Die Schülerproteste und die Randale an der Berliner Humboldt-Uni

Ab in die Ecke!

Statt »Bildungsblockaden einzureißen«, verwüsteten demonstrierende Schüler an der Berliner Humboldt-Universität eine Ausstellung über die Enteignung und Verschleppung jüdischer Unternehmer in der NS-Zeit. Dem bundesweiten Schulstreik war das nicht sonderlich dienlich.

Hach, Italien! Und Frankreich erst! In Italien demonstrieren seit Wochen Zehntausende gegen die von der Regierung Berlusconi geplanten Einsparungen im Bildungswesen, inzwischen hat die Regierung sich zu Gesprächen bereit erklärt. In Frankreich bewegten landesweite Schüler- und Studentenproteste die dortige Regierung vor zwei Jahren dazu, die geplante Abschaffung des Kündigungsschutzes für Berufsanfänger rück­gän­gig zu machen, seitdem gelten »franzö­sische Verhältnisse« unter hiesigen Veranstaltern von Demonstrationen als magische Vokabel.
Am Mittwoch voriger Woche fand auch in Deutsch­land ein bundesweiter »Schulstreik« statt. Demonstriert wurde in insgesamt 40 Städten. Das Schülerbündnis »Bildungsblockaden einreißen« sprach von etwa 100 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die an diesem Tag für mehr Lehrer, weniger Leistungsdruck und weniger soziale Auslese im deutschen Bildungssystem auf die Straßen gingen – und sich dabei über einen Grund zum Schwänzen freuen durften, denn die Demonstration war bewusst auf einen Mittwoch­vormittag gelegt worden. Zu sehen gab es, neben bunten Plakaten und für die Demo herausgeputz­ten 13jährigen, aber auch vereinzelt Beweise dafür, wie sehr mehr Bildung wirklich Not täte.

In Hamburg und Erfurt besetzten Schülerinnen und Schüler vorübergehend erfolgreich die Schul­behörden, in Hannover verließen rund 1 200 Demonstrierende die genehmigte Route, um trotz der gesetzlichen Bannmeile vor dem Landtag zu protestieren, wo gerade über die Schulpolitik der Landesregierung debattiert wurde. In Berlin hingegen machte die Demonstration vor allem dadurch von sich reden, weil über 1 000 Teilnehmer kurzzeitig das Hauptgebäude der Humboldt-Universität (HU) besetzten und dort ran­dalierten.
Während jemand »Mehr Bildung für alle« an die Wand sprühte, wurden Schaukästen aufgebrochen, Porträts von Wissenschaftlern von den Wänden gerissen und Papierhaufen in den Fluren angezündet. Innen flog Toilettenpapier herum, außen am Gebäude wurde ein Transparent »Für Solidarität und freie Bildung« entrollt.
Im ersten Stock trafen die Demonstrierenden auf ein Seminar von Vertretern der Wirtschaft, die dort einen Raum gemietet hatten, um über Patentschutz an Hochschulen zu diskutieren. »Manager! Wir haben hier Manager!« rief ein Demonstrant entzückt. »Wären Sie nicht dafür, dass die Manager alle rausgeschmissen werden aus der Uni, die Schweine?« fragte er, vielleicht in Anspielung auf einen der Kritikpunkte des Schü­lerbündnisses, die Privatisierung der Lehre.
In der Eingangshalle zerstörten die Demons­trierenden unterdessen eine Ausstellung über die Enteignung und Verschleppung jüdischer Unternehmer in der NS-Zeit. Vor dem Gebäude wurden währenddessen, wieso auch immer, Antifa-Flaggen geschwenkt. Sowohl die Universitätsleitung als auch die jüdische Gemeinde Berlins äußerten sich entsetzt.
Das »Go-in« und die Zerstörung der Ausstellung seien spontan passiert, sagt Lee Hielscher von der Landesschülervertretung Berlin im Gespräch mit der Jungle World. Zwar habe man auch im Nachhinein nicht herausfinden können, von welcher Gruppe die ursprüngliche Initiative dazu ausgegangen sei – in Berlin waren viele einzelne Organisationen beteiligt. Auf eine offizielle Begründung für die Verwüstung scheint sich das Bündnis jedoch inzwischen geeinigt zu haben. »Die HU soll zu einer Elite-Uni umstrukturiert werden«, sagt Hielscher. Während des Vorfalls selbst wurde das freilich nicht erwähnt. »Da waren viele Haupt- und Realschüler dabei, die so eine Einrichtung nie von innen sehen werden und ihrer Wut eben Dampf gemacht haben«, ergänzt er.

