Debatte über die Poplinke, zweiter Teil

Die rote Partyfraktion

Das war die Poplinke: zweiter Teil der Debatte.

Will man erklären, wie es in den neunziger Jahren im vereinigten Deutschland zur Formierung einer so genannten Pop- oder Kulturlinken kommen konnte, weshalb auf einmal statt radikaler Gesellschaftskritik die Sorge um den eigenen Lifestyle im Vordergrund stand und inwiefern eine kommunistische Utopie durch einen affirmativen Hedonismus der privaten Nische ersetzt wurde, dann müsste man sich eigentlich über das generelle und ohnehin problematische Verhältnis von Kulturkritik und Gesellschaftstheorie verständigen. Man müsste auch auf den im angelsächsischen Raum etablierten Cultural Marxism verweisen, der seit den fünfziger Jahren die Formierung der britischen Cultural Studies beeinflusste, die wiederum auch in der deutschen Poplinken ihre Spuren hinterlassen haben. Offensiv wurde hier versucht, »Kultur« politisch neu zu bewerten und zu definieren, indem »das Kulturelle« selbst offener bestimmt wurde im Sinne einer Populärkultur, einer ordinary culture, einer Kultur als Lebensweise. Mit Aufmerksamkeit für das, was dann als »Alltagsleben« gefasst wurde, gehen in diesen Debatten seither zwei theorie-strategische Konzepte einher, nämlich die »Kulturalisierung« und die »Politisierung«.
In den neunziger Jahren tauchen diese »Strategien« verstärkt auf, etwa in den popdiskursiven Schlagworten von Subversion und Dissidenz. Gleichwohl hatte sich nunmehr in der BRD der Neunziger der Fokus verschoben: Was in der britischen Gesellschaft der Fünfziger noch im Kontext von Klassenkampf und Postkolonialismus diskutiert wurde, spiegelte sich nun in der Bundesrepublik in den Debatten um die Poplinke wieder, jetzt allerdings konzen­triert auf den Komplex von nationaler, persönlicher und politischer »Identität«, mit einem Wort: konzentriert auf die Frage nach dem korrekten Lebensstil.
In solchen Selbststilisierungsdiskursen unterschied sich die Poplinke allerdings markant von den ehedem in der britischen Nachkriegsgesellschaft verhandelten Problemen der »Kulturalisierung« und »Politisierung«. So bedeutete etwa die seit den Fünfzigern in den britischen Metropolen selbstbewusst agierende, an der US-amerikanischen Massenkultur oder an »postkolonialen Subkulturen« orientierte Jugend für die nach einem klaren Kulturschema funktionierende Arbeiterbewegung und ihre Repräsentanten durchaus ein real-politisches Problem, auch wenn es zunächst nur symbolisch schien. Fragen waren: Was macht man denn mit Mods? Welchen Ort haben Punks oder Rocker in Arbeitskämpfen? Für welche sozialen Utopien streiten die jungen Frauen mit den Petticoats?
Fatale Folgen hatte das in den Siebzigern dann in Hinblick auf die Unfähigkeit, Skinheads in politische Kämpfe einzubinden – sie wurden ignoriert und konnten so von der National Front auf jenen patriarchalen Autoritarismus getrimmt werden, der ihnen strukturell ohnehin schon zu­eigen war. Genau daran und dagegen versuchte dann eine Neue Linke im Sinne eines Cultural Marxism den Begriff des Politischen selbst in Hinblick auf Alltags-, Sub-, und Jugendkultur neu zu bestimmen (»Politisierung«) beziehungsweise umgekehrt den Begriff der »Kultur« so umzuwerten, dass »Kultur« eben nicht mehr bloß als schematisch-kausales Anhängsel der ökonomischen Verhältnisse fungiert, sondern umgekehrt als eigentliches Zentrum lebensweltlicher Praxis erkennbar wird (»Kulturalisierung«). Insofern scheinen »Kulturalisierung« und »Politisierung« auf dasselbe hinauszulaufen: »Kulturalisierung« heißt »Kultur als politische Praxis« zu begreifen, und »Politisierung« wiederum verweist auf die Ausweitung des Politischen jenseits eines bestimmten Verhältnisses zwischen Individuen, Gesellschaft und Staat als »kulturelle Praxis«.
