Die Insel der Exilanten

Die Zeit vor dem Ballermann

Mallorca hat eine lange und bewegte Tradition als Insel für Exilanten.

Den Winter 1838/39 verbrachte die französische Schriftstellerin Georges Sand mit ihrem Lieb­haber Frédéric Chopin und ihren beiden Kindern auf Mallorca und behielt den Aufenthalt in ex­trem schlechter Erinnerung. Die konservative bäuerliche Bevölkerung der Insel hatte es dem Paar übelgenommen, dass es nicht zur Kirche ging, und wurde im Gegenzug von Sand als dumm, hartherzig und gemein tituliert. Der tuberkulosekranke Chopin spuckte Blut, sein Klavier wurde lange nicht geliefert, und es regnete ohne Unterlass. »Oh, die Erbärmlichen! Wie ich sie hasse und verachte!« schrieb Sand später über die Mallorquiner, aber das hinderte andere später nicht daran, die Balearen, insbesondere Mallorca, aufzusuchen, denn das Leben auf den Inseln war vor allem eines, nämlich billig.
Heute möchten die Balearen weg vom Billigtourismus, aber der Tatsache, dass das Leben dort lange sehr preiswert war, haben sie es zu verdanken, dass sie sich heute mit zahlreichen illustren Namen schmücken können. So mietete sich während des Ersten Weltkriegs die amerika­nische Schriftstellerin Gertrude Stein mit ihrer Lebensgefährtin Alice B. Toklas in der Nähe von Palma de Mallorca ein, ihre Landsmännin Djuna Barnes zog sich 1925 an die Nordküste von Mallorca zurück, und der britische Schriftsteller Robert Ranke Graves verbrachte gar den größ­ten Teil seines Lebens auf der Insel und schrieb hier »Ich, Claudius, Kaiser und Gott«.
Lange waren die Balearen ein Geheimtipp in der Welt englischsprachiger und -schreibender Intellektueller, dann kamen, notgedrungen, auf der Flucht vor den Nationalsozialisten, die Deutschen: Walter Benjamin verbrachte 1933 einige Monate auf Ibiza, und im selben Jahr ließ sich dort der Dadaist Raoul Hausmann mit zwei Frauen nieder, von denen eine, Vera Broido, die Tochter der berühmten Menschewikin Eva Broido war. »Wir wollten dort einfach einen lan­gen Sommerurlaub verbringen«, schrieb Vera Broido in ihren Erinnerungen, »und dachten nicht im Traum daran, dass wir nie zurückkehren würden.«
Die Reise auf die Balearen, die Reise nach Mal­lorca, wurde für viele, die sich vor den National­sozialisten dorthin geflüchtet hatten, zu einer Reise ohne Wiederkehr. Denn bereits am ersten Tag des Putsches des Generals Franco gegen die spanische Republik, am 17. Juli 1936, fiel die Insel in die Hände der Falangisten. Sie durchkämmten die Insel mit Listen von Menschen, die sie erschießen wollten, was sie mit denen, die ihnen in die Hände fielen, auch taten. Ihre Opfer waren Menschen, die nicht in die Kirche gegangen waren, Menschen, mit denen Nachbarn eine Rechnung offen hatten, Menschen, von denen bekannt war, dass sie mit der Republik sympathisierten, Lehrer, Gewerkschafter und aus Deutschland geflohene Emigranten. »Nacht für Nacht«, schrieb der deutsche Schriftsteller Albert Vigoleis Thelen, der bereits seit 1931 auf Mallorca ansässig war, über die Massaker nach dem 17. Juli, »haben die Blauhemden auf der ganzen Insel gewütet, auf den Dörfern weit schlimmer als in Palma. Ein höherer Beamter des städtischen Hygieneamtes gab in ver­trautem Kreis die Zahl der in Palma im Laufe der ersten sechs Wochen erfolgten Hinrichtungen auf rund 1 500 an.«
Thelen ist, obwohl er sein Mallorca-Exil und das seiner Frau in dem Roman »Die Insel des zweiten Gesichts« verarbeitet hat, ein recht unbekannter Schriftsteller geblieben. Anders als Klaus Mann, der die Insel 1936 besucht hatte, und anders als der Tagebuchschreiber Harry Graf Kessler oder der Romancier Franz Blei, der sich ab 1932 auf Mallorca aufhielt und sich ganz in der Nähe des Schriftstellers Karl Otten in dem Örtchen Cala Ratjada niederließ.
