Der ungarische Nationalfeiertag gehört den Faschisten

Ein Fest für Glatzen

Der ungarische Nationalfeiertag, der an den Aufstand im Herbst 1956 erinnert, gehört mittlerweile den Faschisten.

Budapest, 23. Oktober 1956. Es kommt zu stu­den­tischen Kundgebungen und Aktionen, denen sich Soldaten anschließen. Eine größere Men­schen­menge läuft zusammen und protestiert gegen den ersten Parteisekretär Ernö Gerö und den Sekretär des Zentralkomitees der ungarischen KP, János Kadar, die seit Juli Ministerpräsident Mátyas Rakosi ersetzen. Diesen haben die sowjetischen Behörden aufgrund der bereits seit geraumer Zeit rumorenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung nach Moskau geholt.
In der Nacht zum 24. Oktober ruft die ungarische Regierung den Ausnahmezustand aus und bildet einen Militärrat. Der bisherige Stellvertreter Imgre Nagy wird Ministerpräsident.
Bereits am nächsten Tag erreichen die ersten sowjetischen Panzer die ungarische Hauptstadt, dennoch verkündet Nagy am 30. Oktober das Ende des Einparteiensystems und stellt sich vor eine Bewegung, die der ungarische Schriftsteller und Kommunist Julius Hay in seiner Autobiographie als einen der beiden Versuche bezeichnet, einen wirklich sozialistischen Staat zu schaffen auf der Grundlage marxistischer Ideen.
Die Kämpfe dauern bis zum 11. November 1956. Dann ist der ungarische Aufstand durch sowjetische Truppen niedergeschlagen. Mindestens 2 700 Tote, Menschen, die auf den Straßen ums Leben kamen, sind zu beklagen. Bis Ende Dezember flie­hen rund 200 000 Menschen aus Ungarn und tun gut daran, denn zwischen 1957 und 1960 befinden sich 13 000 Menschen in ungarischen Internierungslagern. 350 bis 400 Todesurteile wer­den vollstreckt, Imre Nagy wird am 16. Juni 1958 hingerichtet. Julius Hay und der bekannte Schrift­steller Tibor Dery werden zu jeweils sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Der Philosoph und Litera­turwissenschaftler Georg Lukács, den Nagy zum Kulturminister ernannt hat, kommt – offenbar wegen seiner internationalen Bekanntheit – mit Hausarrest davon. Der ungarische Aufstand im Herbst 1956 hatte jedoch nicht nur nachvollziehbare und fortschrittliche Züge, sondern auch eine hässliche Seite, die sich in barbarischen Übergriffen auf Sowjetbürger und in antisemitischen Ausfällen äußerte.
Genau an diese hässlichen Seiten der Geschich­te wird am 23. Oktober dieses Jahres, dem ungarischen Nationalfeiertag, angeknüpft.

