Wo waren Sie, als das Sparwasser-Tor fiel?

Matthias Gärtner ist PDS-MdL in Magdeburg

Gut verpackt in einer wiederverwendbaren DDR-Baumwollwindel, lag ich im Schlafzimmer meiner Eltern und verschlief dieses Jahrhundertereignis. Mein älterer Bruder saß mal wieder vor meinem Bettchen und war stolz auf seinen kleinen Bruder. Ob er damals schon gewußt hat, was für einer ich werden sollte - einer, der gern beim Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spielen die Spielplatte umschmiß oder sich mit ihm stundenlange Kopfkissenschlachten im drei mal zwei Meter großen Kinderzimmer lieferte -, weiß ich nicht. Kurze Zeit zuvor hatten meine Eltern beglückt die Schlüssel für eine Drei-Raum-Plattenneubauwohnung vom Typ WBS 70 in der legendären Straße der Völkerfreundschaft in meiner Heimatstadt Wittenberg entgegengenommen. Von dieser Wohnung hatte man zu diesem Zeitpunkt einen schönen Blick auf ein kleines Dorf und die Felder. Wenige Jahre später waren die Dorfhäuser von fünfstöckigen Plattenneubauten umringt.

Mein Vater schaute sich damals das Spiel an. Obwohl die DDR-Fußball-Nationalmannschaftsspieler von ihm grundsätzlich als "Eierköppe" bezeichnet wurden - weil sie fast alle Spiele vergeigten -, war dieses Spiel für ihn ein absolutes Muß, denn es ging gegen die Westdeutschen. Bei einer unsäglich schlecht schmeckenden Flasche Dessauer-Helles-Bier - eine Marke, die bis heute ungenießbar ist - wurde er aber überrascht. Und aller Ärger über die DDR-Fußballdeppen war dahin, denn sie hatten den, wie man heute sagt, Wessi geschlagen. (Und der Wessi ist für meinen alten Herrn bis heute die Inkarnation des Bösen. Der Wessi war und ist arrogant, überheblich, meistens ein Betrüger, der den Ossi über den Tisch zieht, und außerdem knatscht er Kaugummi, meint mein Vater.) In sein damaliges Jubelgeschrei stimmte ein ganzes Plattenneubaugebiet ein. Der Sieg der DDR-Mannschaft hatte ähnliche Bedeutung wie der Sturm auf das Winterpalais während der Oktoberrevolution.

Immer wieder mußten Spiel und Sparwasser-Tor im DDR-Fernsehen dafür herhalten, daß mit ihnen die Leute dazu motiviert werden sollten, die WM-Qualifikationsspiele anzusehen und dabei möglichst noch mit der DDR-Mannschaft mitzufiebern. Es half nichts. Mir schon. Von 1986 bis 1988 reiste ich regelmäßig zu den Spielen des DDR-Oberligisten Halleschen Fußballklubs Chemie. Der war ähnlich veranlagt wie die DDR-Fußballnationalmannschaft, meistens befand sich das Team in einem sehr bedauernswerten Zustand. Aber: Mitmachen ist alles!