Weithin unterschätzt geblieben ist auch Karl Otten. Als junger Mann hatte er Albanien durch­streift und den Ersten Weltkrieg prophezeit, für eine pazifistische Streitschrift im Gefängnis gesessen, expressionistische Texte verfasst und war – wie so viele andere – glühen­der Kom­munist gewesen. In den biografischen Angaben, die der 1919 erschienenen Anthologie »Mensch­heitsdämmerung« vorangestellt wurden, hatte er über sich erklärt: »Von meinem Le­ben kann ich nur sagen, dass es dem Kampf um Glück und Sieg der Armen, des Proletariats, geweiht war.« Und: »Ich gestehe, dass ich die Deutschen nie geliebt habe, dass ich nichts so hasse wie die deutsche Bourgeoisie – seit ich denken kann. Und ebenso lange liebe ich Russland, und ich verlange von jedem revolutio­nä­ren Dichter zunächst, dass er diese Liebe teile.«
Otten war aber auch, das hatte er mit dem ebenfalls im mallorquinischen Exil lebenden Journalisten Heinz Kraschutzki gemeinsam, überzeugter Pazifist. Das sollte sich mit der Über­nahme der Insel durch die spanischen Falangisten ändern.
Georges Sand hatte die Mallorquiner einst be­trügerisch, fanatisch und bigott wie zu Zeiten der Inquisition gefunden; in seinem Roman »Tor­quemadas Schatten«, der gleichfalls auf die Inquisition Bezug nimmt und einen Bogen von der Verfolgung durch Torquemadas Häscher bis zur Falange spannt, hat Karl Otten den Republikanern Mallorcas, den Armen der Insel und den einst von der Inquisition verfolgten Juden ein Denkmal gesetzt. Die Massaker an der Zivilbevölkerung und an den Flüchtlingen sowie die Reaktion der katholisch-bürgerlichen Bevölkerung der Insel beschreibt er anhand eines der Protagonisten des Romans, Valenti, über den es heißt: »Valenti drängt sich neben ein Ehe­paar, das offenbar auf dem Wege zur Kirche war und nun vor Begeisterung die Messe versäumte. Laut und unbekümmert besprechen sie die neuesten Ereignisse – ›Ja, und den Gouverneur, den Bürgermeister und alle Stadträte haben sie heute früh verhaftet und auf das Schloss Bellver geschafft – richtig, und 120 Anwälte, Ärzte und Redakteure der republikanischen Zei­tungen sitzen im Stadtgefängnis. Das Volkshaus ist ebenfalls besetzt, die Sekretäre haben sie aus den Betten geholt und in der Arena ­erschossen. Wirklich schade, dass es keine Eintrittskarten gab – ich hätte sie ja vor die Stiere getrieben.«
Die Lage der Armen auf Mallorca, die Lage der Republikaner ist im Roman so hoffnungslos, wie sie für die Verfolgten wirklich war. Nur wenigen Protagonisten gelingt es, vorerst zu entkommen und sich in einer Höhle zu verschanzen. Einer von ihnen, wiederum ist es Valenti, entschließt sich zum Widerstand: Er zündet einen Wald an, jagt seinen Gegnern eine Feuersbrunst entgegen und hat selber wenig Chancen, dem Inferno zu entkommen. Aus dem überzeugten Pazifisten Otten war wäh­rend der Niederschrift ein Mann geworden, der von Widerstand und Kampf träumt.
