Mallorcas deutsche Parallelgesellschaft

Donde Jutta

Anfang der neunziger Jahre erlebte Mallor­ca die letzte große Einwanderungswelle von Deutschen. Haben sich die Migranten der mallorquinischen Leitkultur angepasst? Ein Integrationstest in der deutschen Parallelgesellschaft.

Paderborn, Münster–Osnabrück, Friedrichshafen steht auf den Anzeigetafeln über den Gepäckbändern am Flughafen von Palma. Da kommen sie her. Da wollten sie nicht bleiben, die deutschen Handwerker, Kneipenwirte, Kleinunternehmer oder Putzfrauen.
Sie wollen lieber in Paguera und Santa Ponsa an der südwestlichen Küste Mallorcas oder entlang der Playa de Palma ihr Glück versuchen.

»In Deutschland ziehen alle immer ein langes Gesicht. Hier sind die Menschen einfach freundlicher«, erzählt die gelernte Floristin Petra aus Essen, die seit 14 Jahren in Santa Ponsa, einer apar­ten deutschen Kolonie etwa zehn Kilometer west­lich von Palma, lebt. Mit Menschen meint sie jene aus Paderborn, Münster–Osnabrück, Friedrichshafen, die wie sie keine Lust mehr hatten auf das Leben in Deutschland. Petra spricht zwar Spanisch, sagt aber, sie habe abgesehen von ihrem Lebensmittelhändler um die Ecke mit Menschen ohne deutschen Migrationshintergrund kaum Kontakt.
»Ich vermisse hier nichts«, behauptet die Kneipenbetreiberin Elke aus dem Sauerland, die seit 14 Jahren in dem noch weiter westlich gelegenen Paguera wohnt und arbeitet. »Barcelona? Was sollen wir denn da?«, antwortet sie auf die Frage, ob sie jemals aus Mallorca herausgekommen ist, und klingt dabei so wie ein Tankstellenwart aus Pirmasens, den man fragt, ob er schon mal in Somalia Antilopen gejagt habe. Sie nimmt einen Schluck Gaffel Kölsch und erklärt dann, dass sie deutsche Zeitungen liest, deutsches Fernsehen guckt, bei Lidl oder im »Deutschen Supermarkt« einkauft, aber natürlich auch mal »beim Spa­nier«.
Der Klempner Manfred aus Saarbrücken, der seit 16 Jahren in Palma lebt, erzählt, dass er nichts mehr mit Deutschland zu tun habe, außer, dass er seine Kinder hin und wieder dort besuche. Anders als Elke oder Petra behauptet Manfred allerdings, dass er auch mit der »deutschen Community auf Mallorca« kaum Kontakt habe, schließ­­lich lebe er mit einer Kolumbianerin zusammen. Er sei zwar noch Mitglied bei den »Amigos en Mallorca«, einem Club der besser verdienenden deutschen Mittelschicht, die zusammen Bowlen gehen und dabei Geschäftskontakte pflegen, aber er gehe nicht mehr so oft zu deren Treffen. »Meine Stammkneipen sind Olli’s Treff und Donde Jutta. Da fühle ich mich wohl.« Weder in Olli’s Treff noch »Bei Jutta« darf man allerdings erwarten, weniger Deutsche als bei den Amigos anzutreffen.
Es ist also kein Klischee, es gibt eine deutsche Parallelgesellschaft auf Mallorca, die von der Mehrheitsgesellschaft derart abgeschottet ist, dass die Südwestküste von den Mallorquinern süf­fisant »Ghetto« genannt wird.
Petra bringt es auf den Punkt: »Aussteigerin? Nein. Aus was hätte ich denn aussteigen sollen?« Jemand, der sich in das Gespräch einmischt, wird noch deutlicher: »Wenn es von Wiesbaden nach Mallorca eine S-Bahn-Verbindung gäbe, würde ich in Wiesbaden wohnen.«
Wenn man schon nicht in Wiesbaden oder Köln wohnen kann, weil man dort keinen Job mehr bekommen hat oder die Sonne zu sehr vermisst, dann schafft man sich eben seine Wiesbadener oder Kölner Wohnzimmer auf Mallorca. Eines davon ist der 2004 gegründete Deutsch-Mallorquinische Karnevalsverein. Der Beisitzer Dieter Norpoth gibt offen zu, dass »dort, wo sich mehrere Deutsche treffen, die Gefahr einer Vereinsgründung nicht auszuschließen ist«. Und tatsächlich waren alle Mitglieder irgendwo in Deutschland in Vereinen organisiert. Norpoth selbst war lange Jahre Vereinsvorstand des Fußballclubs FC Unterföhring. Das Café Amarena, wo sich der Karnevalsclub trifft, liegt nicht im Südwesten, sondern in der Nähe der Bierstraße am Ballermann, also östlich von Palma, und ist ein deutsches Restaurant. Trotzdem wird auf der Speisekarte auch Gyros angeboten, schließlich ist man ja in Deutsch­land auch gern »zum Griechen« gegangen. Nach spanischen Tapas sucht man allerdings vergeblich. Man möchte ebenso essen, wie man es von zu Hause gewohnt ist und »zum Spanier« ist man nie gegangen.

