Das neue Buch von Nicolas Berg »Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher«

Luft und Boden

Die Rede von »Luftmenschen« war um 1900 eine kritisch gemeinte Zeitdiagnose. Sie drückte ein allgemeines Unbehagen an der Moderne aus, das verbreitet mit dem Hinweis auf Juden und jüdische Lebenswelten konkretisiert wurde.

Luftmensch ist das Wort, das in der schlagenden Knappheit eine jüdische Situation dokumentiert.« Dieses Zitat von Leo Hirsch aus dem Jahre 1930 findet sich auf der Rückseite des neuen Buchs des Historikers Nicolas Berg, das einen bisher kaum beachteten Bereich der Geschichte des modernen Antisemi­tismus behandelt. Es gelingt Berg, anhand des Terminus »Luftmensch« zu zeigen, wie sich der Bedeutungsgehalt des aus der jiddischen Literatur Osteuropas stammenden Begriffs durch die gesellschaftlichen Veränderungen und die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts nicht nur wandelt, sondern sich in sein Gegenteil verkehrt. Die Darstellung umfasst die Jahre um 1860, wo der Begriff zum ersten Mal auftaucht, bis zum Holocaust. Analysiert werden Arbeiten aus Literatur, Malerei, Philosophie sowie wissenschaftliche Schriften. Die sozialistische Diskussion wird ebenso berücksichtigt wie die zionistische, dargelegt wird die sich sukzessiv entwickelnde antisemitische Aufladung des Begriffs.
Zur Entstehung der Luftmenschenmetaphorik wird auf Scholem Alejchems Roman »Menachem Mendel« (1892-1895) verwiesen, dessen gleichnamiger Protagonist sich mit »Luftgeschäften« verdinge. Zunächst verwies der Begriff »Luftmensch« auf die spezifische Lebenswelt der osteuropäischen Judenheit. Diese war geprägt von Armut, typische Tätigkeiten waren Kleinhandel, Hausieren, Tagelöhnern oder Bettelei. Als die Großstadt vermehrt zu einem Thema der Literatur wurde, wurde der Begriff zunehmend auch auf Intellektuelle mit einem bodenlosen und weltbürgerlichen Dasein sowie auf urbane Randfiguren angewandt.
Derartige Konnotationen erhielt die Metapher vor allem in den Metropolen Westeuropas, was zugleich auf die Differenz zwischen der öst­li­chen und der westlichen Wahrnehmung der Judenheiten verweist. Die Juden Westeuropas litten nicht so sehr unter Armut und Pogromen; sie waren vielmehr dem Druck der Assimilationsvorstellungen ausgesetzt, weshalb sich der Begriff zum »verallgemeinerbaren Symbol für die negativen Seiten der großstädtischen Moderne« entwickelte.
Mit dem Anwachsen des Nationalismus im späten 19. Jahrhundert wurde die Ambivalenz der Metapher immer deutlicher. Einerseits war in ihr ein Universalismus aufbewahrt, der sich durch die Assoziation von Luft mit Inspiration und der Freiheit des Denkens gegen nationale Borniertheiten wandte, andererseits wurde die Metapher immer stärker ethnisiert und die ihr entgegenstehenden Termini der Verwurzelung und des Bodens wurden in Anschlag gebracht.
Auch im zionistischen Diskurs bei Theodor Herzl, Max Nordau oder Arthur Ruppin fand sie Verwendung. Das »Luftmenschentum« sollte abgeschafft und die Juden sollten Arbeiter und »nützliche Mitglieder der Gesellschaft« werden. Berg kommentiert diese Veränderung so: »Die diasporischen, transnationalen jüdischen Lebensformen gerieten in einen kaum noch abzuleistenden Rechtfertigungssog.« Die Ironie, die in der Entstehungsphase der Metapher als Selbst­beschreibung enthalten war, ist verloren gegangen. Sie ist in Ideologie umgeschlagen, die sich in der Völkerpsychologie und in aller Offen­heit in den antisemitischen Schriften manifestierte. Diese behandelten die Fragen von Zugehö­rigkeit und Entwurzelung, von Bodenverbundenheit und frei schwebender Intellektualität. »Die gesamte antisemitische Literatur«, schreibt Berg, »ist von dieser dualen Obsession imprägniert. Sie assoziiert Juden mit dem ephemeren Element der Luft und rationalisiert dies zugleich wieder, indem sie Scheinerklärungen für die zuvor unterstellte und als pathologisch gebrand­markte Boden-, Natur- und Heimatunfähigkeit sucht.« Hiermit war eine Entwicklung in Gang gesetzt, die sich katastrophal für die Juden auswirkte. Die Krisen der Zwischenkriegszeit und vor allem die Entstehung der Staatenlosigkeit als Massenphänomen trafen die Juden mit voller Wucht. Ihrer bürgerlichen Rechte beraubt, waren sie wirklich zu Luftmenschen gemacht worden. Die Metapher hatte einen realen Gehalt bekommen.
Die »Judenforschung« der Nazis führte zu einer weiteren Radikalisierung. In der völkisch-biologistischen Ideologie einer nach »Lebensräumen« und »Rassen« aufgeteilten Welt waren »Luftmenschen« nicht vorgesehen. Sie hatten keinen Platz. Auf diese intellektuelle Tilgung aus dem »Volkskörper« folgte die reale Ver­nichtung. In den Vernichtungslagern wurden die Juden vergast und in den Öfen verbrannt. Sie fanden »ein Grab in der Luft« (Paul Celan).
Das Buch ist in fünf Kapitel aufgeteilt und essayistisch gehalten. Auf einen Fußnotenappa­rat wurde ebenso verzichtet wie auf einen akademischen Duktus. Dadurch liest es sich nicht nur flüssiger, sondern wird auch für ein größeres Publikum zugänglicher.
Der theoretische Zugriff Bergs lehnt sich an Blumenbergs Metapherntheorie an, in der Metaphern als fundamentale Verhaltensorientierungen bezeichnet werden, die der Welt eine Struktur verleihen. Dies unterscheidet sich in zweierlei Hinsicht von einer postmodernen Dis­kurstheorie, die annimmt, dass die Sprache die Realität konstruiere. Zum einen spiegeln sich in der Wandlung des Begriffs sozialgeschicht­liche, lebensweltliche Veränderungen, und zum anderen ist sie Teil der Ideologiegeschichte des Antisemitismus, weil die Verwendung von Metaphern meist mehr über diejenigen aussagt, die sie verwenden, als über diejenigen, die mit ihnen belegt werden. Dies drückt Berg wie folgt aus: »Offensichtlich erhält man durch die historische Kontextualisierung von Verwendungs­weisen der Elementarmetaphern ›Luft‹ und ›Bo­den‹ nicht nur Auskunft über die zeitgenössische Sicht auf die Juden, sondern auch über Welt­anschauungen und kulturelle Deutungsmuster jener Jahre insgesamt.«
Die Metapher »Luftmensch« ist eine Kollektivkonstruktion, die aus dem jüdischen Diskurs stammt, zunehmend ambivalent aufgeladen wurde und sich schließlich zu einem der wichtigsten antisemitischen Topoi entwickelt hat. Diese Geschichte hat Nicolas Berg facettenreich und gekonnt nachgezeichnet.

Nicolas Berg: Luftmenschen. Zur Geschichte einer
Metapher. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008, 245 Seiten, 19,90 Euro