Der Fotoband von Gregory Crewdson: »Beneath The Roses«

American Gothic

Der Fotograf Gregory Crewdson inszeniert die Ruinen des Kapitalismus.

Vom Kino sind wir es gewohnt, belogen zu werden. »Film ist Lüge, 24 mal pro Sekunde«, erklärte Michael Haneke in Anlehnung an Godard. Der hatte einmal vor dem Hintergrund des Vietnam-Kriegs behauptet: »Film ist 24 mal die Wahrheit pro Sekunde, wie das Maschinengewehr des Vietkong, das 24 mal pro Sekunde schießt.« Von Godard stammt allerdings auch der Ausspruch: »Das ist kein Blut, das ist nur rote Farbe.« In diesem Punkt sind sich Regisseure und Publikum einig: Obwohl wir wissen, dass Kino Illusionen erzeugt und Wirklichkeit bestenfalls simuliert, stört uns das nicht im geringsten. Im Gegenteil, wenn sich Filmemacher zu sehr dem nähern, was wir als echt empfinden, zum Beispiel die Sex- und Onanie-Szenen in Larry Clarks »Ken Park« oder die White-Trash-WG in Lukas Moodyssons »A Hole In My Heart«, handeln sie sich schnell den Vorwurf des Voyeurismus und der Exploitation ein.
Ganz anders verhält es sich mit der Fotografie. Wir sind es nicht gewohnt, dass Fotos uns belügen. Nach wie vor gilt das Medium als verlässlich, das Dargestellte als wahr. Seit dem frühen 20. Jahrhundert hat sich zwar eine eigenständige Kunstfotografie herausgebildet, die das Inszenierte der Bilder offen zu Tage treten lässt, dennoch ist die Dokumentarfotografie bis heute der Maßstab im Umgang mit fotografierten Bildern geblieben. Wenn etwas nicht echt ist, wenn sich herausstellt, dass ein Bild nachträglich bearbeitet wurde, fühlen wir uns hintergangen. An keinem anderen Medium haftet so stark der Mythos der Authentizität. Daraus schlagen wiederum Fotografen wie Nan Goldin oder Terry Richardson ihr Kapital, die sich um einen radikalen Realismus bemühen: Die von ihnen fotografierten nackten Leiber wirken unverfälscht, kaschieren keine Schönheitsfehler. Das unterscheidet sie von Pornografie. Aber auch das ver­meintlich Unverfälschte ist inszeniert, denn es gibt nichts Echtes in einem Raum mit Kamera.
Die Situation lässt nicht zu, dass etwas passiert, was ohne Kamera ebenso passiert wäre. »Was die Natur der Photographie begründet«, schreibt Roland Barthes in »Die helle Kammer«, »ist die Pose. Dabei ist die reale Dauer dieser Pose nicht von Belang; selbst während einer Millionstel Sekunde hat es immer noch eine Pose gegeben (…).«
Im Wissen um die Pose versucht der amerikanische Fotograf Gregory Crewdson erst gar nicht, Inszeniertes zu kaschieren. Seine Bilder sind vielmehr penibel arrangiert, geben sich nicht mit der Millionstel Sekunde zufrieden, sondern benötigen einen tage-, manchmal wochenlangen Aufbau. Der 1962 in Brooklyn geborene Fotograf arbeitet wie ein Filmemacher, und zwar wie einer, dem ein hohes Budget zur Verfügung steht. Jedes seiner Fotos ist bis in den letzten Winkel hinein durchkomponiert, perfekt ausgeleuchtet und so stimmig arrangiert, dass jeder einzelne Grashalm wirkt, als sei er extra für das Foto an der jeweiligen Stelle platziert worden. Keine Frage, Crewdsons Fotos geben nicht die Wirklichkeit wieder. Dennoch betrügen sie uns nicht, sondern machen vielmehr deutlich, dass Fotografie immer Pose ist, die Wirklichkeit vorgaukelt oder doch zumindest interpretiert. Angesichts der entlarvend unechten Fotos von Crewdson hat man eher das Gefühl, von Künstlern wie Nan Goldin und Terry Richardson und deren vermeintlicher Unverfälschtheit betrogen zu werden.
