Rossana Rossanda im Gespräch über die Krise des Antifaschismus

»Faschismus wiederholt sich nicht«

Die Schriftstellerin und Publizistin Rossana Rossanda ist Mitbegründerin der Zeitung Il Manifesto. 2005 erschien ihre Autobiografie »Die Tochter des 20. Jahrhunderts«. Die ehemalige Widerstandskämpferin und führende Kommunistin Italiens ist heute 85 Jahre alt und lebt in Rom.

Seit einigen Monaten beharrt die italienische Linke darauf, Berlusconis Regierung als »neuen Faschismus« zu bezeichnen …

Nein, das ist nicht wahr, die Linke besteht nicht darauf, Berlusconi mit dem Faschismus zu vergleichen.

Immerhin gab es in allen Tageszeitungen und Zeitschriften der Linken eine Diskussion darüber, ob die Politik der rechten Koalition Parallelen zum faschistischen Regime aufweist …

Ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor. Der Gefahr einer Rückkehr des Faschismus wird zu viel Bedeutung beigemessen. Der Faschismus war ein Einparteiensystem, er hat die Wahlen abgeschafft und das Parlament geschlossen, die Vereinigungs-, Meinungs- und Pressefreiheit abgeschafft, Parteien und Gewerkschaften verboten, jede Opposition verfolgt, und außerdem war er antisemitisch. Es ist unmöglich, dass sich das im heutigen Europa wiederholt. Die Rechte regiert hier aufgrund freier Wahlen, gewählter Parlamente und kommunaler Gremien, es gibt Pressefreiheit, Parteien und Gewerkschaften. Zudem herrscht enges Einvernehmen mit Israel. Das gilt auch für Italien. Die Anwesenheit alter und neuer Faschisten bedroht weder die herrschende Klasse noch die Linke und erst recht nicht die staatlichen Institutionen, die an solide transatlantische Abkommen gebunden sind.
Mir scheint, es liegt hier eine Konfusion der Begriffe vor. Der Angriff auf den »Historizismus«, sei es der Angriff der Linken oder der von Karl Popper, läuft Gefahr, die »Geschichte« ganz zu vergessen; diese ist nicht vollkommen determiniert und wiederholt sich nicht nach denselben Mustern – schon gar nicht angesichts der tiefgreifenden kulturellen und sozialen Veränderungen des 20. Jahrhunderts. Der Faschismus war im vergangenen Jahrhundert in Europa eine bestimmte politische Gestalt, und wenn der Begriff einen Sinn hat, dann wiederholt der Faschismus sich nicht.

Sie haben von einer »intellektuellen und moralischen Krise der Italiener« gesprochen, die zum dritten Mal »eine Bande aus Geschäftemachern, Ex-Faschisten und Separatisten« wählte. Wie erklären Sie sich, dass die Politik der Rechten diese große Akzeptanz genießt?

Die reaktionäre und autoritäre Politik der Rech­ten beschreibt das Abdriften der gegenwärtigen Demokratien. Die Ex-Faschisten, die zu diesen Demokratien gehören, haben nicht nur formal ihren Namen geändert, sie beziehen sich nicht mehr auf ihre Vergangenheit, und sie schlagen sie auch nicht als Modell für die Zukunft vor.

Doch die Angriffe der Rechten auf die Verfassung, die aus dem antifaschistischen Kampf hervorgegangen ist, häufen sich. Warum hat die Linke das antifaschistische Erbe nicht zu verteidigen gewusst?

Die Angriffe auf die Verfassung von 1948 zielen erstens darauf, den Sozialstaat zu zerstören. Das passiert überall in Europa, ohne dass deshalb verfassungsrechtliche Ordnungen geändert werden. Zweitens zielen sie auf eine Reform des politischen Systems im Sinne eines Präsidentialismus nach französischem Modell, doch niemand hat je de Gaulle des Faschismus beschuldigt.
Es geht darum zu verstehen, welche politische Gestalt heute dominiert. Meiner Meinung nach haben wir es mit der unangefochtenen Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise zu tun, die sich innerhalb der klassischen Institutionen der modernen Demokratien reproduziert. Die Krise der Linken hat sich in Gegenwart dieser Strukturen ereignet, nicht aufgrund einer Repression. Nicht die Reste des alten Faschismus sind die Ursache der Krise der Linken, vielmehr ist die Krise der Linken die Ursache für die kulturelle Nachsicht gegenüber der Vergangenheit. Das Ende eines aktiven Antifaschismus ergibt sich dagegen aus der offensichtlichen Unmöglichkeit, dass der Faschismus noch einmal irgendeine Form von Hegemonie ausüben könnte.