Kontrastieren lässt sich dies nun zur Entwicklung einer Poplinken in der Bundesrepublik, die sich eben nicht nur ungleichzeitig verzögert vollzog, sondern auch gänzlich anderen Ausgangsbedingungen unterlag. Die bundesrepublikanische Gesellschaft (und in diesem Punkt ebenso auch die DDR) ging als gefestigte Volksgemeinschaft aus dem NS hervor. Nicht Klassenkampf stand auf der Tagesordnung, sondern die kollektive Restauration einer nationalen Einheit; diese formierte sich in der deutschen Nachkriegskultur durchaus ambivalent als einerseits traditionalistisch-romantische Sinnsuche nach Heimat, Eigentlichkeit und Innerlichkeit, andererseits als eine sich im Sozialstaat und Kon­sum manifestierende Fortschrittsorientierung, als wenigstens massenkulturelle Verbesserung der Lebensverhältnisse (Fernsehen, Individualverkehr, Massentourismus, Mode). Die sich in diesem Zuge formierenden Jugendkulturen waren insofern weniger irritierend für eine Klassen-Politik der Arbeiterbewegung – denn diese war in der BRD wie in der DDR institutionell abgeschafft und sozial ruhig gestellt –, sondern bedeuteten vor allem eine Provokation für das neue »Modell Deutschland«. Gleichwohl artikulierte sich dieser kulturelle Protest auch als politischer, und zwar weniger indem kulturelle Themen zu politischen erklärt wurden, sondern indem zu den (diffusen) kulturellen Auseinandersetzungen (lange Haare, Minirock, Rockmusik) relativ plötzlich politische Konflikte hinzutraten (Schüler- und Lehrlingsbewegung, schließ­lich die Neuen Sozialen Bewegungen, Ökologie- und Friedensbewegung etc.). Derart etablierte sich in der BRD eine radikale Linke als eine Jugendbewegung. Inhaltlich und insbesondere auch formal wurde die radikale Linke zudem von solchen Jugendkulturen definiert, die mit Erwachsenenkulturen (etwa auch den Resten einer linken Arbeiterkultur) nicht kompatibel waren und auch nicht kompatibel sein wollten. Konkret hieß das: Die radikale Linke fand in den achtziger Jahren ihren hauptsächlichen kulturellen Ausdruck im Punk und dem Punk ähnlichen Bewegungen.
Was dabei »Politik« und »Kultur« bedeuteten, war kaum reflektiert, sondern beschränkte sich auf ein Sammelsurium von Phrasen und Parolen, die zusammengezogen wurden zu einem diffusen Selbstverständnis, Teil einer Subkultur zu sein. Soziale Identifikation erfolgte gemeinhin nach dem Kurzschluss, dass »das Politische« immer schon »links« sei, dass »Links-Sein« immer schon »Widerstand« und »Nonkonformismus« bedeute, dass schließlich »Subkulturen« immer »politisch« und damit »links« wären. Diesem Selbstverständnis nach – und das ist für die Genese der Poplinken wichtig – war Subkultur keineswegs mit Pop identisch; in der Bundesrepublik setzte sich in den achtziger Jahren im Punk die eigentlich schon überholte Dichotomie von Rock versus Pop fort – das heißt: Punk war hier eine Haltung gegen Pop und nicht, wie in England oder den USA, eine Bewegung der sich Ende der siebziger Jahre explosionsartig vermehrenden Jugendkulturen innerhalb des Pop. Anders gesagt: Die in London oder New York ganz selbstverständliche Affinität zwischen Punk und Disco fehlte hierzulande.
Auch die politisch-ästhetische Dimension von New Wave wurde ignoriert, stattdessen wurde sie zur Musik der einzigen originär deutschen Jugendpopkultur, nämlich der Popper, jener konservativ-restaurativen Modebewegung Anfang der Achtziger, die erwachsener als ihre (reichen) Eltern sein wollte und dafür Anstand, Etikette und Leistung als Lifestyle propagierte.
Und in diesem Milieu, in den Randzonen einer gymnasialen, kleidstädtischen Jugend-Boheme, formierte sich Ende der Achtziger die Poplinke. Das heißt, die Poplinke ist nun um 1990 nicht aus einer kulturellen Umorientierung der politischen Jugendbewegungen wie eben Punk hervorgegangen, sondern resultierte zunächst aus einem rein kulturellen Interesse am Pop, wodurch sich jedoch sukzessive eine Politisierung einstellte. Freilich war dafür entscheidend, dass sich gleichzeitig die allgemeine politische Situation vollständig durch die Vereinigung der beiden deutschen Staaten verändert hatte. Die traditionellen Modelle einer linken Gegenkultur, wie sie auch noch im Punk fortgesetzt wurden, vermochten weder angemessen auf den Nationalismus noch auf die neo­faschistischen Pogrome zu reagieren (man kann das etwa an dem von den K-Gruppen bis zum Deutschpunk schein­bar selbstverständlichen Bezug auf »das Volk« sehen). Drastisch war auf einmal klar: »The kids are not alright«, wie es Diedrich Diederichsen diagnostizierte; Punk oder Hardcore sind keineswegs automatisch irgendwie »links«, sondern können von Nazis genauso benutzt und bedient werden. Man kann den herrschenden Gewaltverhältnissen eben nicht einfach ihre eigene Melodie vorsingen, sondern braucht eine andere, dissidente und subversive Musik. Eine Zeit lang war das Hip Hop. »Kill the nation with a groove«, hieß es.
