Der Glaube an den guten Staat integriert die Aufmüpfigen

Die Marx-Überwinder

Ob SPD oder Linkspartei, Marx haben beide erfolgreich überwunden. Deswegen sind sie aber noch lange nicht Vertreter eines autoritären Volksstaats.

Dass die Linke, zumal die heutige, und Karl Marx wenig miteinander zu tun haben, sogar so wenig, dass Uli Krug ausruft: »Marx war kein Linker« – das ist ja eine heiße Nachricht! Wen will Krug damit eigentlich erreichen? Das 20. Jahrhundert ist voll von Marx-Ergänzern und Marx-Überwin­dern, von Marx-Tötern und Marx-Verbesserern. Sie heißen, um nur ein paar herauszugreifen, Stalin und Gramsci, Keynes und Castoriadis, Sraffa und Deleuze/Guattari, Antonio Negri und Karl-Heinz Roth. Für jeden Geschmack ist etwas dabei.

Mit dem Ableben von Friedrich Engels legte in Deutschland eine sich als marxistisch verstehende Linke das wunderliche Talent an den Tag, ­alles zu tun, nur nicht Marx für voll zu nehmen. Daran hat sich bis heute nichts geändert, auch nicht in den Niederungen der Linkspartei. Der Vorwurf, die »Linke« würde Marx für sich vereinnahmen, geht ins Leere, allenfalls nutzt sie ihn als Trophäe. Etwa so wie vor 100 Jahren das Bürgertum noch auf Hegel stolz war: wichtig, aber tot. Ab mit ihm in die philologische Dauerbetreuung. Die von der Linkspartei propagierten, von den letzten Recken des Hochschulsozialismus inspirierten Marx-Lesekurse an den Universitäten haben beste Aussichten, als Propädeutik zu enden und mit Wolfgang Fritz Haug (Philosophieren mit Gramsci) und Elmar Altvater (Chancen einer alternativen Geldpolitik) konstruktiv weiterzumachen.
Marx ist kein Linker. Das weiß also jeder, insbesondere die Linkspartei, denn sie hat erfolgreich das Demokratiedefizit und den Unmittelbarkeitsfetisch (»Absterben des Staates«) des Alten überwunden. Worauf will Krug also hinaus? Darauf, dass die Kritische Theorie nichts mit der »tatsächlichen Arbeiterbewegung« verbindet und »der Sozialdemokratismus in Konsequenz zum Nationalsozialismus werden sollte«, kurzum darauf, dass die »deutsche Ideologie« »links« sei. Krug ist vorsichtig genug, dort, wo das schlimme N-Wort fällt, in den luftigen Gefilden der Ideologie zu bleiben, er schreibt nur vage vom Sozialdemokratismus und nicht von der historisch realen Sozialdemokratie.
Drehen wir den Spieß aber um und schauen auf jene Sozialdemokratie, die übrigens niemals, nicht zu Zeiten des Sozialistengesetzes und auch nicht während der Kanzlerschaft Willy Brandts, mit der »tatsächlichen Arbeiterbewegung« identisch war. Die Durchsetzung von Meinungs- und Koalitionsfreiheit, das Recht auf Bildung und das Wahlrecht der Frau, zusammengefasst der Kampf für die individuellen Rechte des Proleten und seine Aufwertung zum mündigen Staatssubjekt – das alles geht in Deutschland auf die Kappe der Sozialdemokratie. In Deutschland hat die SPD diese bürgerlichen Rechte politisch durchgesetzt oder zumindest auf die offizielle Tagesordnung gebracht. Sieht nicht so richtig nach Nationalsozialismus aus, oder? Sicherlich weiß auch Krug, dass in der Weimarer Republik sozialdemokratische Ideologen die kapitalistische Rationalisierung gelobt und das Ford-System des organisierten Kapitalismus bejubelt haben, dass etwa der SPD-Ökonom Günter Keiser den NS als »reaktionäre Revolution« abtat und die »prinzipielle Verwandtschaft von Hochkapitalismus und Sozialismus« hervorhob.

