Tanz der Obamas

Day One

Die Vereidigung des neuen Präsidenten, die Bälle und vieles mehr: Unser Reporter verlor sich in Washington in der Menschen­menge, hielt sich auch ohne Schneehose warm und entdeckte seltsame Erdhügel am Capitol.

17. Januar
Es gibt verschiedene Grüne Bälle. Der heutige ist, leider, nicht der Grüne Ball, aber ich beschwere mich nicht. Irgendein berühmter Musiker, von dem ich nie gehört habe, wird dort sein, und durch die Erwähnung der Jungle World spare ich die 500 Dollar für den Eintritt. Lege den Smoking an (wie funktionieren eigentlich diese verrückten Knöpfe?); fahre nach Washington. Es stellt sich heraus, dass die Presse auf die Lobby und den Balkon beschränkt ist. Es ist nicht viel los, aber ein paar medienhungrige Ballbesucher laufen herum und sehen so aus, als ob sie fotografiert werden möchten, also fotografiere ich sie, schleiche mich dann hinein. Manchmal ist das Gras auf der anderen Seite wirklich grüner – das Licht ist es hier auf jeden Fall. Und das Essen ist kostenlos, aber ich mache mir Sorgen, dass man mich erwischt, also versuche ich, mich so unauffällig wie möglich zu verhalten, bis ich sehe, dass die anderen Journalisten es anscheinend auch hineingeschafft haben. Hm. Verschiedene Preise werden verliehen – an einen Wissenschaftler, einen Musiker und einen Surfer.

18. Januar
Heute ist der Tag des großen Konzerts am Lincoln Memorial, aber wir sind auf einem Familienausflug, und als wir endlich nach Rockville kommen, um Tante Fay zu besuchen, und nach Washington, um Presseausweise an verschiedenen Ecken der Stadt abzuholen (durch Metalldetektoren hindurch, lange unterirdische Tunnel entlang etc.), ist das Konzert fast vorbei. Bleibe im Verkehr stecken, fahre dann hinaus nach Reston, um Leni, Charles und JT zu besuchen. Sehe mir das Konzert im Fernsehen an.

19. Januar
Logge mich bei Craigslist ein; suche nach Tickets – Ball, Parade, Vereidigungszeremonie. Ich habe bloß ein lila Ticket, und es wäre schon toll, etwas in Gelb oder Orange zu finden. Oder vielleicht könnte ich Vika und Ethan (meine Frau und meinen Sohn) in Silber unterbringen? Dann wiederum könnte ich mein lila Ticket vielleicht für 1 000 Dollar verkaufen und die Zeremonie einfach von der Mall aus beobachten, wo die normalen Leute stehen. (Notiz für mich: falls ich tatsächlich verkaufe, versuchen, nicht darüber zu schreiben, weil doch auf der Rückseite des Tickets in fetten Großbuchstaben zu lesen ist: »nicht zum Verkauf«.) Einige Leute bieten Tauschmöglichkeiten für die begehrten Tickets an: Parkplätze, einen Aufenthalt in einem 5-Sterne-Ferienhaus in Thailand, eine Zahnbehandlung. Aber mit Zähnen kenne ich mich nicht so gut aus und ein Haus unter Schnee im Wald (sogar mit Parkplatz) ist für den Craigslist-Benutzer nicht besonders reizvoll. Ich sehe ein paar Hausarbeiten durch, mache mich dann auf den Weg zu Robyn und Ameen.
Martin-Luther-King-Tag ist, ich weiß, ein Tag der Einkehr. Das herauszufinden, ist leicht – man muss nur auf Obamas Homepage surfen und sich bei der Lotterie für einen Platz bei einer Tour durch das Weiße Haus eintragen. Auch wenn man nicht einer der glücklichen Gewinner ist: Man wird auf eine Seite geleitet, auf der man sich dafür eintragen kann, Pakete für unsere Soldaten und Soldatinnen zu packen (wenn man schon mal in der Stimmung ist, sich irgendwo einzutragen).
Heute ist außerdem, für glückliche Besitzer von Tickets, der Tag des Kinderballs (nicht zu verwechseln mit dem Kidsball oder dem Jugendball). Und es gibt den Grünen Ball (den echten, mit Al Gore). Aber Robyn macht Lasagne, und ich will ein bisschen Schlaf nachholen.
Fahre schnell zur Mall, um die historische Stimmung dort zu erleben (#6), dann gleich wieder zurück. Die Lasagne ist lecker, aber Craigslist ruft, und statt zu schlafen, bleibe ich bis 2 Uhr morgens auf, jage verschiedenen Möglichkeiten nach, krieche dann ins Bett.

