Die soziale Bewegung in Oaxaca lebt noch

Der unsichtbare Aufstand

Nach der Niederschlagung der sozialen Revolte in Oaxaca war von der Bewegung wenig zu hören. Nun gibt es erneut Versammlungen.

»Was ist die beste Möglichkeit, eine soziale Bewegung fertig zu machen?« fragt Rubén Valencia ins Publikum. »Wahlen«, sagt er dann und wartet auf Gelächter. Aber die versammelte Menge im Kulturzentrum Escuelita Emiliano Zapata in Mexiko-Stadt will sich nicht mit den Bonmots der drei Referenten von der Versammlung der Bevölkerung Oaxacas (Appo) aufhalten, die gerade gemeinsam das erste Buch (»Cuando hasta las piedras se levantan«) über die sozialen Aufstände im südlichen Mexiko im Jahr 2006 aus der Sicht unmittelbar Beteiligter geschrieben haben.
Die Versammelten haben viele Fragen. »Was ist aus der Appo geworden?« will ein flaumbärtiger Junge aus der letzten Reihe wissen. »Wenn es in Oaxaca noch eine soziale Bewegung gibt, wo ist sie dann?«

Hier im Barrio Santo Domingo, das vor mehr als drei Jahrzehnten aus einer organisierten Landnahme hervorging, verfolgte man im Jahr 2006 aufmerksam das Aufbegehren im Bundesstaat Oaxaca. Man erzählte sich von den Übergriffen der örtlichen Polizei auf das Protestcamp der abtrünnigen Lehrergewerkschaft Sección 22 und sah im Fernsehen die darauf folgenden wütenden Großdemonstrationen. Als kurz vor Jahresende die polizeilichen und paramilitärischen Helfer von Gouverneur Ulises Ruiz noch immer nicht die Kontrolle zurückgewonnen hatten und die Bundespolizei die Stadt Oaxaca stürmte, standen in Santo Domingo die Menschen fassungslos auf der Straße vor den Lautsprechern und hörten zu, bis auch das letzte Radio in der besetzten Universität abgeschaltet wurde.
Danach herrschte Stille, erst Ende Februar kamen wieder 702 Vertreter aus den Regionen Oaxacas zusammen, um über die Zukunft der Bewe­gung zu diskutieren. Doch die nach dem Treffen veröffentlichte Erklärung ist kaum mehr als ein Lebenszeichen. »Die Appo leidet noch immer unter der Verfolgung sozialer Aktivisten, und ja, wir waren schlichtweg unfähig, uns früher wieder zu treffen«, erklärt der Referent David Venegas. Er kam erst im März vergangenen Jahres nach elf Monaten Haft frei. Auf Rubén verübten mutmaßliche Paramilitärs im Januar einen Anschlag. »Angst, Misstrauen, Repression bestimmen die soziale Realität Oaxacas heute genauso stark wie widerständiges Talent und Vorstellungskraft«, pflichtet Gustavo Esteva bei, bevor ihn Rubén unterbricht: »Diese Erklärung ist sicher kein großer Schritt vorwärts, aber zumindest auch keiner zurück.«

Ein Schritt zurück wäre es nach Ansicht der Referenten gewesen, der auf dem Kongress erhobenen Forderung zu folgen und eine Appo-Liste für die Gouverneurswahlen im nächsten Jahr aufzustellen. »Doch das ist nicht nur für unmittelbare Unterstützer der Appo keine Option mehr«, stellt Venegas fest. »Wer den Staat einmal nackt ge­sehen hat, der wird sich weiter radikalisieren.« Bei den vorigen lokalen Wahlen 2007 lag die Beteiligung knapp über zehn Prozent. Ein Grund zum Jubeln sei das nicht, denn »die politische Klasse in Mexiko wird ihre Privilegien wenn nötig auch mit noch mehr Gewalt verteidigen.«
Was die Appo heute ausmache, seien zum größten Teil unsichtbare Prozesse, da sind sich die Referenten einig. So gebe es inzwischen Dutzende unabhängige Radioprojekte, in der Lehrergewerkschaft seien zum ersten Mal Kandidaten in den Vorstand gewählt worden, die bereit seien, aus dem angestammten Bürokratismus auszubrechen, und auf den Häuserdächern Oaxacas seien die Gemeinschaftsküchen wichtige Treffpun­k­te für die Basis. »Ohnehin ist bisher immer versucht worden, die Appo von oben aus zu verstehen«, fährt Venegas fort. »Aber die Appo wird nicht von 700 Delegierten gelenkt. Als wir damals die Barrikaden gebaut haben, wurde das, wenn überhaupt, im Nachhinein abgenickt.«

Doch der Rückblick fällt auch selbstkritisch aus. »Wir waren euphorisch«, meint Esteva. »Als uns die Repression traf, waren wir nicht wirklich darauf vorbereitet, es fehlten uns auch Verbündete außerhalb Oaxacas.« Solche Verbündeten zu finden, sei nach wie vor ein zentrales Anliegen, auch um die über 20 politischen Gefangenen freizubekommen und, im Fall einer »gekauften Wiederwahl« von Gouverneur Ruiz, zumindest dessen »tatsächlichen Amtsantritt« verhindern zu können. »Dabei werden auch die indigenen Gemeinden Oaxacas eine wichtige Rolle spielen«, sagt Venegas. »Sie sind endlich eine sichtbare politische Kraft geworden. Gewohnheitsrecht heißt für sie inzwischen mehr, als alten Gewohnheiten zu folgen, nämlich ihre eigenen basisdemokratischen Prinzipien wie zum Beispiel Gemein­deversammlungen neu zu entdecken und weiterhin in die Appo einzubringen.«
Es sind auch wieder mehr Graffiti im Zentrum von Oaxaca-Stadt zu sehen. Doch statt Luxushotels oder besetzte Häuser schmücken sie nun vor allem die Wände dreier sozialer Künstlerhäuser im Stadtzentrum. Für die Miete dieser Treffpunkte werden monatlich Spenden gesammelt. »Die Polizei war anfangs etwas verwirrt«, erzählt Venegas. »Aber wer will uns schon verbieten, unsere eigenen Fassaden zu besprühen.«