Die Poplinke

Einfach durchwinken

Was war nochmal die Poplinke? Bringt’s Pop heute überhaupt noch?

Zu Beginn eine Art Plattenkritik. Es hätte auch eine andere Platte treffen können, zum Beispiel die aktuelle der Band Bloc Party. Doch gerade der keine Peinlichkeit aussparende Stilmix der aktuellen Ratatat-CD, lakonisch mit »LP 3« betitelt, ist symptomatisch für die seit Jahren im Pop grassierende Beliebig­keit, die sich in allen Bereichen ausdrückt, musikalisch ebenso wie in der Rezeption und Be­richterstattung über Pop. Veröffentlichungen wie diese sind Folge einer Entwicklung, die hat einsetzen müssen, seit sämtliche Fronten im Pop verloren gegangen sind.
Es gibt längst keinen größeren Gemeinplatz mehr, als einem Musiker Eklektizismus oder ein »gewagtes stilistisches Gemisch« zu beschei­nigen. Seit 90 Prozent aller Popmusiker sich geradezu über einen solchen Stilmix definieren und nichts so sehr wie Kategorisierungen scheuen, ist an der ganzen Sache gar nichts mehr gewagt. Auch der Stilmix von Ratatat hört sich keineswegs mutig oder außergewöhnlich an, sondern höchstens: bodenlos. Die Gruppe, deren Logo an eine Melodic-Metal-Band erinnert, hat bereits sowohl mit 50 Cent als auch mit Animal Collective zusammengearbeitet. Anything goes – auch in der Wahl der Freunde. Das weiße E-Piano auf dem Cover lässt gruselige Assoziationen an Richard Clayderman aufkommen, der Auftakter »Shiller« verwebt den Keyboard-Pomp von Jean Michel Jarre mit dem als auratisch gerühmten Pink-Floyd-Sound von »Shine On You Crazy Diamond«. Und so geht es geradewegs weiter, bunt und munter durch die Welten von Easy Listening, Rick Wakeman, Gipsy-Folklore, Sunshine-Reggae, Glamrock und Bombast-Techno. Lange gepflegte und mühsam erkämpfte Wer­tigkeiten werden schlichtweg ausgehebelt. Alle nur denkbaren Tiefpunkte aus mehr als 30 Jahren Popgeschichte sind hier auf eine Art und Weise neu zusammengetragen worden, die nicht mehr ironisch blinzelt oder »Camp« als Fluchtweg offen lässt, sondern allen Ernstes auf so etwas wie Erhabenheit und ästhetische Stimmig­keit setzt. Ähnlich wie ihren Kollegen Air gelingt es Ratatat, selbst noch die scheußlichsten Seitenarme des Pop – man denke zum Beispiel an Saga oder Eloy – so elegant zu verarbeiten, dass das Ganze als zeitgemäß und letztlich sogar hip empfunden werden kann. So hört sich Pop einer Ära an, die keine Abgrenzungen mehr kennt.
Zur Blütezeit von Punk – die, zugegeben, schon lange her ist – gab es solch klare Abgrenzungen und musikalische Tabus, zum Beispiel das nerv­tötende Georgel von Rick Wakeman. Die Verwerfungen und Setzungen, welche vorschrie­ben, was nicht mehr gehört werden konnte und durfte, hatten nicht alleine mit Distinktionsgewinn oder neuen Coolness-Codes zu tun, son­dern waren auch soziopolitisch ausgerichtet. Das ästhetisch als verbraucht Empfundene wurde auch als politisch verbraucht, wenn nicht sogar als reaktionär entlarvt. Diese oft intolerante, elitäre, aber aus heutiger Sicht sehr heilsame Haltung hat eine Generation von Musikkritikern hervorgebracht, die später mit dem Schlagwort der »Poplinken« versehen wurden, im deutsch­sprachigen Raum unter anderem Diedrich Diederichsen und Jutta Koether, in Großbritannien Autoren wie Simon Reynolds und Jon Savage. Dank der Arroganz und Tabula-Rasa-Haltung von Punk und New Wave entwickelten sie ein Instrumentarium ständiger Selbsthinter­fragung, das den Pop-Diskurs ganze zwei Jahrzehnte bestimmen sollte. Zu ihren wichtigsten Grundsätzen zählte neben dem Selbstverständnis, alles Äs­thetische auch politisch wahrzuneh­men, unter anderem die radikale Infragestellung von Authen­tizität und »Ehrlichkeit«, sowie ein eher an der zeitgenössischen Kunst orientierter Blick auf Pop, dem konzeptuelle Fragen stets wichtiger als musikalisches Können waren. Sie hatten ein avant­gardistisches, progressives Pop-Verständnis und bekämpften daher sämtliche regressiven Tendenzen, seien es politisch dubiose Äußerun­gen von Musikern, sei es der Rückfall in musikalische Überwältigungs-Ästhetik, wie ihn Ratatat heute wieder unverfroren an den Tag legen.