20. Januar
Heute ist der Tag. Kein Warten mehr. Ethan ist in fünf Schichten gewickelt, einschließlich Jacke und Schneehose; er geht mit Robyn und Vika auf die Mall. Ich wickle mich auch ein, verzichte aber auf eine Schneehose.
Fahre mit einem Taxi so weit wie möglich an die Sicherheitsabsperrungen heran, gehe dann ein paar Blocks zu Fuß. Bleibe in einer Menschenmenge stecken, gehe noch ein paar Blocks. Es gibt keine Polizisten und keine Hinweisschilder. Niemand scheint zu wissen, was zu tun ist oder wohin es geht, aber irgendwie erreiche ich den lilafarbenen Eingang, nur um herauszufinden, dass das hier – zumindest sagen das die Leute – die Schlange für die gelben Tickets ist. Schlurfe mit einer großen Menschenmenge herum. Gelegentlich ruft jemand: »Besitzer lilafarbener Tickets, bitte melden!« Dann ruft jemand anderes nach Besitzern gelber Tickets, und viele gelbe Tickets zeigen sich. Zuerst folge ich der Menge in die eine Richtung, bis jemand auf die Schultern von jemand anders klettert und entdeckt, dass in der Richtung, in die wir alle zu gehen versuchen, kein Eingang ist. Eine Stunde später habe ich die ungefähr 30 Meter zurückverfolgt und befinde mich wieder da, wo ich gestartet bin. Die Rufe: »Li-la, li-la« werden lauter, es klingt wie im Stadion. Ich gehöre zur lila-Gruppe aber ich finde das alles merkwürdig, also bleibe ich still. Gerüchtehalber sind wir nur fünf oder zehn Meter vom Eingang entfernt, aber die Zeremonie beginnt in zwei Stunden, und es ist nicht sicher, dass wir es schaffen werden. Schiebe mich aus dem einen Menschenknäuel hinaus und in ein anderes hinein; schließlich höre ich einen Ticketkontrolleur rufen: »Tickets hochhalten, jeder muss sein eigenes Ticket zeigen!«
Halte mein Ticket hoch (#13); schiebe mich vorwärts, so gut es geht; finde mich an einem historischen Tag an einem historischen Ort wieder. Man hatte uns gewarnt, dass Rucksäcke nicht erlaubt sein würden, und tatsächlich: Während ruck­sackgroße Schultertaschen in Ordnung zu sein scheinen, wird mein Rucksack beschlagnahmt. (Bevorzugen Terroristen Rucksäcke?) Glücklicherweise habe ich aber vorausgeplant. Verstaue Kameras in Plastiktüten, ebenso den Buntstift, den Ethan von Southwest Airlines bekommen hat, begebe mich dann in den mir zugeteilten Bereich (zweckmäßig eingezäunt, damit ich nicht etwa auf die Idee komme, mich bei Gelb einzuschleichen).
Nach all dem Aufwand sehe ich dies in der begehrten lilafarbenen Zone: Menschen, die in der Kälte herumstehen (#1, 5), und seltsame handgearbeitete grabmalartige Strukturen (#11), die, wie sich herausstellt, ihren glücklichen Besitzern einen besseren Blick gewähren sollen.
Irgendwie wird es 11.30 Uhr, dann 11.45 Uhr. Es gibt einführende Ansprachen: ein ehemaliger Vorsitzender des Repräsentantenhauses, ehemalige Präsidenten, eine zukünftige Außenministerin usw. Es gibt ein Gebet und dann einen berühmten Cellisten, der schöne Musik spielt.
Ich will den Moment genießen. Ich will jeden fotografieren. Ich will jemanden finden, der so aussieht, als würde er oder sie genau mittags weinen, wenn Obama vereidigt wird. Dann wird es Mittag. Ich weine.
Ich fotografiere eine alte Frau, die mich an meine Mutter erinnert, und dann eine andere, die mich weniger an sie erinnert (#3). Zuerst ist sie ein bisschen argwöhnisch, aber dann drückt sie meine Hand in einer Art Ersatzumarmung, so wie meine deutsche Oma es immer tat. Ich weine wieder. Obama hält eine Rede, die wichtig klingt, aber sie dringt kaum durch.
Die Leute gehen, während das Gedicht verlesen wird. Ich würde es gerne hören – vielleicht mehr noch, als ich Obama hören wollte. Aber im Publikum ist es zu laut. Gehe den Hügel hinauf, bis ich fast unterhalb der historischen Stelle stehe.
