Der Historiker Karl Schlögel über Moskau im Jahr 1937

Die Dialektik von Traum und Terror

Moskau im Jahr 1937: Der Historiker und Osteuropa-Experte Karl Schlögel rekonstruiert das Nebeneinander von stalinistischer Gewalt und gesellschaftliche Utopie.

Für die marxistische Linke sei der Stalinismus immer das »große Rätsel« geblieben, befand der in verschiedenen Arbeitslagern inhaftierte jugoslawische Kommunist Ante Ciliga einmal. Nicht dass es nicht Dutzende von Versuchen gegeben hätte, den »großen Terror« und die Ermordung der russischen Intelligenz, und hier vor allem der alten Garde des Bol­schewismus, erklärlich machen zu wollen. Eine Darstellung dieser Erklärungsansätze hat Marcel van der Linden in seinem Buch »Von der Oktoberrevolution zur Perestroika. Der westliche Marxismus und die Sowjetunion« bereits vor fast zwei Jahrzehnten versucht. Seitdem ist wenig Neues hinzugekommen, obwohl die sechsbändige Geschichte Wadim Rogowins über die Geschichte der linken Opposition und ihrer Vernichtung die innerparteilichen Prozesse viel deutlicher hat hervortreten lassen, als dies in allen vorherigen Studien geschehen war.
Entscheidendes Hindernis bleibt aber nach wie vor, dass aufgrund der politischen Bestrebungen innerhalb aller marxistischen Milieus der totalitäre Gehalt des Sowjetstaates in den dreißiger Jahren geleugnet werden musste und damit Analysen, die den Namen verdient hätten, zumeist der Weg versperrt wurde. Noch heute scheint die Angst vor den westlichen Legitimierungsphrasen der Totalitarismustheorien aus dem Kalten Krieg und der Verharmlosung von NS-Verbrechen durch ihren relativierenden Vergleich mit dem Ostblock die Perspektive zu verstellen. Dies ist umso tragischer, als es gerade frühe kommunistische Dissidenten wie Victor Serge waren, die erkannt hatten, dass »die erste Bedingung für das Wiedererstarken des europäischen Sozialismus« darin bestünde, den »totalitären Charakter des Sowjetstaates« darzu­legen.
Befördert wurde die historische Blindheit allerdings zumindest teilweise auch durch eine fehlende Alltagsgeschichte der Sowjetunion der dreißiger Jahre, deren Abwesenheit der Aufwertung des Regimes bis heute dienlich ist. Es ist al­so kein Zufall, dass einige der wichtigsten Bücher über den Stalinismus nach wie vor deskrip­tiven Charakter besitzen, wie etwa die Autobiografien von Ciliga und Serge. Besser noch als sein großer Widerpart in Deutschland hat es der stalinistische Apparat verstanden, seine Herr­schafts­praxis im Dunklen zu lassen. Insofern kann die Bedeutung des mit dem Leipziger Buch­preis zur europäischen Verständigung 2009 ausgezeichneten Werkes des Russlandexperten Karl Schlögel über das Moskau des Jahres 1937 gerade für eine emanzipative Linke kaum hoch genug angesetzt werden.
»Traum und Terror«, so der Titel des Buches, ist dabei eher eine Sammlung verschiedener Fragmente. Die als Novellen daherkommenden, aber dennoch historisch seriös re­kons­tru­ier­ten Begebenheiten zwischen Freizeitpark und politischen Prozessen, Kongressen, Sportfesten und Deportationen, gepaart mit den Symbolen der Modernisierung wie etwa den Arktisexpeditionen oder der Eröffnung des Moskwa-Wolga-Kanals, entwerfen ein Bild der Stadt und darüber hinaus der Epoche, das sich zunächst ohne ana­lytische Klammer zusammenzufügen scheint. So zufällig es erscheint, dass zwei der wichtigsten Dekrete des Staatslenkers dasselbe Datum tragen, die neue Wahlordnung und der Befehl zu den Massenhinrichtungen, so zufällig scheint auch die Auswahl der Geschichten zu sein, die Schlögel erzählt.
