Über Blixa Bargelds »Europa kreuzweise. Eine Litanei«

Die kalte Dusche von Westberlin, der Hammer der Veränderung und die Poesie der Krabben

Blixa Bargeld hat ein Tourneetagebuch geschrieben, das Cord Riechelmann ins Schwärmen bringt

Es kann sehr schön sein, eine Stimme, die man vor ein paar Jahr­zehnten mal sehr gemocht hat, nach vielen Jahren wieder zu hören. Detlef Kuhlbrodt hat diese Erfahrung gerade in seinem Blog anlässlich eines Konzerts von Marc Almond in der Berliner Passions­kirche beschrieben. Es sei interessant, meint Kuhlbrodt, »daran erinnert zu werden, dass man einer Generation angehört, in der man auch als Heterosexueller nur schwule Sänger gelten ließ, während die Frauen den Nick Cave der ›Murder Tales‹ verehrten«.
Blixa Bargeld liegt irgendwie zwischen Almond und Cave. Für Rainald Goetz war Bargeld einem im Mai 1984 in der Spex erschienenen Text zufolge »ein großer, imposanter muskulös hagerer Mensch mit einem wunderschön übertrieben drogensüchtigen Gesicht, Augen für die Ewigkeit und einer dämonischen Stimme, die er sich nur durch einen Pakt mit dem Teufel erkauft ha­ben kann«.
Eineinhalb Jahre später, im November 1985, sieht man Bargeld mit zerzausten Haaren doppelgesichtig in den Spiegel schauend auf dem Cover der Spex und darunter die Zeilen: »Einstür­zende Neubauten: Ist noch Leben im Underground?« Im Heft selbst bekennt dann Clara Drechs­ler, dass sie mittlerweile sogar zu faul ge­worden sei, »den krankesten Act des Landes abscheulich zu finden«.
Bargeld, der heute verheiratet ist, wurde damals also als nicht-schwuler Sänger vor allem von nicht-schwulen Jungs verehrt, zu denen auch ich mich zähle. Und Clara Drechsler sprach mit ihrer deutlichen Ablehnung Bargelds nicht nur vielen Frauen aus den Kunst-, Theorie- und Modeszenen von Köln über Frankfurt bis München aus dem Herzen, sie wusste ganz West­deutschland auf ihrer Seite, wenn es darum ging, Westberlin und seine Einwohner merkwürdig und krank zu finden.
Das ist die reale Gefahr an der durch eine Stimme wachgerufenen Erinnerung: Man kehrt physisch in eine Vergangenheit zurück, die es so gar nicht mehr gibt, und steht ziemlich däm­lich mit seinen alten Reflexen in einer Welt, die damit nicht die Bohne mehr was anfangen kann. Um da wieder rauszukommen, empfiehlt Kuhlbrodt eine kalte Dusche, aber kalt zu duschen, das ist für mich schon wieder Vergangen­heit, früher, Westberlin.
Er habe in Westberlin ein schönes Gartenhaus gehabt, hat Blixa Bargeld einmal gesagt. Was ein Gartenhaus ist, wusste in den Achtzigern außerhalb Westberlins natürlich auch kein Mensch. »Das Vorderhaus war weggebombt, das Hinterhaus war weggebombt, nur der Seiten­flügel stand noch. Rudimentäre sanitäre Anlagen. Morgens habe ich meine vier oder fünf Fla­schen Wasser aufs Dach gelegt, um es von der Sonne erwärmen zu lassen, um irgendwann du­schen zu können«, schreibt Bargeld. Irgendwann in dieser Zeit war es auch, als ich der Stimme Bargelds verfiel, aber nicht der des Sängers, sondern der des Erzählers Bargeld. Sehr früh morgens saß er als Barmann des »Risiko«, der damals düstersten Nachtkneipe an den Yorckbrücken, auf dem Tresen. Seine unendlich langen dünnen Beine steckten in einer zusammengetackerten Plastik-Lederhose, an den Füßen, die auf komplizierte Art lässig auf der Spüle lagerten, trug er grauschwarze Gummistiefel. Bargeld erzählte gerne die Geschichte vom Ende seiner Karriere als Nachwuchs-Hoffnungs-Schwimmstar in irgendeinem Berliner Schwimmverein, wo er nicht rechtzeitig zum Training erschienen war. Während er erzählte, trank er irgendwelche Wodkamischungen, und nachher wurden dann gleich nebenan in »Leo’s Futterkrippe«, Imbiss und Bier­kneipe und damals Berliner Avantgarde-Treffpunkt, Pommes rotweiß gegessen.