Die Linke war fassungslos nach den letzten Wahlen, bei denen vor allem im Norden die Arbeiter mehrheitlich für die Rechte gestimmt haben. Warum fällt es der Linken nach wie vor so schwer anzuerkennen, dass die Mehrheit der Bevölkerung nie antifaschistisch war?

Das hat die Linke nie behauptet. Wie sonst wäre der Faschismus an die Macht gekommen? Weder in Italien noch in Deutschland gab es einen Staatsstreich. Renzo De Felice, der wichtigste Historiker, der zum Thema Faschismus forschte, behauptete, der Antifaschismus, einschließlich der Resistenza, habe sich immer auf eine bescheidene Minderheit beschränkt.

Muss der offene gesellschaftliche Rassismus der vergangenen Monate nicht gerade deshalb auch als Wiederkehr einer nicht aufgearbeiteten Vergangenheit betrachtet werden?

Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist eine andere Geschichte. Was den Faschismus, den Nazismus oder die Regime von Salazar und Franco angeht, so hat jedes Land sie auf seine Weise geleistet oder auch nicht. Die deutsche Nachkriegsgeneration hatte nicht die Kraft dazu; erst der Generation ihrer Kinder war es möglich, das Ausmaß der deutschen Verantwortung ins Auge zu fassen. In Italien gab es nichts Vergleichbares, obwohl das Land mehr als mitverantwortlich war. Italien hat es vorgezogen, sich als Untergebener Hitlers auszugeben und den Widerstandskampf der Resistenza hervorzuheben, der speziell im Norden zwischen 1943 und 1945 sehr groß war. Frankreich nahm dank de Gaulle 1945 als Sieger an den Nachkriegsverhandlungen teil, obwohl seine Widerstandsbewegung kleiner gewesen ist. Aber Frankreich hatte nicht den Faschismus hervorgebracht, und die Regierung Pétain hat nur wenige Jahre gedauert, deshalb galt sie als eine Art »Zwischenfall«. Dabei hing auch vieles von den Entscheidungen der Alliierten am Ende des Krieges ab. Nachdem die Deutschen besiegt waren, fürchteten die Amerikaner und Engländer den Einfluss der UdSSR und der kommunistischen Parteien und nicht die Wiederkehr der Faschisten. In Italien brachten sie mit Badoglio die Rechte an die Macht, die sich sehr kompromittiert hatte, in Deutschland gab es Adenauer, in Frankreich beruhigte sie de Gaulle, in Spanien ließen sie Franco ungestört.

In Ihrer Autobiografie beschreiben Sie die »Farblosen«, die nach dem Krieg der Kommunistischen Partei beitraten, obwohl sie »nicht auf einen Schlag rot geworden waren« und überwiegend nach einer neuen Leitfigur suchten. Wäre es nicht Aufgabe der Linken gewesen, das Fortbestehen faschistischer Ideologie aufzuzeigen und neben dem antifaschistischen den postfaschistischen Charakter Italiens zu benennen?

Der Postfaschismus ist keine Wiederholung des Faschismus im Kleinen, sondern eine Wahldemokratie, in der sich der Autoritarismus aufgrund der Entpolitisierung der Massen und des Verlusts der Hoffnung auf eine mögliche System­änderung durchsetzt. Er bezeichnet etwas Neues, bezieht sich auf neue Subjekte und Massen, er folgt in Italien auf die Krise der I. Republik, die schon Ende der siebziger Jahre begann, spätestens aber 1989 sichtbar wurde.
Darüber hinaus bleibt oft unberücksichtigt, dass die Tendenz zur Degeneration der Demokratie oder sogar ihre Negation in Europa seit der Französischen Revolution sowohl innerhalb der Kirche als auch unter den Laizisten alte und hochgebildete Vorbilder hat, von Nietzsche bis Jünger. Deshalb haben in Italien viele angesehene Antifaschisten keinen Anstoß daran genommen, als die Ex-Faschisten mit Berlusconi zur neuen Mehrheit wurden. Sie haben unterschätzt, dass der untergründige faschistoide Humus und die explizit populistische Ader der Rechten sich bestens vereinbaren lassen mit der hochmodernen Tendenz zu einer autoritären Regierung, die das Land als Unternehmen begreift. Sie haben unterschätzt, dass sich innerhalb der demokratischen Ordnung ein auf freien Wahlen basierendes, populistisches, entideologisiertes, hyper-präsidentialistisches, antidemokratisches und antigewerkschaftliches System errichten lässt. Zu einem solchen System tendieren heute Italien und Frankreich mit Berlusconi und Sarkozy. Aber das ist kein Faschismus.