Crewdsons Bilder entstehen nur selten in den amerikanischen Großstädten. Ihn zieht es an die Ränder, in die tristen, aber gepflegten Suburbs und an jene Orte, wo die letzten Häuser an Wälder, Wiesen, Seen oder Brachland grenzen. Es sind Orte, wie wir sie aus zahlreichen Filmen kennen. Seit mehr als zehn Jahren spielen fast alle amerikanischen Independent-Filme in einer solchen Peripherie, von »Gummo« bis »Ken Park«, von »Donnie Darko« bis »Welcome To The Dollhouse«. Neben dem profanen Umstand, dass Drehgenehmigungen dort viel günstiger sind als in Manhattan oder Chicago, hat die Verlagerung in die Vororte auch inhaltliche Gründe. Nirgendwo sonst als an diesen ruhigen, abgegrenzten Orten lässt sich das Idyll von Eigenheim und Kleinfamilie besser sezieren, nirgendwo sonst ist es einfacher, den bürgerlichen Lebensentwurf als beklemmende Vorhölle zu enttarnen.
Lange vor der Immobilienkrise waren diese Häuser im Independent-Film nicht mehr sicher, überall lauerten Abgründe. Vom schießwütigen Nazi-Nachbarn bis zum Vater, der seinen pubertierenden Sohn sexuell begehrt, von der schwangeren, literweise Whiskey trinkenden Mutter bis zum pädophilen Basketball-Coach – nahezu alle Suburb-Filme spielen mit dem gleichen Kontrast aus schmucker Fassade und manischer Hygiene, die sich früher oder später in Gewalt und sexuellen Obsessionen entlädt. Vom Prinzip her handelt es sich bei diesen Sozialdramen um Horrorfilme. Sie stehen in der Tradition von »Night Of The Living Dead« und »The Texas Chainsaw Massacre«, alleine, dass hier keine Zombies, kannibalistische Hinterwäldler oder andere Gefahren von außen mehr notwendig sind, sondern der Horror im Inneren der Kleinfamilie angekommen ist und dort wie eine Zeitbombe tickt. John Waters hat dies in seinem Film »Serial Mom« (1994) besonders schön herausgearbeitet: Aus reiner Langeweile wird eine smarte, stets lächelnde Hausfrau zur Serienmörderin. Ihre Fassade ist jedoch so perfekt, ihre Lebenseinstellung so positiv und ihre Rolle als Mutter so fürsorglich, dass niemand ihr die Morde zutraut und sie nach einem Gerichtsprozess einstimmig freigesprochen wird.
Auch Gregroy Crewdsons Fotos sind voller Horrorelemente, durchdrungen von American Gothic. Man hat das Gefühl, an jeder Ecke könne ein Killer wie Jason aus »Freitag der 13.« lauern, alleine, dass Crewsons Bilder keine sichtbare Gewalt zeigen, sondern stets nur die vage Andeutung einer Katastrophe. Alles befindet sich in einem rätselhaften Schwebezustand, der im Gegensatz zum Kino nie aufgelöst wird, da die Bilder ohne Vor- und Nachgeschichte bleiben. Auf einem seiner Fotos ist ein brennendes Haus zu sehen, um das Haus herum lagern Paletten, wuchert Gestrüpp, auch die am Haus entlang führenden Bahngleise sind bereits zugewachsen. Auf den Gleisen laufen Menschen, die meisten von ihnen interessieren sich nicht für den Brand. Ein Mann mit freiem Oberkörper ist zwar stehen geblieben und schaut sich das Feuer an, keiner der Beteiligten wirkt allerdings so, als wollte er die Feuerwehr rufen. Die Menschen auf Crewdsons Bildern haben sich mit der Katastrophe abgefunden. Das unterscheidet sie vom klassischen Horrorfilm: Niemand macht auch nur Anstalten, sich zu wehren, sein Leben zu retten.