Finde eine Schachtel mit lecker aussehendem Mittagessen auf dem Boden, schnappe mir einen Stuhl in Reichweite des »Wenn Sie fragen müssen, was es kostet, können Sie es sich nicht leisten«-Bereichs und lasse mich zur Erholung nieder. Die Leute werden weniger, und schließlich bin ich fast allein. Das Licht ist schön. (#14)
Später versuche ich zu gehen, aber die Parade fängt gerade an und blockiert den Weg. Ein LKW mit einer offenen Ladefläche voller Journalisten fährt vorbei, und dann, hinter dickem, präsidentschaftlichem Glas, die Obama-Familie. Barack muss auf der anderen Seite sitzen, aber Michelle winkt und die Kinder tun es ihr nach. Sie sehen aus wie Kinder, die etwas Unglaubliches erleben, und das Publikum wirkt auch so (#8).
Sammle Souvenirs, die vielleicht von berühmten Händen und Füßen berührt wurden (#9, 12), gehe dann zurück zu Robyn. Es ist 8 Uhr abends, und ich bin wirklich reif fürs Bett, aber ich öffne meinen Computer und sehe ein letztes Mal bei Craigslist nach. Ich finde jemanden in der Gegend, der ein Ticket für einen der offiziellen Bälle hat. Dieser hat bereits angefangen, aber der Verkäufer will lediglich seine 150 Dollar zurück, und in den paar Minuten, bevor ich ihn anrufe, hat er bereits mehrere Angebote bekommen. Aber weil ich nur ein paar Straßen entfernt bin, verkauft er es mir. Hole es schnell ab, komme zurück und ziehe mich um, heraus aus dem viellagigen kälteresistenten Outfit und ­hi­nein in den Leihsmoking; begebe mich dann zum Ball.
Gehe eine Meile innerhalb eines großen, sicheren Kreises, zeige mein Ticket (#7) viermal, passiere dann die Sicherheitschecks. Ich trage wieder einen Rucksack, größer als der von heute morgen, und ich werde auf dem Ball viel näher an Obama herankommen als bei der Vereidigung. Ich darf den Rucksack mit hineinnehmen, was mir die Entwürdigung erspart, mit Plastiktüten einen Amtseinführungsball besuchen zu müssen.
Mache Fotos von tanzenden Kindern. Eine Mutter möchte einen Abzug, und als ich ihr erzähle, dass ich für eine deutsche Zeitung arbeite, sagt sie, als hätte sie entdeckt, dass wir in der gleichen Stadt wohnen: »Oh, meine Eltern waren Überleben­de des Holocaust, und beide kamen aus Deutschland.« Wir tauschen Visitenkarten aus.
Nur wenige der Ballgäste scheinen am Tanzen interessiert zu sein. Die meisten drängeln sich um die Bühne, auf der die Obamas tanzen werden. Ich stehe neben einem Mann, der bemerkt, dass ich den Platz vor ihm im Auge habe. Er teilt mir in klaren Worten mit, dass er hier seit drei Stunden steht. Ich könne neben ihm stehen, wenn ich möchte, aber ich solle lieber nicht versuchen, vor ihm zu stehen. Um sicherzugehen, teilt er mir mit, dass er es ernst meint. Ich glaube ihm und beschließe, trotz seines großzügigen Angebots nicht neben ihm stehen zu bleiben. Die Obamas kommen. Es gibt eine kurze Rede und dann einen Tanz. Das Paar wirkt auf mich, als wäre es auf seinem High-School-Abschlussball, und die Leute sehen aus wie, nun, wie Obamas Kinder während der Parade (#4). Die Obamas gehen gleich wieder, und die Menschenmenge ist auf einmal viel kleiner geworden. Ich schnappe mir einen Kronkorken (#10) als Souvenir (historisch!) und fotografiere die Bühne, wo die Obamas vor kurzem tanzten (#2); gehe zur Garderobe und dann zurück zu Robyn.
Krieche ins Bett; falle gleich in einen tiefen Schlaf.

Aus dem Amerikanischen von Martin Schuster.
Der Foto- und Videokünstler David Reed arbeitet seit 1999 für die »Jungle World«. Zuletzt erschien von ihm »Morning in America 2: Real Change« über Barack Obamas Wahlsieg (»Jungle World« 46/08).