Neben Thelens »Die Insel des zweiten Gesichts« ist »Torquemadas Schatten« der zweite große Mallorca-Roman aus deutscher Feder. Er wurde Ende 1938 in den Niederlanden gedruckt, aber dann besetzten die Deutschen das Land und vernichteten alle Exemplare, derer sie habhaft werden konnten. Der Roman geriet in Vergessenheit, bis er 1980 vom Konkret-Literaturverlag wieder aufgelegt wurde. Karl Otten hatte sich derweil geweigert, nach Deutsch­land zurückzukehren. Man hatte ihn aber auch nicht dazu eingeladen.
1959, vier Jahre vor seinem Tod, wurde die Anthologie »Menschheitsdämmerung« neu auf­gelegt und der ehemalige Expressionist Otten erneut um biografische Angaben gebeten. Nun erwähnt er den zornigen jungen Mann, der er damals war, und möchte seine damaligen Aussagen berichtigen: »Das gilt dann für jene Stelle in meinem damaligen Zornesausbruch, in der ich, den messianischen Kommunismus ernstnehmend, in Russland und seiner Revolution die Erlösung vom Übel zu erblicken glaubte. Ich war nicht der einzige, der das tat.« Und er fasste zusammen: »Die Geschichte hat uns eines Schlimmeren belehrt, und die Jahre, die dann folgten, stellten das Grauen des ersten Weltkrieges in den Schatten. Hoffnung und Grauen haben daher mein Leben bis in die kleinste Äußerung bestimmt.«
Trotz des bitteren Endes und ihrer Vertreibung hatte das Leben auf Mallorca, das die deutschsprachigen Schriftsteller dort zwischen 1931 und 1936 führten, aber auch eine idyllische Seite gehabt. Und den bereits erwähnten Vorteil: Es war sehr preiswert, was umso wichtiger war, als die meisten der aus Deutschland Geflohenen auf finanzielle Unterstützung angewiesen waren. Daheim wurden ihre Bücher verbrannt und aus den Bibliotheken entfernt. Mit Honoraren und Tantiemen war nicht mehr zu rechnen. The­len, der auch als Sekretär für Graf Kessler arbeitete, und seine Frau konnten sich mit Privatunterricht etwas verdienen, oder sie führten deutsche Touristen über die Insel. Die jüdische Reiseschriftstellerin Martha Brill, die sechs Monate auf Mallorca verblieb, bevor sie sich auf den Weg nach Brasilien machte, wurde von ­ihrem Bruder unterstützt, und der Lyriker Erich Arendt und seine Frau Katja, auf Mallorca im Exil, arbeiteten als Bedienstete bei einem Baron.
Dennoch klingen einige der Berichte im Nach­hinein paradiesisch. So schrieb beispielsweise Franz Blei an einen Freund: »Ich weiß nur, dass Juli ist, nicht der wie vielte und nicht welcher Tag der Woche, auch die Uhr liegt längst unaufgezogen, man trägt die landes­üblichen Leinenschuhe mit Bastsohlen, ein­mal den Overall, dann das Badetrikot, weder Strümpfe noch Hemd noch Hut, ißt vielerlei vorzügliche Fische und starkschaliges Getier, das man mit dem Hammer öffnen muss, um zu dem zu kommen, weswegen mans gekocht hat, trinkt einen Wein dazu, der entweder gelb oder braun oder schwer und leider etwas reich an Alkohol ist, dann gibt’s sehr gutes Gemüse, Aprikosen, Feigen, Mandeln.«
In diese Idylle brachen die Falangisten. Im August versuchten republikanische Truppen, die Insel zurückzuerobern, und mussten diesen Versuch mit dem Leben bezahlen. Die Emigranten aus Deutschland konnten sich nur retten, indem sie auf ein englisches Kriegsschiff gingen und sich evakuieren ließen.
