Best of Motown

Best of Motown

Unsere Autoren über ihre Lieblingsplatten

Undisputed Truth
Smiling Faces Sometimes
Motown 1971. Die Frage nach dem Lieblingsstück ist gemein. Es gibt viel zu viele unschlagbare Motown-Songs, Songs, die politisch wurden, ohne es zu wollen. »Dancing In The Street«, »I Heard It Through The Grapevine«, »Living For The City«, »Papa Was A Rolling Stone«. Aber am Ende der meistgespielte, meistgeliebte ist doch »Smiling Faces Sometimes« von Undisputed Truth, das Baby des Produzenten Norman Whitfield. Der Great Extender von Motown starb am 16. September 2008 im Alter von 68 Jahren an den Folgen einer Diabetis. Für Motown-Größen wie Marvin Gaye und die Temptations erfand Whitfield den psychedelischen Soul. Und nahm Disco und House vorweg. Klaus Walter

The Temptations
Cloud Nine
Gordy/Motown 1968. Motown fehlte ja der Diskurs, und Motown fehlte der Mythos. Alles steckte in der Oberfläche. Vielleicht war Nicht-Oberfläche im weißen Rock dagegen die größere Lüge. Motowns Kraft lag im Freisetzen, in den schnellen Verbindungen und in der Vielstimmigkeit. Insofern waren die mittleren Temptations eine wenn auch harlekinische Realisierung von Max Roachs Vorstellung einer demokratischen Mehrstimmigkeit in der Musik, die ein besseres Statement sei als politische Worte. »Cloud nine« macht dieses kreative Zerfallen und Emanzipieren, Drogen und Politik (beides ohne »Diskurs«, wie gesagt) im »Psychedelic Soul« vielleicht am besten deutlich. So weit entfernt von weißer Musik wie von »ordentlicher« schwarzer. Dauernd hören kann man so was aber auch nicht. Georg Seeßlen

Marvin Gaye
What’s Going On
Tamla/Motown 1971. Dies ist sicher die un­gewöhnlichste Platte, die je auf Motown veröffentlicht wurde. Keine Ansammlung von Hits, sondern eher so etwas wie ein Konzeptalbum voller komplex durcharrangierter Nummern und Songtexte, die sich inhaltlich aufeinander beziehen. Es ging um den gesellschaftlichen Zustand der USA während der Nixon-Ära, um die Armut der schwarzen Bevölkerung eben­­so wie um den Vietnam-Krieg und – damals schon – Umweltverschmutzung. Marvin Gaye ist mit »What’s Going On« das »Sgt. Pepper’s« des Soul gelungen. So sehen es zumindest viele weiße Kritiker, die »What’s Going On« gegenüber anderen Motown-Platten immer wieder mit ebenfalls sehr weißen Kriterien als »anspruchsvolle Musik« hervorgehoben haben. Dabei wurde oft übersehen, dass es sich trotz aller politischen Anspielungen um ein typisches Soul-Album handelt, das tief in der Tradition verwurzelt ist. »What’s Going On« ist eigentlich musikalischer Gottesdienst, voller religiöser Hymnen wie »God Is Love« und »Wholy Holy«. Dieser Aspekt darf nicht unterschlagen werden, auch wenn ihn viele weiße Kritiker wahrscheinlich weniger cool finden als die Kritik am Vietnam-Krieg. Selbst als Atheist muss man sich eingestehen, dass der Glaube vielleicht nicht Berge versetzen, aber so manchen Musiker zu Höhenflügen veranlassen kann. Das gilt zum Beispiel auch für »A Love Supreme« von John Coltrane. Hier kommt allerdings das eigentliche Problem ins Spiel, auch wenn es wie ein Sakrileg klingen mag: »What’s Going On« ist ein musikalisches Juwel nicht wegen, sondern trotz seiner oft allzu beseelten, von kitschigen Erlösungsphanta­sien triefenden Texten. In deutscher Sprache gesungen, würden uns die Songs wahrscheinlich an Xavier Naidoo erinnern. Bewahre! Bleibt also nur, nicht ganz so genau auf die Texte zu hören und sich ganz den, äh, himmlischen Sounds hinzugeben. Martin Büsser

Marvin Gaye and Tammi Terrell
Ain’t No Mountain High Enough
Tamla/Motown 1967. Der ganze mitreißende Optimismus des Motown-Sounds bricht sich in diesem wunderbaren von Nickolas Ashford & Valerie Simpson komponierten Stück Bahn. Nicht umsonst findet man »Ain’t No Mountain High Enough« als Soundtrack in verschiedenen Feelgood-Movies, und auch in »Sister Act« dient er als Stimmungsbeschleuniger. »Ain’t No Mountain High Enough« wurde oft gecovert und in der 1970er-Version von Diana Ross zum Nummer-Eins-Hit, aber niemand konnte dieses besondere Gefühl des »Nichts und niemand kann uns trennen« besser vermitteln als das Duo Marvin Gaye und Tammi Terrell, die diese Fanfare 1967 sangen, dabei Rollkragenpullover aus Synthetik trugen und einander wie verliebtes Katzenvolk umbalzten. »Listen, Baby«, sagt der damals noch ganz junge und mit einem ungebrochenen Womanizer-Image behaftete Marvin Gaye am Anfang des Stücks und legt dann mit seiner Berge überwindenden Liebeserklärung los, auf die die charmante Tammi Terrell ihrerseits noch eins draufsetzt. Just call my name, I’ll be there in a hurry, singt sie. Dazu wird mit riesigen Kunstwimpern geklimpert, mit den Hüften gewackelt und mit den Armen ein Sprint angedeutet. Das Stück ist von berauschender Fröhlichkeit und erinnert mit seiner Versicherung allumfassender Geborgenheit in Zeit und Raum an den berühmten biblischen Hirtenpsalm 23, es hat aber auch ein ganz trauriges Nachspiel. Sein Versprechen If you ever in trouble, I’ll be there on the double musste Marvin Gaye noch im selben Jahr einlösen, als Terrell bei einem Auftritt auf der Bühne zusammenbrach. Terrell starb 1970 im Alter von nur 24 Jahren an einem Gehirntumor, arbeitete aber bis zuletzt mit Gaye zusammen. Heike Karen Runge

