Der Machtkampf in Pakistan

Rückzug im Morgengrauen

Überraschend erfüllte der pakistanische Präsident Zardari die Hauptforderung der Demokratiebewegung. Doch die Niederlage seiner Regierung ist auch ein Sieg der religiösen Rechten.

Den Anfang machte Superintendent Athar Waheed. »Ich kann nicht irgendwen verhaften«, sagte der zweithöchste Polizist des Distrikts Guj­ranwala am Mittwoch der vergangenen Woche. »Diese Haftbefehle sind illegal. Die Polizei ist kein Spielzeug, das Politiker gegeneinander benutzen können.« Bis zum Sonntag folgten zahlreiche andere hochrangige Polizeioffiziere, Juristen und Verwaltungsbeamte seinem Beispiel, unter ihnen der Vizegeneralstaatsanwalt und der Generalinspekteur der Polizei der Provinz Punjab. Sie weigerten sich, Befehle auszuführen, oder traten zurück.
Deshalb musste Premierminister Yousuf Raza Gilani am Montagmorgen früh aufstehen. Bereits um 5.45 Uhr verkündete er im staatlichen Fernsehen, die Regierung werde die etwa 60 Richter wieder einsetzen, die der Militärherrscher Pervez Musharraf im November 2007 entlassen hatte, weil sie ihm als politisch unzuverlässig erschienen. Überdies sollen die mehr als 1 000 Oppositionellen, die in der Woche zuvor verhaftet worden waren, freigelassen werden.
Am Montag sollte in der Hauptstadt Islamabad die Abschlusskundgebung des »Langen Marsches« stattfinden, zu dem die Opposition aufgerufen hatte. Ende Februar hatte das Oberste Gericht dem ehemaligen Premierminister Nawaz Sharif und dessen Bruder Shahbaz Sharif die Ausübung öffentlicher Ämter untersagt. Die von Shahbaz Sharif geführte Regierung der Provinz Punjab muss­te zurücktreten, es kam zu einem Machtkampf zwischen den beiden größten Parteien, der Pakistan Muslim League (PML-N) Sharifs und der Pakistan People’s Party (PPP) von Präsident Asif Ali Zardari. In den Provinzen Punjab und Sindh wurden alle politischen Versammlungen verboten.

Nachdem die Regierung alles getan hatte, um eine Eskalation herbeizuführen, erfüllte sie die Haupt­forderungen der Protestbewegung und vermied im letzten Moment einen Showdown, bei dem es womöglich an zugriffswilligen Uniformierten gefehlt hätte. Der Grund für den plötzlichen Sinneswandel war offenbar vor allem die Befürchtung, ansonsten die Kontrolle über den Staatsapparat zu verlieren. Überdies hatten sich auch hohe Politiker der PPP von Zardari distanziert.
Diese Wendung erscheint zunächst erfreulich. Die Wiedereinsetzung der entlassenen Richter war die wichtigste Forderung der Demokratiebewegung. Zur Schaffung rechtsstaatlicher Verhältnisse wäre weitaus mehr erforderlich, nicht zuletzt eine Säkularisierung der Gesetze und die Auflösung der Sharia-Gerichte. Doch die Rück­nahme der willkürlichen Entlassung ist ein erster Schritt. Überdies gilt der höchste Richter Iftik­har Chaudhry als unabhängig, er verärgerte die Islamisten, weil er Regelungen der Sharia in Frage stellte, und brachte den Sicherheitsapparat gegen sich auf, weil er nach Menschen fahndete, die im Polizei- oder Militärgewahrsam »verschwunden« sind.
Doch in der derzeitigen politischen Konstellation ist die Niederlage der Regierung auch ein Sieg der religiösen Rechten. Der »Lange Marsch« war ursprünglich eine Initiative der Demokratiebewegung, beteiligt waren aber auch islamistische Parteien wie die Jamiat-e-Islami, und die Führung übernahm in der Schlussphase faktisch die PMN-L. Sharif ist eher ein Rechtskonservativer als ein Islamist, doch wollte er im Jahr 1998 der Sharia vollständige Geltung verschaffen und schlug ein Gesetz vor, das die Regierung verpflichtet hätte, die Pakistanis zum fünfmaligen täglichen Gebet zu zwingen.