Franz Blei gelang am 22. September eine Flucht, die nicht mehr endete: 1938 von den Nationalsozialisten auch aus Wien vertrieben, gelangte er über Frankreich und Portugal nach New York, wo er an einem Herzinfarkt verstarb. Seine Tochter Sybille, die sich und ihren Vater auf Mallorca mit einer Geflügelzucht über Wasser gehalten hatte, weigerte sich, weiter zu fliehen, und ließ sich mit ihrer Freundin in ­einem portugiesischen Dorf nieder, wo die beiden Krieg und Verfolgung tatsächlich überlebten.
Erich Arendt schlug sich aufs Festland durch, kämpfte auf Seiten der Republikaner im Spa­nischen Bürgerkrieg und gehörte zu derjenigen Minderheit der Internationalen Brigaden, die diesen Einsatz überlebte. Er und seine Frau entschlossen sich nach 1945 für ein Leben in der DDR. Der Fotografin Lore Krüger und Karl und Ellen Otten gelang die Flucht auf einem britischen Kriegsschiff. Während Lore Krüger über Frankreich in die USA entkam, siedelte sich das Ehepaar Otten in London an. Weniger Glück hatte Heinz Kraschutzki, der verhaftet wurde und eine jahrelange Odyssee durch spanische Gefängnisse antreten musste. 1940 dann verlangten die Deutschen von General Francisco Franco, der den Spanischen Bürgerkrieg im Jahr zuvor für sich entschieden hatte, dafür zu sorgen, dass Mallorca »judenrein« werde. Die Eltern von Lore Krüger, die sich als Juden 1933 aus Magdeburg auf die Insel geflüchtet hatten und 1936 zurück geblieben waren, begingen daraufhin gemeinsam Selbstmord.
Während Karl Otten, der früh erblindete, bereits 1963 in Locarno verstarb, wurde aus seiner Frau Ellen eine Übersetzerin von Weltrang, die erst 1999 im noch immer andauernden Exil in Italien starb und bis zu diesem Zeitpunkt die Erinnerung an ihren Mann und andere Schriftsteller im Exil gepflegt hatte.
Einige Jahre vor ihrem Tod hatte Ellen Otten Cala Ratjada noch einmal besucht und sich scho­ckiert gezeigt angesichts des Rummels, der mittlerweile in dem Örtchen herrschte. Seit den siebziger Jahren ist Cala Ratjada, wie nahezu die gesamte Küste Mallorcas, fast ausschließlich auf den Tourismus ausgerichtet, aus Mallorca ist die deutsche Urlaubsinsel schlechthin geworden. Harry Graf Kessler hatte ähnliches bereits im Jahr 1933 vorausgesehen und an seine Schwester geschrieben: »Die Hälfte der Geschäfte ist in deutscher Hand. Diese Deutschen gehören zur Unterschicht, ziemlich unangenehme Typen. Es sind keine Juden. Ich glaube, die meis­ten von ihnen sind Nazis. Das ist eine richtige deutsche Invasion.«
Die meisten derjenigen Deutschen, die heutzutage Mallorca besuchen, sind keine Nazis, sondern junge Leute ohne Geld oder Rentner und Arbeiter aus den Industrieregionen der Bundesrepublik, insbesondere das Ruhrgebiet ist stark vertreten. Auch diese Menschen schätzen an Mallorca in erster Linie, dass der Urlaub preiswert ist. Dass sie während ihrer Streifzüge über die Insel oder beim Sonnenbad an die Emi­granten aus Nazi-Deutschland denken, die gleich­falls mit jedem Pfennig zu rechnen gezwungen waren und 1936 aus ihrem Exil-Paradies vertrieben wurden, ist zu bezweifeln. Denn das deut­sche Interesse am ehemaligen Exil auf Mallorca ist nicht allzu groß, obwohl Reinhard Andress im Jahr 2001 das Buch »Der Inselgarten – das Exil deutschsprachiger Schriftsteller auf Mallorca« vorlegte und Christian Buckard 2006 eine Artikelserie über das Thema für den Freitag verfasste. Die Autobiografie von Heinz Kraschutzki aber, die 2002 herauskam, liegt bis heute nur auf Katalanisch vor und wurde nicht ins Deutsche übersetzt.