Die Poplinke ist im Mainstream angekommen

Die utopische Idee, vom Zeilengeld leben zu können

Einheitsbrei statt Distinktionsgewinn: Die Poplinke ist im Mainstream angekommen und Barack Obama US-Präsident. Wo liegt das Problem?

Madonna, Michael Jackson und Prince wurden in diesem Jahr 50 Jahre alt. Das Pop­magazin Spex machte daraus eine Sonderausgabe und sprach popu­listisch von summierten 150 Jahren Pop und packte Madonna auf den Titel. Liegt das Blatt mit Madonna-Cover am Kiosk, dann schaut der geneigte Popkonsument eher hin als auf das mittlerweile legendäre Heft mit der Berliner Band Mutter auf dem Titel. Die angeblich am schlechtesten verkaufte Spex aller Zeiten! Eine Zeitschrift wie die Spex schafft es also nicht, eine Band wie Mutter nur im Ansatz so populär zu machen wie Madonna – obwohl man die gleichen Mechanismen nutzt. Es läuft folglich umgekehrt: Madonna macht die Spex populär. Schreibt der poplinke Autor in so einer Ausgabe, wird er mit größerer Wahrscheinlichkeit gelesen als in der Mutter-Ausgabe. Obwohl Mutter von der Haltung her ja viel näher und eindeutiger am Text eines poplinken Autors sein dürften als Madonna.
Die Strategien der Poplinken – also: Band nimmt Platte auf, diskursive Autoren nutzen die Veröffentlichung eines Albums, um linke, kultur­politische Interessen in den Diskurs einzuflechten – funktionieren also ohne Ikonen ungefähr so gut wie ein Ladenlokal für Experimen­tal­musik in der Provinz: gar nicht. Aber wie funktioniert die Poplinke dann überhaupt ohne die Mechanismen des Mainstreams, die es zu kritisieren gilt? Man könnte sagen: Auch nicht – sie ist längst selbst Mainstream.
Es begann Anfang der achtziger Jahre: ­Second-Order-Pop-Bands wie ABC, Heaven 17 oder Scritti Politti entschlossen sich dazu, das System auf eine ästhetisch-trojanische Weise zu unterwandern, es also mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Sie wollten durch Glamour Macht gewinnen – für viele poplinke Labelmacher, Küns­tler, Autoren und andere Beteiligte fühlte sich das erst mal sehr gut an. Endlich einmal: Hochglanzmagazine statt der ewigen Merve-Heftchen. Konsum statt Konsumverzicht. Vom Zeilenhonorar leben und die ewige Party als etwas Politisches begreifen. Zumindest ein Konzert als nicht weniger politisch zu erachten als das Soziologieseminar an der Universität. Aus heutiger Sicht klingt das wie eine übergeschnappte Idee im Kokain- oder Speedrausch. Damals hat man jedoch daran geglaubt.
Die Poplinke zog dann Mitte der neunziger Jah­re vom Second-Order-Pop – immer wieder durch­kreuzt von Frickel-, Schrammel- oder Noiserock-Bands wie den Melvins – in das elektronisch-experimentelle Musikfach um.
The KLF verbrannten im Jahr 1994 eine Million Pfund. Kurt Cobain, Sänger der Grungeband Nirvana, erschoss sich im gleichen Jahr. »Digital ist besser«, hieß es 1995 bei Tocotronic poplinks-ironisch.
Der Remix eines Musikstücks galt fortan als Ausdruck einer irgendwie poplinken, modernen Idee. HipHop ist auf dem Zenit seines Erfolgs angekommen. Unendlich viele Versionen der gleichen Musik scheinen nun möglich. Der HipHopper sampelt ganze Refrains beliebter Popmusik, während der Elektroniker kleinteilig etwas herausschnipselt: Eine Idee wird so lange geloopt, bis sie am Ende alle verstanden haben. Die Rechnung wurde aber ohne den Wirt gemacht. Das Urheberrecht und seine Verwalter zeigten den Samplern und Soundklauern schnell ihre Grenzen auf. Die Diskussion um Urheberrechte erlebte ihren ersten Höhepunkt. Die Poplinke wendete sich fortan der totalen Kunstmusik zu: Techno.
Aus der Technobewegung wird in Deutschland das Volksfest der Love Parade. Sample-Künstler wie Fatboy Slim landen mit ihrem Big Beat welt­weit in den Hitparaden. Der Jeans-Hersteller Levi’s schafft es 1999, die wohl ab­­strak­teste Nummer-Eins-Single der deutschen Singlecharts mit Hilfe einer Werbekampagne zu erzwingen: Der französische Avantgarde-Elektro­niker Mr. Oizo schafft es mit dem Track »Flat Eric« an die Spitze. Die Poplinken sitzen längst in den Werbeagenturen. Ein Blick auf die Medien: Der Musikfernsehsender Viva startet einen Alternativsender, nennt ihn Viva 2, wenig später schaltet man ihn wieder ab. Nahezu alle Viva-Moderatoren dieser Zeit werden wenige Jahre später erfolgreiche Medienmenschen: Stefan Raab, Charlotte Roche, Oliver Pocher oder Chris­tian Ulmen.
