Revival der Anti-Atom-Bewegung

Go go Gorleben!

Das Revival der Atomenergie ist längst verkündet. Kommt mit dem diesjährigen Castor-Transport auch das Revival der Anti-Atom-Bewegung?

Er rollt wieder, der Castor. Oder, um genauer zu sein, sein französisches Pendant »TN 85«. Weil dem deutschen Atomcontainer »Castor HAW 28M« zurzeit die Zulassung fehlt, muss das Modell aus dem Nachbarland seine Sicherheit beweisen. Aber das Wort »Castor« steht ohnehin für viel mehr als für einen Spezialbehälter. Castor, das be­deutet auch 30 Jahre hartnäckige Anti-Atom-Proteste, widerspenstige Bauern, zweckentfremdete Heuballen, an Schienen gekettete Aktivisten, Farbeier, Hakenkrallen und langhaarige Ökostrom-Fetischisten.

Zwischen dem 7. und dem 10. November sollen elf Behälter mit verstrahltem Material aus der französischen Wiederaufbereitungsanlage La Hague ins niedersächsische Zwischenlager in Gorleben transportiert werden. Die Gegner des Transports dürften bereits auf dem Weg ins Wendland sein, wie jedes Jahr. Und doch ist die Situation in diesem Jahr eine andere. Denn Unternehmen, Wirtschaftsverbände und zahlreiche Politiker machen wieder fleißig Werbung für die deutsche Atomkraft.
Da sind die Energiekonzerne, die sich die Einnahmen aus den abgeschriebenen Meilern nicht entgehen lassen wollen und die Atomenergie als »klimafreundlich« hinstellen. Da warnen Politiker vor steigenden Strompreisen, falls die AKW wie geplant bis 2021 vom Netz gehen sollten. Bun­des­wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) sagte: »Längere Laufzeiten für bestehende Kernkraft­werke bedeuten langfristig eine preisgünstigere, sichere und klimaschonendere Stromerzeugung.« Die Deutsche Energieagentur warnte sogar vor einer »Stromlücke«, wenn die AKW wie vorgesehen abgeschaltet würden.
All diese Äußerungen zielen mehr oder weniger unverhohlen darauf, den »Atomausstieg« nach der Bundestagswahl im kommenden Jahr rückgängig zu machen. Konzerne wie RWE und EnBW versuchen offensichtlich, schon Fakten schaffen, indem sie das Abschalten ihrer AKW Biblis A und Neckarwestheim 1 durch Wartungsarbeiten über das Jahr 2009 hinauszögern. Wenn dann eine der Atomkraft freundlich gesinnte Regierung antreten sollte, müssten sie sich kaum mehr Sorgen um den Bestand ihrer Anlagen machen.
Umso spannender ist die Frage, ob die Anti-Atom-Bewegung an alte Zeiten anknüpfen kann. Gingen Ende der neunziger Jahre noch rund 25 000 Menschen gegen den Castor auf die Straße, waren es zuletzt nur noch etwa 5 000. Das taktisch-dreiste Verhalten der Atomlobby lässt je­doch einige Aktivisten hoffen, dass sich wieder mehr Menschen ihren Protesten anschließen wer­den: »Seit dem Jahr 2000 dachten viele: Jetzt kommt der Ausstieg ja, warum soll ich also auf die Straße gehen? Doch im nächsten Jahr könnte alles politisch gekippt werden. Deshalb sind immer mehr Menschen bereit, gegen die atomfreundliche Politik zu protestieren«, sagt Jochen Stay von »X-tausendmal quer«.

Was den Aktivisten im Wendland Sorgen bereiten sollte: Die Bevölkerung scheint unentschlossen zu sein, wie sie zur Atomkraft steht, darauf weisen zumindest mehrere Umfragen der letzten Zeit hin. Es gibt zwar Informationskampagnen, die Aktion »Atomausstieg selber machen« und viele gute Argumente gegen die Atomenergie. Eine große, entschlossene Opposition lässt jedoch noch auf sich warten.
Argumentativ sehen sich die Atomkraftgegner durch zahlreiche Vorfälle in den vergangenen Monaten gut munitioniert. Der Skandal um Asse 2, ein Kurzschluss in Brunsbüttel, Brände in Krüm­mel und Brokdorf, Uran in französischen Flüssen, kontaminierte Arbeiter in Frankreich und der Schweiz sind beeindruckende Beispiele dafür, dass die Atomtechnologie trotz gegenteiliger Behauptungen keineswegs beherrscht wird.
Im Testendlager Asse 2, das als Modellprojekt für das mögliche Endlager in Gorleben gilt, wurden in den sechziger und siebziger Jahren schwach- und mittelradioaktive Abfälle eingelagert. Inzwischen sickert unkontrolliert Salzlösung in die Lagerstätten, und die Hohlräume drohen einzustürzen. Katastrophaler kann ein Test nicht ausfallen. Die Gegner eines Endlagers in Gorleben sehen sich bestätigt. Atombefürworter aus Unternehmen und Politik setzen sich für die weitere Erforschung des Salzstocks ein, um doch noch eine langfristige Lagerung von radioaktiven Abfällen zu erreichen. Vorläufig werden die anrollenden Castoren in einem Zwischenlager untergebracht.