Gerade aus den vielen verschiedenen Blickwinkeln, die er einnimmt, wird aber die Zentralität des »integralen Zugriffs« der Staatsmacht deutlich, Dies gilt nicht nur für die baulichen Ver­änderungen oder aber solch verschiedene Staats­akte wie das Puschkin-Jubiläum oder den Beginn des zweiten großen Schauprozesses gegen Bucharin und einige andere explizit Nicht­op­positionelle. Die fast vierzig Begegnungen mit der Hauptstadt der Sowjetunion auf dem Höhepunkt des Terrors zeigen diesen alle Lebensbereiche umfassenden Zugriff bis in den letzten privaten Winkel hinein. Es ist gerade das Wissen darum, nicht zu wissen, nach welchen Kriterien die Herren in den Gummimänteln stets mor­gens ihren Rundgang zu den zu Deportierenden machen, das jede Eigenständigkeit lähmt. Dass auf das Moskauer Adressbuch von 1936 keines mehr folgte, ergibt sich logisch aus der Vernebelungstaktik des Regimes. Dass aber keine Anfragen oder gar Beschwerden dazu über­liefert sind, macht die unheimliche Atmosphäre erst richtig gruselig.
Dennoch darf, und dies macht der Autor schon zu Beginn deutlich, »Traum und Terror« keineswegs mit einer noch ausstehenden Analyse »eines der rätselhaftesten Knoten der jüngsten europäischen Geschichte« verwechselt werden. Anders als beispielsweise Orlando Figes’ »Die Flüsterer« erkennt Schlögel aber, dass die So­wjet­union keineswegs ein Land der Apathie war, sondern das Regime seine Bevölkerung gerade auch mittels der totalen Kontrolle durch den Terror an die »Grenze physischer und seelischer Erschöpfung« brachte.
Es ist für Schlögel gerade die Dynamik einer »stürmischen Industrialisierung, Mobilisierung und Urbanisierung«, die den Hintergrund, man könnte auch von der gesellschaftlichen Basis sprechen, prägt. Exemplarisch an Moskau zeigt er, dass es sich um einen gesellschaftlichen Umbau nach den »westlichen Vorbildern einer avancierten Gesellschaft« handelt, der sich hinter all den Maßnahmen verbirgt und die Traumseite des Stalinismus darstellt. Wem hier­zu nur die »ursprüngliche sozialistische Akkumulation« einfällt, der sei allerdings auch daran erinnert, dass die russischen Städte bereits industrielle Zentren darstellten und es zudem gerade die außenpolitisch-imperiale Note war, die den »Sozialismus in einem Lande« bereits vor seiner Kolonisierung Osteuropas auszeichnete.
Für Schlögel ist der Stalinismus denn auch nicht die Erfüllung eines Masterplans, sondern gerade im Gegenteil die Reaktion auf die Sachzwänge der Modernisierung: »Was als Plan erscheint«, so Schlögel bereits in der Einleitung, »stellt sich bei näherem Hinsehen als Nothandeln, Improvisation, Reagieren und Lavieren, Leben von der Hand in den Mund heraus.« Wenn auch diese Alltagsgeschichte in Hinsicht auf die wirtschaftliche Seite des russischen Staatskapitalismus wenig bietet, so ist sie doch ein wichtiges Material zur Erstellung von Analysen zum Stalinismus. Vor allem verdeutlicht sie den Endpunkt einer Konterrevolution, an dem »seine Innen- und Außenpolitik allein vom Erhaltungstrieb bestimmt ist«, wie Victor Serge schon 1946 wusste. Sollte »Terror und Traum« uns zu dieser Erkenntnis zurückgebracht haben, wäre es ein großer Fortschritt.

Karl Schlögel: Terror und Traum – Moskau 1937. Hanser Verlag, München 2008, 812 S., 29,90 Euro