Der Sound, der Tonfall, in dem Bargeld von sei­ner geplatzten Schwimmerkarriere erzählte, ist für mich bis heute mit einem bestimmten Witz verbunden, wie ihn nur heterosexuelle Jungs in Westberlin kultiviert hatten. Ein Witz, der mir bis heute unglaublich gute Laune macht, was in den Achtzigern einigermaßen verpönt war. Das Gute daran war aber, dass ich in Bargeld nicht irgendeinen Finstermann sah, sondern einen Jungen, dem auf seinem Weg, auf dem er ein ernster Weltzerstörer werden wollte, andauernd sein Westberliner Enklavenwitz in die Quere kam, den außerhalb der kleinen Stadt niemand verstand. Songtitel wie »Tanz debil« oder »Seele brennt« mit den Folgezeilen »Ich bin die umstürzlerische Liebe/der Gegensex/jeder Tag kostet mich Wunden« trugen die Verletztheit der nicht verstandenen Existenzform in die weite Welt, und – das ist das Schöne – sie tun es noch immer, auch wenn Bargeld mittlerweile in San Francisco, Peking und Berlin lebt.
»Europa kreuzweise. Eine Litanei« heißt sein gerade erschienenes Buch, das vom Reisen handelt, aber den Kampf des alten Westberlin gegen den Rest der Welt in jeder Zeile mit sich schleppt. Und doch geht der Protagonist hinaus in die Frem­de, um zu sehen und zu hören, und das nicht selten unter Schmerzen. Das ist wörtlich zu verstehen. Seit einer Amerika-Tournee Mitte der achtziger Jahre hat es Bargeld an den Ohren. Die Eustachische Röhre verstopft von Zeit zu Zeit, was insbesondere auf Flügen höllisch schmerzt. Bargeld nahm während seiner Europa-Tournee deshalb gerne den Zug, der ihn und die Einstürzenden Neubauten von Luxemburg über Oslo, Kopenhagen, Moskau, Warschau und Barcelona durch Europa nach Berlin zum Tournee-Ende führte. Zwei Monate war er als fahrender Musiker unterwegs. »Europa kreuzweise« ist dabei kein Band-Tagebuch mit Backstage-Geschichten, Groupies und der Superstimmung während dem und dem Konzert an dem und dem Ort. Über die Konzerte erfährt man gar nichts, Bargeld schreibt aber für jedes Konzert die Songliste auf: »Die Wellen«, »Nagorny Karabach«, »Dear Friends«, »Let’s Do it a Da Da« usw. Und die anderen Neubauten kommen meist nur in Erinnerungen vor, so zum Beispiel Andrew Unruh, an den sich Bargeld im Kopenhagen-Kapitel erinnert.
Bei einem ihrer früheren Konzerte in Kopenhagen hatten die Neubauten ihren Elektro-Hammer, Marke Kango, verloren. Das ist eine wichtige Information, denn sie widerlegt die Legende, die Neubauten hätten mit einem Presslufthammer Musik gemacht. Einen Presslufthammer haben sie nie gehabt, nur einen Kango-Hammer, und der wurde ihnen nach einem Konzert im besetz­ten Kopenhagener Ung­domshuset gestohlen. Das kam so: Irgendwann während des Konzerts hing Unruh unter der Stuckdecke und nahm mit dem Elektrohammer »erste architektonische Verbesserungen vor«. Den konservativen Hausbesetzern gefiel das gar nicht, und so wehrten sie sich, mit folgendem Resultat: »Vier zerstochene Reifen, Frontscheibe des Neunsitzers eingeschlagen, diverses Material verschwunden, eben auch besagter Kango-Hammer«. Aber Bargeld ist nicht nachtragend. Als das Ungdomshuset 2007 für eine Benefiz-Compilation nach einem Stück anfragte, sagte Bargeld zu und schlug als Titel »Where is our Kango-Hammer?« vor. Die Hausbesetzer überlegen noch, sind aber nicht grundsätzlich abgeneigt.
Man kann die ganze Episode um den Hammer auch als eine Widerlegung von Falcos Diktum »Wer sich an die Achtzigerjahre erinnert, hat sie nicht erlebt« lesen. Da Falco, der zu den heterosexuellen Sängern gehörte, die wir mehr oder we­niger heimlich verehrten, leider nicht mehr am Geschehen teilnimmt, hat er für sich natürlich nach wie vor Recht. Bargeld ist im Unterschied zu Falco und vielen anderen Verblichenen oder Abgemeldeten eben auch ein Überlebender, und auch das ist schön. Denn Überleben ist bei Leuten, die man mag, eine schöne Eigenschaft.