Die Atomkraftgegner hoffen auf eine große Beteiligung an ihren Protesten – nicht nur im Wend­land. »Es wird neuen Schub für die Anti-Castor-Bewegung geben«, sagt Heinz Smital, Atom­experte bei Greenpeace. Wo der herkommen soll, kann allerdings noch keiner der Aktiven so recht beantworten. Vielleicht von den Verbrauchern, die zu den Ökostromanbietern überlaufen? Im Wendland versuchen derzeit verschiedene Gruppen, auch die bürgerliche Schicht mit den Argumenten gegen die Atomwirtschaft zu überzeugen.
Eine Prognose über die Zahl der Teilnehmer an den Anti-Atom-Protesten will keiner der Aktiven abgeben. Zu groß scheint die Unsicherheit, inwieweit sich Menschen außerhalb der üblichen Anti-Castor-Bewegung von den Aufrufen angesprochen fühlen könnten. Was sind die Rezepte, um die vielleicht Atomkraft-kritischen, aber ansonsten unbeteiligten Menschen auf der Straße zu erreichen? »Gute Frage«, sagt Udo Buchholz vom Bundesverband der Bürgerinitiativen Umwelt­schutz. »Es ist nicht einfach, solche Menschen mit unseren Inhalten anzusprechen«, gesteht auch Martin Nesemann von der Zeitschrift Anti-Atom Aktuell ein.
Zumindest haben sich viele linke Gruppen seit den Protesten gegen das G8-Treffen in Heiligendamm stärker als zuvor mit dem Thema Energie beschäftigt. So sind einige neue Initiativen entstanden, und es kommen wieder mehr junge Leute zu den Vorbereitungsabenden für Gorleben. Doch der große Generationswechsel im Wendland könnte trotzdem ausbleiben. Die Websites der meisten Aktionsgruppen wirken ein wenig altbacken, ebenso wie viele Aufrufe und Videos. Die Bewegung wird immer noch überwiegend von alten Haudegen getragen. »Viele jüngere Menschen sind in einer Welt mit AKWs groß geworden. Die haben sich leider schon daran gewöhnt«, sagt Udo Buchholz.

Unterstützung für die Proteste kommt derzeit eher von ungeliebter Seite. Die Grünen rufen ihre Anhänger ins Wendland, und auch die Linkspartei. Zu den Erstunterzeichnern der Aktion »Grün stellt sich quer« gehören die grüne Parteivorsitzende Claudia Roth und die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Bärbel Höhn sowie diverse Landesvorsitzende der Partei. Sie wollen sich auch an den Blockaden in Gorleben beteiligen. Ei­nige Anti-Atom-Bewegte loben das Engagement, weil die Aktionen im Wendland so an Popularität gewinnen. Doch vor allem Claudia Roth wird auch mit skeptischer Beobachtung rechnen müssen. Vor einigen Jahren stellte sie sich für kurze Zeit öffentlichkeitswirksam zu den Aktivisten. »Wenn das wieder so läuft, dann gibt’s Knatsch«, warnt Jochen Stay. Martin Nesemann findet es sogar »eine Frechheit, dass sich die Grünen den Protest gegen Gorleben auf die Fahnen schreiben und verschleiern, dass sie durch ihre Regierungsmitarbeit bis zum Jahr 2005 am Status quo mitverantwortlich sind«.
Auch für Parteipolitiker scheint Gorleben der Ort zu sein, wo man den mehr oder weniger ernstzunehmenden Widerstand gegen die Atomwirtschaft ausdrückt. Daher dürfte es viele altbekannte Bilder geben von dort: Sitzblockaden, Traktoren, Farbeier und Heuballen. Aber: »Danach muss es weiter gehen«, sagt Jochen Stay. Wie genau, das wird wohl erst nach Gorleben beantwortet – erstmal ruft der Castor.