Stevie Wonder
Innervisions
Tamla/Motown 1973. Das Album »Innervisions« von Stevie Wonder enthält zwar drei Hitsingles (»Don’t You Worry Bout A Thang«, »Higher Ground«, »Living For The City«) ist aber dennoch aus einem Guss. Stevie Wonder schrieb und spielte – wie später Prince – das vollständige Album nahezu im Alleingang ein und hatte mit den Herren Malcom Cecil und Robert Margouleff zwei Syntheziser-Sound-Spinner an seiner Seite, die ihm die Moog- und Arp-Maschinensounds perfekt einstellten und aufnahmen.
Gemeinsam kreierten sie einen Sound, der so noch nie in der Popmusik dagewesen war: spannende Jazzfusion in Pop – ohne das für Jazzfusion nicht untypische Langeweile-Syn­drom. So bekam dieses Album 1974 verdientermaßen zwei Grammy-Auszeichnungen und wurde zum Meilenstein des Pop.
Noch heute versuchen Popproduzenten den Klang aus Synthesizern und E-Piano nachzuahmen, die es auf »Innervisions« zu hören gibt.
Inhaltlich ist das Album eine ernste, melancholische, sozial-kritische Auseinandersetzung mit einem Land, welches man einst »das Land der unbegrenzten Möglichkeiten« nannte, und gehört genau deshalb dringend auf Barack Obamas iPod. Maurice Summen

Rick James
Superfreak
Motown 1981. Zwar singt Rick James in diesem Song von einem recht außergewöhnlichen, weiblichen Fan, einem kinky girl. Doch der Titel des »Superfreak« gebührt in Wahrheit nur ihm selbst. Denn die große Zurückhaltung war nie die Sache von Rick James, nicht in seinem Auftreten, nicht in seinen Texten und nicht in seiner Musik. Opulent und schrill musste es bei ihm zugehen: Wenn sich andere eine R’n’B-Ballade von einer gewöhnlichen Band einspielen ließen, durfte es für Rick James gleich ein ganzes Orchester sein – und zwar bitteschön mit Harfen! Auch für »Superfreak« hatte sich James etwas Besonderes ausgedacht: Er lud die Temptations ins Studio ein, nicht etwa um sich ehrfürchtig mit den renommierten soul brothers den Gesang zu teilen. Nein, die legendären Temptations dürfen etwa 15 Sekunden lang »Oh, oh, oh« trällern – neben dem recht großen Ego von Rick James blieb eben wenig Platz. Das macht aber gar nichts, im Gegenteil: Rick James tobt sich in diesem schmutzigen, überdrehten Funk-Song aus, wie nur er es konnte – ziemlich over the top. So lebte er auch. Im Jahr 2004 starb der »Superfreak« von Motown Records an den Folgen seines jahrelangen, exzessiven Drogenkonsums. Markus Ströhlein

Erykah Badu
Worldwide Underground
Motown/Universal 2003. Anfang dieses Jahrtausends war es mit Motown eigentlich schon lange vorbei. Zumindest mit dem 1959 in ­Detroit gegründeten Label, mit dem Besitzer Berry Gordy als erster afroamerikanischer Plattenmogul »schwarzen« Soulpop zum »Crossover«-Kassenschlager gemacht hatte – und das er 1988 für 61 Millionen Dollar weiterverkauft hatte. Aber »Worldwide Underground«, vom Wonderkid Erykah Badu aus Dallas, eigentlich nur als EP und nicht als legitime Nachfolge zu ihrer 2000er Hitplatte »Mama’s Gun« gedacht, passt als fast unheimliches Update der ursprünglichen Labelphilosophie. Wo früher der Pop-Appeal den Soul für den Markt passförmig mach­te, durchkreuzt Badu mit der ihr ­eigenen Spleenigkeit nun die neu etablierte Warenlogik von Neosoul. »Freakquency is born and neo-soul is dead« steht da auf dem Cover, rund um ihren riesigen Afro gekritzelt, und die scheinbar mühelos dahingetröpfelten elf Tracks, die ihr damals den Tadel mangelnder Tightness einbrachten, bersten in Wirklichkeit vor cooler Spannung. Gäste wie Queen Latifah, Bahamadia, Angie Stone, Dead Prez und Common tanzen nach Erykahs Pfeife durch dieses Schlaraffenland der hochmelodiösen, dauergroovenden Verschrobenheiten, und zwischen Quetschstimme, Trällern, Hauchen und Croonen entfaltet sich mit unverschämter Zurückhaltung das ganze Genie von Erykahs Schrulligkeit. Sonja Eismann