Der Hammer steht aber noch für etwas anderes: für die Beharrlichkeit, mit der Bargeld seine Themen verfolgt. Diese Beharrlichkeit hat aber nichts mit der berüchtigten Konsequenz zu tun, die die blödesten Fans der Neubauten an de­ren Arbeit so schätzen. Sie ist der »Dialektik der Wiederholung« (Sören Kierkegaard) geschul­det, nach der von jeher in der Wiederholung auch das Neue verborgen liegt.
»Ein Hammer«, schreibt Bargeld am 17. September 1983 in sein Notizheft, »ist wesentlich mehr Musikinstrument als eine Gitarre. Weil ein Hammer etwas tut (verändert, bewirken kann), während eine Gitarre nur Schwingungen verstär­ken kann, Töne produziert, die nicht einmal Abdrücke an der Wand hinterlassen, geschweige denn einen Nagel einschlagen könnten.« So gesehen, wiegt der Verlust eines Hammers natürlich schwer.
Die Überlegungen zum Hammer finden sich im 1988 bei Merve erschienenen Band »Stimme frisst Feuer«. Darin versammelt Bargeld Songtexte, Skizzen und Notizen, die alle um sein künst­lerisches Credo kreisen. Das Buch steht mit 12 000 verkauften Exemplaren in den ewigen Top Ten des Merve-Verlags. Bargeld ist damit der erfolgreichste deutschsprachige Autor des Verlags, übertroffen wird er nur von Franzosen wie Deleuze/Guattari, Foucault oder Baudrillard. Wobei der Verkaufserfolg des Longsellers wenig mit deutschen Käufern zu tun hat. Die Haupt­abnehmer kommen aus Japan, Ägypten und den USA, also aus jenen Regionen, wo man Deutsch nicht so gut versteht, aber schon immer Westberlin mochte.
»Europa kreuzweise« ist über weite Strecken die respektvolle Beschreibung eines Europas, das immer unübersichtlicher geworden ist. Es gibt zwar noch ein paar Orientierungspunkte, die immer bleiben, wie etwa der Londoner »High­gate Cemetary«. »Karl Marx. Wenn ich Zeit hätte, würde ich mal vorbeischauen. Keine gesprühten Pfeile auf den anderen Grabsteinen weisen, wie für Jim Morrisons Grab in Paris, die Richtung«, notiert er. Aber: »Ich habe keine Zeit.« Dem, der einst angetreten war, eine »genaue Zeit« zu schaffen, zerrinnen Orte und Zeiten zu Fahrten ohne Abenteuer.
Bargeld hatte diesen Zustand schon 1998 in ei­ner Ausstellung in Berlin mit dem Titel »serialbathroomdummyrun« konstatiert. Dafür hatte er mit einer Einwegkamera geschossene Bilder aus den Badezimmern der Hotels von Chicago bis Bad Salzdethfurt, in denen er auf seinen Tourneen übernachtete, versammelt. Hotelzimmer sind unheimlich, meinte er damals, und von dieser Unheimlichkeit erzählt er unverdros­sen ohne Erschütterung weiter. Selbst als Einbrecher ihm den Koffer auskippen, ohne etwas zu stehlen, fragt er nur: »­Warum hast du nichts mitgenommen?«
Die Hotelzimmer, Schneematsch und Mafia in Moskau oder die Prostituierten im Hotel in Warschau, das nimmt er alles mit Gleichmut hin. Möglich wird das, weil er eine neue Quelle der Geborgenheit gefunden hat: das Essen. »Ein Restaurant, das Rassiermesser-Muscheln in der Karte hat und sie mit einem Schaum serviert, steigt auch in meiner Bestenliste auf«, heißt es über das Noma in Kopenhagen. Noma steht für nordatlantisk mad, nordatlantische Lebensmittel, und ist ein Restaurant in Kopenhagen, das als »angenehm hell und weitläufig« empfunden wird. Es sollte das beste auf der Reise sein, auf der alles darum kreist, wo er mit wem oder allein Essen geht. Er trifft andere Künstler wie Rocko Schamoni oder den Schriftsteller Carl-Johann Vallgren, die ebenfalls Texte zu dem Band beigesteuert haben. Die Lyrik aber kommt von den Speisekarten: »Smoked creamy chocolate with porous lavender bobbles/Cognac ›Paradis Extra‹ Hennessy«: Hinterher fährt er »endorphinisiert« ins Hotel. Sein Satz aus den Achtzigern – »Dass ich bei dem Konsum in zwei Jahren tot bin« – wirkt heute angenehm angeberisch verlogen. »Poached king crab with hazelnut oil marzipan and cauliflower mosaic« dürften Bargeld zwar dicker werden lassen, aber umbringen werden die Riesenkrabben ihn nicht.­

Blixa Bargeld: Europa kreuzweise. Eine Litanei. Residenzverlag, St. Pölten 2009, 128 Seiten, 14,90 Euro