Doch diese Kritiker-Generation gibt es nicht mehr. Sie ist nicht weggestorben, sondern schlicht­weg vom Kultur- und Universitätsbetrieb absorbiert worden: Nahezu alle Autorinnen und Autoren, die dafür gesorgt haben, dass Spex bis Mitte der Neunziger das meinungsbildende deutschsprachige Musikmagazin schlechthin sein sollte, arbeiten inzwischen an Universitäten, als Kuratoren, am Theater oder im Feuilleton der bürgerlichen Presse. Und dies nicht nur wegen der besseren Bezahlung, sondern weil ihnen der kritische Popdiskurs im Laufe des vergangenen Jahrzehnts mehr und mehr verun­möglicht wurde. Spätestens als der Schauspieler und Musiker Vincent Gallo 2001 in Spex seine Hasstiraden gegen Homosexuelle absondern durfte und dafür auch noch eine Titelstory bekam, war klar, dass alte Selbstverständlichkeiten im Popjournalismus nicht mehr greifen. »Und wie landet ein bekennender Rechter auf dem Cover der Spex?« fragte seinerzeit die taz und lieferte die Antwort gleich mit: »Der Haupt­grund für diesen humorlosen Mann auf dem Titelbild ist: Gallo erpresst die Presse. Schon immer ist seine Bedingung: kein Cover – kein In­terview. Hierzulande hat das Magazin Intro abgelehnt. Spex nahm an.«
Dies ist bereits sieben Jahre her, der Wind in den Musikredaktionen ist seither noch rauer geworden. Ökonomische Sachzwänge sorgen da­für, dass die stets gleichen, lukrative Anzeigen versprechenden Bands die Musikmagazine bestimmen, ganz gleich, wie austauschbar ihr Blasser-Jungs-Gitarrenrock auch sein mag. Das von der taz seinerzeit für seine Unabhängigkeit gelobte Magazin Intro, das als kostenloses Musikblatt inzwischen zu den Marktführern zählt, bildet da keine Ausnahme mehr. Als Umsonst-Magazin ist es in den letzten Jahren besonders hart vom ökonomischen Engpass der Musikindustrie getroffen worden. Konnte Felix Klopotek in der Intro 2003 noch einen kritischen Artikel über Nationalisierungstendenzen im deutschen Pop unterbringen, der unter anderem gegen die Berliner Band Mia gerichtet war, die seinerzeit mit der Nationalflagge posierte, so hat sich das Blatt inzwischen völlig gewendet. Anlässlich ihrer CD »Zirkus« wurden 2006 nicht Mia, sondern deren linke Kritiker von Intro ange­griffen. »Wer Mia für Nationalisten hält, ist selbst schuld und kann einem leid tun«, heißt es dort, die »Popintellektuellen« seien lediglich neidisch auf eine Band, die dermaßen »bunt« und »strähnig« daherkommt. Diese aggressive Verteidigung von Mia machte jedoch nur deutlich, wie knapp es inzwischen um die Verteilung des Kuchens bestellt ist: Wenige Seiten weiter fand sich eine Anzeige für »Zirkus«.
Es sind unterschiedliche Faktoren, die eine Be­liebigkeit bedingen, dank der das »anything goes« in jeglicher, nämlich ästhetischer wie welt­anschaulicher Hinsicht, Einzug in den Popjournalismus und schließlich wohl auch in die Köpfe der Hörer gefunden hat. »Über Avantgarde kann man jedenfalls nicht mehr in Pop-Zeitschriften schreiben«, merkte Diedrich Diederichsen frustriert in seinem Buch »Musikzimmer« an. Jegliche Musik ohne Lobby ist aus den Maga­zinen in die endlosen Weiten von Myspace verbannt worden. Avantgarde-Bewusstsein kann sich jedoch nur ausbilden, wo Abgrenzungen und klare Positionierungen vorgenommen wer­den. Die totale Substanzlosigkeit, die den gegenwärtigen Pop von Maximo Park bis Arctic Monkeys auszeichnet, ist womöglich schon das musikalische Resultat des vergangenen, kritiklosen Kritiker-Jahrzehnts. Max Müller, dessen aktuelle CD noch ganz in einer alten poplinken Tradition steht, brachte es im Interview auf den Punkt: »Gibt es überhaupt noch schlechte Kritiken? Ich habe schon lange keine mehr gelesen. Alles ist genial. Sind nicht die Kritiker selbst schuld an der Langeweile in der Musik, weil sie die Scheiße nie Scheiße nennen? Über Grönemeyer haben sich immer alle lustig gemacht. Heute sagt die Kritik, dass er ein großer Poet mit großer Aussage sei, dabei ist es immer noch derselbe Mist … na ja, eigentlich noch schlimmer.«
Insofern vermögen auch Ratatat mit all ihren Verweisen auf die schrecklichsten Ausläufer des Pop gar nicht mehr zu spalten oder Diskussionen auszulösen, da das kritische Bewusstsein darüber, dass es auch schrecklichen Pop gibt, abhanden gekommen ist. Während sich alle an die Hände fassen und hoffen, etwas von den letzten dünnen Ausläufern des Geldsegens im Musikgeschäft abzubekommen, bleibt eigentlich nur, an einen Satz des Altpunk-Autoren Klaus N. Frick zu erinnern: »Ich will meine kleine, intolerante Szene zurück.« Damit sei an dieser Stelle nicht die von Frick anvisierte Deutschpunk- und Hardcore-Szene gemeint, sondern jenes poplinke Milieu, dem noch an einem Zusammen­spiel von gutem Geschmack und politischem Bewusstsein gelegen war. Beides ist der Popkritik inzwischen abhanden gekommen, ganz so, als ob es miteinander zusammenhinge.