Selbstverständlich sahen die Sozialdemokraten die Durchsetzung des Versorgungsstaats, wenn man so will des Volksstaats, als Teil des Kampfes für die individuell-bürgerlichen Freiheiten des Arbeiters. Helfen Arbeitslosen- und Krankenversicherung, Invalidenrente und Altersabsicherung nicht etwa dem Einzelnen, die Tiefpunkte seiner ganz persönlichen Erwerbsbiographie zu meistern? In Deutschland war die SPD – gegen das deklassierte Kleinbürgertum, gegen die Kirchen, gegen die feudal verfilzte Junker- und Kapitalistenklasse – der Garant von Demokratie und Parlamentarismus, von bürgerlicher Zivilgesellschaft schlechthin.
Und das schließt alle Härten des Kapitalismus ein: die politische Entmündigung der Arbeiterbewegung (die immer auch, schon klar, eine Selbstentmündigung gewesen ist), die Zerstörung von autonom-solidarischen Strukturen (die Hilfe für die verelendeten Arbeiter kommt nun von oben, vom Staat), die Wut und den Hass gegen die Abweichler, die sich mit dem Erreichten nicht zufrieden geben, und zum bösen Ende den Klassenkompromiss mit den preußisch rückständigen Junkern und Kapitalisten, der das Bekenntnis zur Nation und ihren Kriegen einschließt. Die autoritären Elemente der Sozialdemokratie, die Marx und Engels prophetisch früh erkannt und kritisiert haben – Uli Krug hat die einschlägigen Zitate noch mal versammelt –, unterstreichen nicht das Besondere der deutschen Linken, sondern stehen für das Allgemeine der bürgerlichen Gesellschaft. Der Autoritarismus ist die Strafe für die Integration der Arbeiterbewegung in das große Ganze, den Staat. Wenn der alte Engels schnaubt: »Den Arbeiter auf Staatsalmosen zu verweisen – Konsequenz wäre Staatssozialismus«, »eine vollständige Erschlaffung der Arbeiter­bewegung – die Arbeiterklasse würde aufhören, eine revolutionäre Klasse zu sein«, dann ist er nicht der Prophet des Nationalsozialismus. Er weiß nur, wie die bürgerliche Gesellschaft funk­tioniert. Und das reicht auch schon.
Der »historische Beruf« (Marx) der Sozialdemokratie ist die politische Verbürgerlichung der Arbeiterklasse, die Institutionalisierung der Arbeiterbewegung, schließlich das Niederhalten jeglicher Aufmüpferei. Mal reicht ein Unvereinbarkeitsbeschluss, mal muss der »Bluthund« (Gustav Noske) losgelassen werden. Geschichte wiederholt sich nicht, aber Strukturen bleiben gleich. Nimmt man die ideologischen Kontinuitäten als Grundlage der Bewertung, dann heißt die heutige Sozialdemokratie nicht mehr SPD, sondern »Die Linke«. Wäre von ihr der »autori­täre Volksstaat« zu erwarten? Ist sie die materialisierte Avantgarde der »deutschen Ideologie«? Weder noch.

Im Schatten der Weltwirtschaftskrise tritt hierzulande wieder mal eine Linke an, den Kapitalismus zu retten, die Monopole in die Schranken zu verweisen, die Märkte zu regulieren, die Harmonie in den Betrieben wiederherzustellen. Hat nicht der Neoliberalismus die individuellen Freiheitsrechte untergraben? Haben nicht die ungezügelten Ströme fiktiven Kapitals den konkreten Einzelnen mit sich fortgerissen? Haben nicht die aus dem Neoliberalismus resultierenden staatlichen Armutsprogramme erst jene »bildungsfernen«, angeblich geradezu viehisch abgestumpften Schichten entstehen lassen?
Doch die Gegenüberstellung von Neoliberalismus und Etatismus ist falsch. Noch der verbohrteste professorale Lafontaine-Anhänger ahnt, wie viel Etatismus notwendig war, um den Neoliberalismus überhaupt erst zu etablieren: Dereguliert wurde von oben.
Aber daraus wird dem Linksideologen kein Argument gegen den Staat, sondern eins für ihn. Denn wenn der Neoliberalismus einer staatlichen Agenda folgt, erweist sich der Staat darin nicht als ein reales Subjekt der Geschichte, wenn auch in verdrehter, negativer Form? Wenn die Durchsetzung des Neoliberalismus ein politischer Kampf war, bedeutet das nicht, dass man als Linker den Staat als »die materielle und spezifische Verdichtung eines Kräfteverhältnisses ­zwischen den Klassen und Klassenfraktionen« (Nicos Poulantzas) verstehen muss, als Kampffeld mithin, auf dem man zu intervenieren hat? Hängt es dann nicht von der politischen Schlagkraft der Linken ab, ob der Staat wieder zu einer positiven Kraft, einer Achse des Guten werden kann?
Gegen den zahnlosen Pragmatismus der Bundesregierung mit ihren »Konjunkturpäckchen« und ihrem zähen Gezänk um »Steuersenkung – pro oder contra« wird die Linkspartei Visionen einer neu konstituierten Einheit von Staat und freiem, also bürgerlichem Individuum entwerfen, die nicht etwa die neue Barbarei ankündigen (wo doch die alte noch nicht überwunden ist), aber bereits die Drohung gegenüber allen Elementen beinhalten, die noch etwas anderes wollen. Wenn die Linkspartei in Zukunft nicht nur potenzielle Mehrheitsbeschafferin der SPD sein wird, sondern eine annähernd gleich starke Kraft wie die sozialdemokratische Partei mit gut über zehn Prozent auch im Westen, dann wird die spirituelle Betreuung der niederen Stände ganz auf sie übergehen.
Aufgabe von Gesellschaftskritikern kann es daher nicht sein, das ideologische Inventar der bürgerlichen Gesellschaft gegeneinander abzuwiegen, denn genau dadurch reproduziert es sich und verschwindet schließlich hinter den Spiegelfechtereien. Werden dem Kapitalismus gute und schlechte Seiten zuerkannt, sollte man sich nicht wundern, wenn immer weniger von ihm die Rede sein wird.