Mit »Beneath the Roses. Werke 2003 – 2007« ist nun ein Fotoband erschienen, der die Arbeiten von Crewdson in angemessenem Format wiedergibt. Mit einem Umfang von 41,6 mal 30 cm ist das mit dem deutschen Fotobuchpreis 2009 ausgezeichnete Buch kaum mehr als Coffeetable-Schmuckstück zu gebrauchen und viel zu sperrig, um in einem Bücherregal Platz zu finden. Aber nur so entfalten Crewdsons Panoramen mitsamt ihren Details die volle Wirkung, die nicht zuletzt darin besteht, uns zu zeigen, wie verloren der Einzelne in seiner Umgebung ist.
Der Schriftsteller Russel Banks versucht, ­Crewdsons Inszenierungen in einem einleitenden Essay zu deuten, gerät aber schnell ins Straucheln, weil Crewdsons Andeutung von Horror keine Auflösung zulässt, die sich verbalisieren ließe. »Es sind Anti-Narrationen«, stellt Banks fest. »Anfang, Mitte und Ende liegen außerhalb des Bildausschnitts. Die Bilder deuten sie nur an, enthalten oder verbergen sie uns aber nicht. Und wie in einem Traum oder Alptraum, wie in der Psychoanalyse (…) ist kein Detail bedeutungslos und jedes Detail gleich wichtig.«
Das alles klingt sehr irrational. Crewdson spielt tatsächlich mit dem Irrationalen, doch gleichzeitig haben seine Bilder eine aufkläre­rische Wirkung, die mit den besseren Horror­filmen vergleichbar ist: Sie kehren das Verdrängte nach außen, machen es sichtbar. Auf einem Bild, entstanden in der Abenddämmerung auf dem Parkplatz vor einem hell beleuchteten Supermarkt, wirken die Menschen tatsächlich wie Zombies, nicht aggressiv oder bedrohlich, aber teilnahmslos, leer, ferngesteuert. Der klassisch marxistische Begriff der Entfremdung kommt einem in den Sinn. Crewdson lässt jedoch die genaue Ursache für eine solche Entfremdung offen. Bloße Kapitalismuskritik will hier nicht greifen, zumal man bei vielen seiner Bilder das Gefühl hat, dass sie gar nicht mehr im Kapitalismus spielen, sondern in einer Zeit danach. Die Wohnungen sind vermüllt, die Straßen fast leer, die Bahngleise sind zugewachsen und werden schon lange von keinem Zug mehr befahren. Reste der Industrialisierung wirken wie Ruinen. Die Natur beginnt sich bereits wieder dieser Orte zu bemächtigen, doch sie wirkt weder idyllisch noch romantisch. Abermals kommen einem Spielfilme in den Sinn, Terry Gilliams »12 Monkeys« zum Beispiel oder Steven Spielbergs »Unheimliche Begegnung der dritten Art«. Mit dem Unterschied jedoch, dass die Menschen in den Filmen wenigstens noch kommunizieren, während sie auf Crewdsons Bildern allesamt verstummt sind. Es gibt keine Dialoge, kein Miteinander. Und dies nicht, weil das Medium der Fotografie nun einmal sprachlos ist, sondern weil die Menschen einander schlichtweg ausweichen, ihre Blicke voneinander abwenden.
Im Kataloganhang ist anhand zahlreicher Aufnahmen dokumentiert, wie Crewdson seine Fotos aufnimmt, mit Kamerakränen, Scheinwerfern und genauen Regieanweisungen. Natürlich lügen solche Bilder, aber genau dank dieser Lüge geben sie einen Einblick in das Morbide, das vom Materiellen nur ungenügend verdrängt werden kann. Die Bilder haben etwas von der ökonomischen Krise vorweggenommen, die in den USA inzwischen noch gravierender als in Europa angekommen ist. Umso paradoxer, dass man diese apokalyptischen Szenarien durchaus lustvoll, mit ästhetischer Begeisterung betrachten kann. Eben deshalb, weil sie die Zerstörung nicht verdrängen, sondern auf die Notwendigkeit hinweisen, dass sich etwas ändern muss.

Gregory Crewdson: Beneath The Roses. Werke 2003 – 2007. Hatje-Cantz-Verlag. Ostfildern 2008, 140 Seiten, 58 Euro