Offenbar war es aber nicht nur die Universität selbst, gegen die sich die »Wut« mancher richtete. Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter der HU bestätigte der Jungle World, er habe die Randalierer, die gerade die Ausstellungstafeln zerlegten, wütend gefragt, was denn die israelischen Gäste den­ken sollten, die sich in der Universität aufhielten. Ein Demonstrant mit einer roten Flagge in der Hand habe geantwortet: »Scheiß-­Israel!« Zudem sei er von ihm angegriffen worden, sagt der wissenschaftliche Mitarbeiter.
So unkoordiniert das Geschehen in der HU dennoch gewesen sein mag, so sehr bemühten sich die Organisatoren im Anschluss, den vielen übrigen, jungen Demonstrierenden ihre Deutung der Geschehnisse nahezulegen. Los ging es im linken Internetportal Indymedia. Es sei davon auszugehen, so hieß es dort in einer ersten »Auswertung« am selben Abend, dass die Demons­trierenden sich angesichts der allgemeinen Hektik während der Besetzung der HU gar nicht mit dem Inhalt der Ausstellung hätten auseinandersetzen können, bevor sie diese – anscheinend »nur« als Symbol für universitäre Wissensvermitt­lung im Allgemeinen – eilig verwüsteten. Eine »politische Motivation«, so das für eine Demonstration überaus bemerkenswerte Fazit, sei daher »auszuschließen«. Die Zerstörung der Ausstellung sei vielmehr als »Kollateralschaden der Stürmung des Gebäudes« zu betrachten.
Die Organisatoren der Berliner Schülerinitia­tive ärgerten sich vor allen Dingen darüber, dass der Spiegel und die Bild-Zeitung die Proteste »sofort in eine antisemitische Ecke« gerückt hätten, wie Hielscher sagt. Ein anderes Mitglied der Ber­liner Schülerinitiative, das sich am Abend nach der Demonstration intern empört hatte, die »bürgerliche Presse« würde in ihren Berichten über die Demonstration stets gleich im ersten Absatz die Zerstörung der Ausstellung in der HU erwähnen, durfte tags darauf in der Tageszeitung Junge Welt einen lobenden Bericht über den u.a. von ihm organisierten »Aktionstag« schreiben. In dem Artikel wurde die Zerstörung der Aus­stellung mit keinem Wort erwähnt.
Eine verdruckste Erklärung reichte Benjamin Müller von der Berliner Schülerinitiative erst am folgenden Tag in derselben Zeitung nach: »Ich gehe davon aus, dass der Schaden an der Ausstellung unabsichtlich durch das Gedränge im Foyer entstanden ist.« Dass einzelne Ausstellungstafeln nicht nur niedergetrampelt, sondern auch mit den Händen zerrissen wurden, passt zwar nicht zu dieser Darstellung. Dennoch sagt auch Hielscher: »Wenn wir statt in die HU in die TU reingegangen wären, wäre die dortige Ausstellung zur Geschichte der Achtundsechziger genauso zerstört worden.«

Am Ende verurteilte die Schülerinitiative den Vor­fall doch noch in einem offenen Brief, allerdings wiederum nicht ohne den relativierenden Verweis auf die »aufgestaute Wut« der Anwesenden. Inzwischen ist die Ausstellung behelfsmäßig wieder­hergestellt worden. Eine zusätzliche Schautafel informiert nun über ihre Zerstörung.
»Schade, dass diese Vorfälle so in den Vordergrund geraten sind«, findet Florian Toniutti vom Schüleraktionskomitee in Stuttgart, wo 8 000 Schülerinnen und Schüler gegen das Büchergeld und die Verkürzung der Gymnasialzeit auf acht Jahre demonstriert hatten. »Einfach nur doof und extrem kontraproduktiv« sei die Randale in Berlin gewesen, meint Juliane Pfeiffer von der »Schulaction Thüringen«. David Redelberger vom Kasseler Schülerbündnis fügt hinzu: »Ich fand’s total panne.«
Lee Hielscher schlägt nun erst einmal kleinere Schritte vor. Unterstützen müsse man vor allem das lokale Engagement in einzelnen Schulen, sagt er, etwa in Form von Video-Gruppen. »Damit kann man dann in Richtung Video-Aktivismus gehen und zum Beispiel einen Film über die eigene Schule drehen, um auf Probleme aufmerksam zu machen«, schwebt ihm vor. Französische Verhältnisse sind freilich etwas anderes.