Zudem können viele Pakistanis nicht recht glauben, dass urplötzlich bei so vielen Beamten ein demokratisches Bewusstsein erwacht sein soll, nachdem die Betreffenden unzählige andere Gelegenheiten, sich für den Rechtsstaat einzusetzen, verstreichen ließen. Möglicherweise handelte es sich zumindest teilweise um einen stillen Putsch, mit dem Beamte eine ungeliebte Regierung schwächen oder stürzen wollen.
Auch die PPP ist keine säkulare Partei. Sie koalierte mit den Islamisten und repräsentiert reaktionäre Großgrundbesitzer und Clanführer. Zwei Politiker der Partei Zardaris sollten sich eigentlich wegen der Ermordung von fünf Frauen verantworten müssen, die sich einer Zwangsheirat widersetzt hatten. Vor sieben Monaten dokumentierte die Asian Human Rights Commission den Fall, geschehen ist seitdem nichts.
Der Konflikt zwischen den beiden großen Parteien ist vor allem ein Machtkampf zwischen verschiedenen Fraktionen der Oligarchie, die über Klientelnetze ihre Anhänger mobilisieren, vom Straßenhändler bis zum Staatsanwalt. Es gibt zwar keinen eindeutigen Beweis dafür, dass Zardari Einfluss auf das Oberste Gericht nahm. Dessen Ent­scheidung disqualifizierte jedoch seinen wichtigsten Konkurrenten und verschaffte ihm die Kon­trolle über den nun von einem PPP-Gouverneur regierten Punjab, die am stärksten industrialisierte und bevölkerungsreichste Provinz Pakistans. Einen solchen Affront konnte die PMN-L nicht hin­nehmen.
Gänzlich unberechtigt war das Urteil nicht. Shahbaz Sharif wurde seines Amtes wegen Kreditbetrugs enthoben, ein nach Maßstäben der pakistanischen Politik allerdings eher geringfügiges Vergehen. Die Beteiligung hoher Politiker an Gewaltverbrechen ist nicht selten. Zardari, der wegen seiner Anteilnahme an den Geschäften anderer »Mister Ten Percent« genannt wird, ließ auch einmal einem Schuldner eine Bombe mit Fernzündung umschnallen, um dessen Zahlungs­moral zu heben.
Nawaz Sharif, damals Premierminister, untersagte im Oktober 1999 einem Zivilflugzeug die Landung in Pakistan, weil neben 200 Passagieren auch Generalstabschef Pervez Musharraf an Bord war, den er nicht mehr ins Land lassen wollte. Sharif ließ die Landebahn in Karachi mit Lastwagen blockieren, obwohl der Treibstoff knapp wurde. Das Flugzeug konnte auf einem an­deren pakistanischen Flughafen sicher landen, das Militär nutzte die Gelegenheit für einen Putsch. Sharif wurde wegen »Entführung« vor einem der »antiterroristischen« Sondergerichte verurteilt, die unter seiner Herrschaft eingerichtet worden waren.
Es gilt als sicher, dass Chaudhry eine Amnestie­vereinbarung, die Zardari mit Musharraf ausgehandelt hat, widerrufen wird. Damit wäre wohl auch die Präsidentschaftswahl ungültig, denn die Kandidatur Zardaris war nur durch diese Vereinbarung möglich. Sharif muss jedoch damit rechnen, dass Chaudhry das Urteil gegen ihn und seinen Bruder bestätigt. Unklar ist, ob die Chance, sich als Anführer der Demokratiebewegung zu profilieren, so verlockend war, dass Sharif trotz der Risiken nicht widerstehen konnte, oder ob der durchtriebene Politiker bereits eine Idee hat, wie er die Richter kaltstellen kann, wenn sie ihm gefährlich werden.

Die Militärführung beschränkte sich darauf, die Verhandlungen zwischen den Parteispitzen zu überwachen. Seit Jahrzehnten folgt die pakistanische Politik einem einfachen Muster. Hat eine zivile Regierung sich hinreichend diskreditiert, übernimmt das Militär die Macht. Ist der Militärherrscher allzu unbeliebt geworden, ziehen sich die Offiziere zurück, überwachen jedoch weiterhin die Tätigkeit der Regierung. Präsident Zardari hat sich schneller diskreditiert, als selbst die meisten seiner Feinde vermutet hätten. Doch die Erinnerung an Musharraf, dessen Rücktritt im August vergangenen Jahres mit Freudentänzen auf den Straßen gefeiert wurde, ist wohl noch zu frisch, als dass die Generäle sofort wieder einen der ihren an die Macht bringen wollten.