er, der freilich noch im Frühjahr seine Kandidatur für den Parteivorsitz ausgeschlossen hattte: Eloquent gibt er die handelsüblichen Floskeln von sich, die man als erfahrener Polit-Zombie beherrschen muss (»Ökologie und Nachhaltigkeit«, »das ist eine entscheidende Frage für die Zukunft unseres Landes«, »Die Wachstumsmärkte sind die erneuerbaren Energien und Energieeffizienz«). Der Mann ist zweifelsohne ein Streber, einer, »der täglich 24 Stunden lang sich bemüht, einen guten Eindruck zu machen« (Hermann L. Grem­liza).

Nicht grundlos gilt er als »Hardcore-Realo« (Rheinische Post), »sozialabbauwilliger Realo« (taz) und freilich auch deshalb als beflissener »Vorzeigepolitiker« und »grüner Hoffnungsträger« (Die Zeit), als »einer der größten Hoffnungsträger der Partei«, als der »Reformer« (Financial Times), als den er sich selbst bereitwillig bezeichnet. Kurz: Er ist im Grunde der idealtypische neoliberale grüne Schwafelkopf, der überdies den nicht zu unterschätzenden Vorzug besitzt, allein aufgrund seines Status als Migrantensohn und seines erfolgreich zur Schau getragenen linksliberalen Gehabes als irgendwie diffus fortschrittlich und modern missverstanden zu werden, weswegen man sich bei der taz, geradezu trunken von der Kandidatur des »Öbamales«, »Multikultijungstars der Grü­nen« und »Augensterns Joschka Fischers«, zu unappetitlichen Lobhudeleien versteigt: »Özdemir wird bei seinem Amtsantritt schon so etwas wie ein lebendes Denkmal sein.« »Damit wird er nicht nur für die Grünen und nicht nur für die deutschen Parteien zur Symbolfigur.«
Dass Journalismus heute bevorzugt als marktschreierische Polit-Reklame daherkommt, zeigt aber nicht nur das allgegenwärtige und fortwährend von sämtlichen Medien wiedergekäute bewusstlose Phrasengestammel vom »lebenden Denk­mal« und »anatolischen Schwaben«.
Auch Mariam Lau (früher taz, heute für den Axel-Springer-Konzern tätig) beweist das mit ihrer redundanten und nichtssagenden Eloge, die nicht auch nur ein Spurenelement von Kritik ent­hält: »Ein Türke von der Schwäbischen Alb mit (...) extravaganten Koteletten wird Vorsitzender einer deutschen Partei – voilà, das können bislang noch immer nur die Grünen (...) Die Frage ist, was er der Partei jetzt geben kann.« (Welt Online)
Ja, was eigentlich? Zwei Gewissheiten.
Die Gewissheit, dass die Grünen derzeit mit allen koalitionsbereit sind außer mit »den Kommunisten.« (Guido Westerwelle). »Als Baden-Württemberger steht er jenen Grünen nahe, die lieber heute als morgen mit den Schwarzen koalieren würden.« (Financial Times) Özdemir selbst meint dazu: »Natürlich hat Schwarz-Grün einen theoretischen Reiz. Die spannenden Debatten führen heute ja Union und Grüne.« Bzw.: »Wenn die Union sich ein bisschen bewegt und wir uns ein wenig bewegen, könnten wir zu einem Gesell­schaftsvertrag für und in Deutschland kommen.«
Und die Gewissheit, einen das Wählerpotenzial perfekt befriedigenden, urban-weltoffenen Multikulti-Onkel zum Vorsitzenden zu haben, der gleichwohl eine Art deutscher Musterknabe ist: »Meine Frau und ich haben uns bewusst für Kreuzberg entschieden.«

Als vor einigen Jahren von der »deutschen Leitkultur« die Rede war, »war endlich auch der türki­sche Schwabe ein ganzer Deutscher und stolz darauf: ›Der Nationalismus ist in Deutschland nicht schlimmer als in anderen Ländern.‹« (Konkret)
Als Sprecher der sich kurioserweise als antirassistisch begreifenden, bei genauerem Hinsehen jedoch als Deutschland-Reklame entpuppenden »Initiative Deutsche gegen rechte Gewalt«, einer Kampagne, die vergleichsweise schamlos wirbt mit »Deutschen, die sich als Deutsche fühlen und stolz sind auf ihr Land«, präsentiert Özdemir sich in Interviews schon mal gern mit dem ubiqui­tären deutschnationalen Gequatsche von der Sorte, wie man es an jeder Straßenecke und aus jedem deutschen Fernsehsender 24 Stunden am Tag über sich ergehen lassen muss: »Der Nationalstolz an sich ist nichts Verwerfliches.«
So will er etwa »die Begriffshoheit des Deutsch­seins nicht den Rechtsradikalen überlassen«, mit »dem Nationalstolz unverkrampfter umgehen« und einiges mehr in dieser Richtung, was ihn Figuren wie Günther Beckstein zum Verwechseln ähnlich macht. Doch derlei sollte im Grunde ja niemanden wundern: Der Mann ist schließlich deutscher Innenpolitiker. Was sollte man anderes von ihm erwarten?
Volker Ratzmann, der Fraktionsvorsitzende der Berliner Grünen, auch so einer, der fortwährend darum bemüht zu sein scheint, die »Offenheit« der Grünen »nach allen Seiten« zur Schau zu stellen, und der bis Anfang September dieses Jahres Mitbewerber um das Amt des Parteivorsitzenden war, hat einmal in einem Interview, in welchem er sich selbst stolz einen »Radikalpragmatiker« nannte, offenbar unfreiwillig mit erstaunlicher Präzision ausgesprochen, welche Art Politik die Grünen betreiben. Wohlgemerkt handelt es sich bei ihm und Leuten wie Claudia Roth um die Sorte Radikalpragmatiker (man kann diese schöne und treffende Wortneuschöpfung, die klingt, als sei sie wie für die Grünen geschaffen, wie »überzeugter Opportunist« oder »Extrembefürworter«, nicht oft genug wiederholen), die die Presse gern »Parteilinke« zu nennen pflegt. Wer die Parteirechten sind, möchte man dann gar nicht mehr so genau wissen.