Doch wurden derart »Politik« und »Kultur« merkwürdig verkeilt. Die Neonazis erschienen der Poplinken als primär kulturelles Problem; und selbst die teilweise zur theoretischen Kritik herangezogenen Begriffe kamen über den Manierismus poststrukturalistischer Schlagworte nicht hinaus. Die Poplinke konstituierte sich also nicht aus einer politischen Bewegung, die ihre kulturelle Praxis problematisierte, sondern aus einem kulturellen Interesse, das in der kulturellen Praxis selbst sich auf einmal mit linken Positionen berührte. Während die jetzt so genannte politische Linke ihre Forderungen noch am klassisch-traditionellen Politikverständnis orientierte, konstruierte die Poplinke eine neue politische Wirklichkeit, die wesentlich von den kulturellen Verhältnissen abhängig war. Was dabei »Politik« hieß, wurde aus dem Pop selbst gewonnen. In dem Maße galt eben »die Kultur« auch nicht mehr als Ausdruck einer politischen Haltung (man ist gegen die Gesellschaft, also hört man Punk), sondern »die Politik« wurde nunmehr zum Ausdruck einer kulturellen Haltung. Für die Poplinke hieß das: »Das Private ist das Politische.«
War die klassische politische Linke durchaus vom Antiintellektualismus geprägt, so kokettierte die Poplinke mit Wissen, Bildung und Selbstreflexion. Keineswegs ging es dabei um eine gesellschaftskritische Systematik, sondern letztendlich um die Selbstlegitimation der Poplinken in einem sich beständig reproduzierenden Jargon einer Pop-Eigentlichkeit: Das begriffliche Werkzeug war nicht Analyse und Kritik, sondern Diskurs. Die assoziative Verkettung von Schlagworten und Modevokabeln bis hin zum manierierten Nonsens bestätigte die insgesamt recht eng gezogenen Grenzen der Poplinken. Die Poplinke blieb eine Kultur der Exklusion und der Identifikation – obwohl sie vehement für sich reklamierte, eben die Kultur des Ausschlusses und die Identitätspolitik überwunden zu haben.
Noch einmal: Der Cultural Marxism und die Cultural Studies versuchten, den bürgerlichen Begriff von Kultur dadurch zu sprengen, dass die eigene kulturelle Praxis erweitert wurde. Dafür spielten Elemente einer Arbeiterkultur eine tragende Rolle, nicht zuletzt, weil die Vertreter der Cultural Studies selber aus der Arbeiterklasse kamen. Diese Idee einer Politisierung/Kulturalisierung durch Biografisierung verlor jedoch in der Poplinken – die sich ja u. a. auf die Cultural Studies und ihre Derivate bezogen – jede Brisanz: Das Private, das hier zum Politischen erklärt wurde, war bestenfalls das Private von bürgerlichen Subjekten. Ihnen ging es um eine kulturelle Hegemonie, nach der die bürgerliche Ordnung nicht durchbrochen, sondern vielmehr wiederhergestellt wurde. Die besseren Partys der Poplinken waren in der Tat die besseren Partys, keine Frage: Zumindest partiell gelang es etwa bei Tanzveranstaltungen, die aggressivsten Formen von Sexismus und Rassismus rauszuhalten, um so bisher diskriminierten Subjekten einen angenehmen Abend zu bescheren. Doch ist die Forderung, dass Menschen nicht bei an sich unterhaltsamen Freizeitveranstaltungen belästigt oder gar vergewaltigt werden, ja keine kommunistische, sondern eine, die zum Kanon zivilisatorischer Selbstverständlichkeit gehört (auch wenn diese Zivilisation es anders praktiziert). Allerdings hat die Poplinke Erfolge auf diesen Gebieten als Verdienst ihrer linken, gar linksradikalen Politik deklariert.
Überdies: Die besseren Partys der Poplinken waren genauso bessere Partys, wie sich allgemein in den neunziger Jahren das popkulturelle Unterhaltungsprogramm verbesserte. Insofern ist die Poplinke gescheitert, gerade weil ihre Idee von Pop gelungen ist und sich realisierte als allgemeine, aber unverbindliche kulturelle Matrix.
Die Poplinke hat genauso viel gebracht wie zum Beispiel das Hollywood-Kino in den neunziger Jahren: eine Verbesserung der Unterhaltungskultur, um das falsche Leben etwas erträglicher zu machen. Insofern lohnt auch eine Beschäftigung mit der Poplinken nicht wirklich, weil sie kaum über eine kulturkritische Redundanz hinausreicht. Wichtiger ist die Frage, was die Poplinke für den Kommunismus gebracht hat; die politische Antwort fällt einfach und schnell aus: gar nichts. Doch kulturell ist die Pop­linke auch für den Kommunismus so lange interessant, wie das Verhältnis von »Kultur« und »Politik« unaufgeklärt bleibt; die Kritik der Poplinken ist insofern historisch anzusetzen und an der Frage auszurichten, wieso die Poplinke, die doch so laut und deutlich Subversion und Dissidenz rief, letztlich sang- und klanglos dahin verschwunden ist, wo sie eigentlich immer schon hinwollte: in den Konformismus deutscher Normalität.