Auf dem Heldenplatz in Budapest sind Erinnerungsstücke an den Herbst 1956 ausgestellt, aber sie rufen nur wenig Interesse hervor. Es nieselt. Aus den Lautsprechern schallen Schlager aus den fünfziger Jahren, Kinder krabbeln auf sowjetischen Panzern herum. In Zelten laufen Filme mit historischen Aufnahmen.
Am Nachmittag fährt ein ungeheures Polizeiaufgebot auf und riegelt die auf den Heldenplatz mündende Andrassystraße ab. Hier kommt man nicht weiter.
»Excuse me, what is going on here?«
»I am sorry!« Der Polizist lässt nichts verlauten. Auch ein Kellner, den man fragt, gibt vor, nichts zu wissen. Derweil sammeln sich weiter unten, da, wo die Andrassystraße in die József-Attila-Straße übergeht, Ungarns Faschisten. Doch die sind auf den ersten Blick nicht als solche zu erkennen. 2 000 bis 3 000 Leute sind es, viele in schwarzen Lederjacken, wie man es von deutschen Autonomen kennt, jede Menge Palästinensertücher sind um Hälse gewickelt oder lässig über Schultern geworfen, sogar ein Irokesenhaar­schnitt ist zu sehen.
Die Körperhaltung, zahlreiche rot-grün-weiße Flaggen, die Ausstattung der beiden Bücher- und Devotionalientische am Rande und eine auf Englisch gehaltene Rede aber lassen keinerlei Zweifel aufkommen: Die, die sich hier versammelt haben, um gegen das korrupte System, gegen Europa und gegen Juden zu demonstrieren, sind keine verstörten Konservativen, denen die Moderne über den Kopf wächst. Das sind beinharte Nazis, und sie meinen es ernst. Später stellt sich heraus, dass der Mann, der seine Rede auf Englisch gehalten hat, Nick Griffin ist, Holocaustleugner und Vorsitzender der faschistischen British National Party.
Besonders erschreckend ist der Umstand, dass der ungarische Faschismus die bürgerliche Mitte offenbar schon lange erreicht hat. Gut­gekleidete Mittfünfziger umarmen Springerstiefel tragende Skinheads, die ansonsten – noch – in der Minder­heit sind. Männer in traditionell geknöpften Magyar-Hemden schlendern umher und trinken Bier, ein Typ mit langen Haaren verkauft Popcorn, ein anderer Bilder von Miklas Horthy, dem »Admiral ohne Meer«, unter dessen Herrschaft mit den deutschen Nationalsozialisten kollaboriert wurde und rund 600 000 ungarische Juden und Roma ermordet worden sind.
Auch die Frauen machen einen selbstbewussten Eindruck. Sie stehen in schwarzen Kampfanzügen herum, sammeln Geld für die Bewegung und stellen fast die Hälfte der Anwesenden. Gemeinsam skandiert man Sprüche gegen »Zionisten«. Als die ungarische Hymne ertönt, wirkt auch so mancher Polizist ergriffen.
Gegen 17 Uhr ist die Kundgebung beendet. In kleinen Gruppen ziehen die Teilnehmer nun gen Innenstadt, die Andrassystraße hoch, und rempeln gegen die Polizeiabsperrung. Dahinter, vor dem Haus des Terrors, wo die stalinistische Diktatur mit dem deutschen Nationalsozialismus und dem Horthy-System gleichgesetzt wird, spielt eine Rockgruppe, zu der man wegen der Absperrung nicht vorgelassen wird. Gegen Abend haben die schwarzgekleideten, palästinensertuch­tragenden Glatzen in Kampfstiefeln mit weißen Schnürsenkeln eine beängstigende Anzahl erreicht. Außerdem haben sie eine Menge Bierdosen konsumiert. Die Rempeleien auf der Andrassy­straße werden ruppiger; es wird Zeit, dass man wegkommt, denn Passanten warnen vor Tränengas.
Auf der Kossuthstraße, einer Parallelstraße, sieht es jedoch nicht besser aus: Hier ist eine Groß­leinwand aufgespannt. Dokumentarfilme laufen, in denen ältere Leute von ihren Erfahrungen 1956 erzählen. Jeder zweite, der zusieht, gibt sich mittels seines Äußeren als Faschist zu erken­nen und steht entspannt zwischen allen anderen, die damit anscheinend kein Problem haben. Auch hier will man nicht bleiben, doch der direkte Weg zur Synagoge ist durch Polizeiketten versperrt. Dennoch klirren im ehemaligen jüdischen Viertel Fensterscheiben. Glatzen rennen un­behelligt davon, Touristen starren ihnen hinterher. Man selbst fragt sich, wo die Gegendemons­tration bleibt, wo die Budapester sind, die gegen diesen Aufmarsch protestieren. Man fragt sich das vergebens, denn außer einigen verstört wirkenden Touristen und Glatzen mit den obligatorischen weißen Schnürsenkeln begegnet man niemandem. Der 23. Oktober, der ungarische Na­tionalfeiertag, gehört mittlerweile ganz den Faschisten. Mit diesem Eindruck fährt man andern­tags nach Deutschland zurück. Mit im Zug sitzen Männer in schwarzen Kampfanzügen und Springerstiefeln.