Als das neue Geschäft der Jahrtausendwende wittert man nun mit der wachsenden Popularität der Handys das Klingeltongeschäft.
Die Produktionsmethoden aus HipHop und Elektronik wandern Ende der neunziger Jahre in die Bandmusik zurück, und man landet endgültig in der Postmoderne: ein Moog-Synthesizer hier, ein HipHop-Beat dort, Techno oder House­beats, Rockgitarren, R & B-Bässe, Knick-Knack-Sounds, Geschrei und Gefrickel. Alles ereignet sich im gleichen Raum und landet auf der Festplatte: »OK. Computer« heißt es bei Radiohead im Jahr 1997. Im gleichen Jahr erscheint »Homework« von Daft Punk.
Das Schlimmste, was der Poplinken aber wider­fährt, ist nicht die Digitalisierung der Produktionsmethoden, sondern die Einführung des Be­griffs Indierock. Einstige Haltung verkommt unter diesem Stempel zur reinen Pose. Das Ergebnis ist Einheitsbrei statt Distinktionsgewinn. Natürlich haben The Strokes, The White Stripes oder Franz Ferdinand ihre Hausaufgaben ge­macht, aber der in die Jahre gekom­mene Poplinke, der bereits Television, The Gun Club oder XTC miterlebt hat, will und kann die neuen Bands nur noch als irrelevante Hype­bands erleben.
Vielen poplinken Autoren ist das inzwischen egal. Sie schreiben für das bürgerliche Feuilleton, arbeiten im Universitätsbetrieb oder schrei­ben für etablierte Verlage. Sie gehören zur neuen Bildungselite des Landes. Der neuen Generation wird eine Erfolgsgeschichte vererbt. Vom Clubkeller ins Stadion. Ohne Studienabschluss als Publizist zum Verlag. Die Produktionsmittel für Pop – ein Homecomputer also – sind so erschwinglich und verbreitet wie nie zuvor.
Der Pop-Diskurs der Gegenwart beschäftigt sich mit der Digitalisierung des Medienbetriebs: dem Internet und den daran festzumachenden Globalisierungs- wie Marketingstrategien. Die jungen Digitalen lieben ihre Electro-, Indierock, Afrobeat-, HipHop- oder Alles-auf-einmal-Acts, die sie zwischen MySpace und NME entdecken. Im Zeitalter von Indie und Web 2.0 geht es aber nicht mehr um »Nachhaltigkeit« oder Veränderung, sondern um schnelle Effekte. Natürlich entsteht unter diesen Bedingungen aber auch interessante Musik. Der Mainstream bekommt ständig neues Futter.
So habe ich neulich ein umwerfendes Konzert der Chicagoer Post-Afro-Punk-Rock-Band Mahjongg in einem kleinen Club in Berlin gesehen. Ich war einer von 30 glücklichen Menschen, denen diese Band an jenem Abend Hoffnung gemacht hat. Das war gefühlte Utopie. Während ihres Konzerts gab es keine Fragen mehr. Keinen Diskurs. Alles schien möglich.
Ihr aktuelles Album heißt »Tell The Police The Truth«. Hübscher Titel für ein Album, auch wenn kein Tonträger dieser Welt die Konzert­energie dieser Band transportieren kann. Wenn Mahjongg keine Musik machen, arbeiten sie übrigens kollektiv als Umzugshelfer. Der Bandbus dient als logistisches Werkzeug im doppelten Sinne. Die Bereiche Arbeit und Freizeit verschwimmen. Musikklischees verschwimmen gleich mit.
Auf dem aktuellen Spex-Heft ist die Band TV On The Radio abgebildet. »Die Zukunft der Musik kennt keine Hautfarbe«, steht dort geschrieben. Schwarze Musiker spielen Indierock und noch vieles mehr.
Inzwischen wurde Barack Obama zum ersten schwarzen Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. Alles, was er der euphorisierten Welt verspricht, ist gefühlte Utopie: Yes, we can. Die Grenzen zwischen Pop und Politik scheinen bei dieser Wahl verschwunden. Ein Bekannter sagte nach der Wahl zu mir: »Ich muss mal dringend meine linken Freunde anrufen – sie fragen, was denn jetzt daran schon wieder nicht in Ordnung ist...!«