Alle diese Leute sind zwischen 40 und 60 Jahre alt und im Besitz der »Tarjeta de Residencia« und damit als ständige Bewohner auf der Insel regis­triert. Sie gehören nicht zu denen, die in den neunziger Jahren nur mal eine Auszeit am Baller­mann nehmen wollten. Sie arbeiten mehr oder weniger in dem gleichen Job, mit dem sie in Deutschland ihren Kleinwagen, ihre Bockwurst und ihren Urlaub auf Mallorca finanziert haben und sie leben und arbeiten auch auf Mallorca, um Bockwurst, Kleinwagen und den Urlaub auf den Kanaren bezahlen zu können.
Sabine aus Mönchengladbach, gelernte Fotolaborantin, gehört auch zu denjenigen Arbeiterin­nen, die in den neunziger Jahren vom Geldverdienen auf Mallorca träumten. Doch sie scheiterte und ist der Meinung: »Unsere Schicht kann hier nicht überleben. Wenn du auf Malle eine Million machen willst, musst du mit zwei Millionen ankommen. Mallorca ist der Horror. Hier kommen nur Bekloppte hin.« Sie und ihr Ehemann packten damals alles zusammen, weil sie bei Hasso Schützendorf, Gründer einer Autovermietung auf Mallorca, Kopf eines Schmugglerrings, Playboy und erster »König von Mallorca«, eine Anstellung als Hausmeisterehepaar fanden.
»Hasso hat mein Leben ruiniert«, erzählt sie nun. Alles weitere solle man ihrem 2003 erschienenen Buch »Hasso – Mein Mallorcaabenteuer« entnehmen. Ihre Ehe sei gescheitert und sie sei im »Sumpfgebiet« gelandet, auf dem Ballermann. Mit ihrer Ausbildung als Fotolaborantin konnte sie nichts anfangen, deswegen malt sie jetzt Portraits von Frank Zander oder Rainhard Fendrich und versucht, diese an Touristen zu verkaufen. Davon kann sie aber keine Miete zahlen, ihr Hab und Gut ist seit zwei Jahren in Containern eingelagert und sie übernachtet auf den Sofas ihrer deutschen Freunde. Kommende Woche will sie definitiv zurück nach Deutschland. »Das erzählt sie ihren Freunden aber schon seit Jahren«, flüstert ihr Bekannter Manfred, bei dem sie gerade übernachtet. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Sabine das gleiche Syndrom entwickelt, das man bei vielen türkischen oder jugoslawischen Arbeitsmigranten, die in Deutschland geblieben sind, auch beobachten kann: das halbe Leben in Deutschland gearbeitet und immer mit der Lüge gelebt, irgendwann »nach Hause« zurückzukehren.

Für Leute wie Sabine gibt es allerdings eine Anlaufstelle. Meistens gehen Deutsche, die pleite oder krank sind, zunächst zum deutschen Konsulat, wenn sie nicht weiter wissen. Denn das Konsulat wird von den Deutsch-Mallorquinern für so etwas wie das Sozialamt gehalten. Doch der Konsul hilft den Gescheiterten nicht weiter. Die nächste Station ist dann der Deutsche So­zial- und Kulturverein in Calvià.
Der Pensionär José Rodriguez, der 34 Jahre lang in Hamburg ein Stahlunternehmen leitete, hat diesen Verein 1996 gegründet. Zweimal in der Woche sitzt er abends in einem schlichten kleinen Büro, in dem zwei Rollstühle für Kranke bereitstehen und vor dem etliche Deutsche darauf warten, von Rodriguez beraten zu werden. Für die Hungrigen unter ihnen gibt es am Tresen im Vereinslokal heiße Bockwurst mit deutschem Senf.
Mietschulden, Schwierigkeiten mit Behörden, Unfälle, Geldprobleme, Einsamkeit, nicht ausbezahlte Löhne, José Rodriguez kümmert sich um alles, denn er hat die besten Kontakte. Mit Lidl hat er sogar einen Vertrag abgeschlossen, Vereinsmitglieder können dort günstiger einkaufen. Auch Air Berlin spendet hin und wieder ein Sümmchen, um deutschen Bedürftigen zu helfen, erzählt Rodriguez.
»Wenn die Deutschen nach Mallorca ziehen, glauben viele, dass hier alles amigomäßig läuft«, ärgert sich Martina Wilke, die Schatzmeisterin des Vereins. Mit Fragen wie »Warum muss ich mein deutsches Auto ummelden?« oder »Wa­rum muss ich mich hier überhaupt anmelden?« kämen die Deutschen zum Verein, wenn sie mit den mallorquinischen Behörden in Konflikt geraten seien. Sie würden sich darüber wundern, dass es auf Mallorca überhaupt so etwas wie amt­liche Strukturen gebe, und darüber aufregen, dass die penible Bürokratie nicht sonderlich »gast­freundlich« sei.
Auf die mangelnde Gastfreundlichkeit der Mallorquiner kommen die meisten deutschen Einwanderer aus dem »Ghetto« irgendwann zu spre­chen. Da wird die Einführung des Katalanischen als einzige Amtssprache genauso als Affront gegen die deutschen Einwanderer gewertet wie die schlecht gelaunten Kellnerinnen, die partout keine getrennten Rechnungen für einen Tisch ausstellen wollen.
Ja, so ist sie, jene Spezies, von der das Sprichwort sagt, dass man sich vor ihnen im Ausland hüten muss, und die die Dinge gerne nach dem Motto regelt: »Es muss alles seine Ordnung haben.« Und zur Ordnung gehört eben auch, dass der Ausländer gastfreundlich ist und auch mal ein Auge zudrückt. »Schließlich waren es die Deutschen, die den Mallorquinern durch ihr Geld erst die Zivilisation ermöglicht haben«, meint abschließend Faruk, Sohn eines kosovarischen Gast­arbeiters aus Köln, der seit ein paar Jahren im »Deutschen Eck« am Ballermann arbeitet.

Geändert: 21. November 2008