Die angebliche Entpolitisierung deutscher Jugendlicher

Verwende deine Jugend

Junge Menschen sind unpolitisch und ziehen sich immer mehr ins Private zurück, behaupten Soziologen. Leider entsprechen ihre Diagnosen nicht der Wirklichkeit.

Die Felduntersuchungen, mit denen die deutsche Jugend seit der berühmten ersten Shell-Studie von 1953 regelmäßig behelligt wird, sagen über ihr Objekt weit weniger aus als über die Gesellschaft, die sie hervorbringt. Auch die nun von einem Team des Konstanzer Soziologen Tino Bargel erstellte Studie über den »Wandel politischer Orientierungen und gesellschaftlicher Werte der Studierenden«, die sofort nach ihrer Publikation Anlass zur Klage über die Entpolitisierung der Jugend gegeben hat (Jungle World 11/09), ist keine Ausnahme.

Als Index für »politisches Interesse«, für »Urteils­fähigkeit« und »moralische Verantwortlichkeit« gilt ihr zuvorderst die aktive Mitwirkung in politischen Parteien sowie – mit schwächerer Wertung – in Bürgerinitiativen und informellen Grup­pierungen. Politische »Teilnahmslosigkeit« wird überdies daran bemessen, wie schwer es den Befragten fällt, sich eindeutig zu positionieren. Wer etwa der Aussage, politische Gleichgültigkeit sei »verantwortungslos«, nicht oder nur eingeschränkt zustimmt oder eingesteht, politische Vor­gänge nicht angemessen beurteilen zu können, dem attestieren die Forscher eine »Abwendung von öffentlichem Engagement« und eine »Verringerung kognitiver Kompetenz«.
Die Kriterien, mit deren Hilfe sie die Befragten im Rechts-Links-Spektrum einordnen, reproduzieren blind die in Parteiprogrammen kodifizierten Klischees, statt zur Erarbeitung eines qualitativen Begriffs von »konservativen« oder »progressiven« Orientierungen junger Menschen beizutragen. Als »konservativ-national« gelten demnach Forderungen wie die nach einer »Abwehr kultureller Überfremdung« oder nach der Bewah­rung der bürgerlichen Familie, als »neoliberal« der Wunsch nach der »Sicherung der freien Markt­wirtschaft« und als »links« die Forderung nach einem »Recht auf Arbeit für alle« sowie nach der »Abschaffung des Privateigentums«.
Gemessen an dieser vulgärsoziologischen Skala, sieht es mit den deutschen Studenten tatsächlich düster aus. Die Bereitschaft zu öffentlichem Engagement sinkt, ein »Abrücken von linken Haltungen«, insbesondere in Fragen des Umweltschutzes, ist zu diagnostizieren, und die Sehnsucht nach Erfüllung im Privaten wird wich­tiger genommen als der Wunsch nach politischer Beteiligung – »Desintegration und Anomie« allerorten also.

Wem »Verantwortungslosigkeit« und Egoismus nicht von vornherein als Schimpfworte gelten, der kann die entsprechenden Daten freilich auch ganz anders deuten. Angesichts des abgefeimten Konformismus einer »Bürgergesellschaft«, die je­den Einzelnen möglichst schon im Kindergartenalter zum eigenverantwortlichen Agenten der Volks­gemeinschaft machen möchte und noch die letzten Reste von Spontaneität und privatem Glück nur als Funktionen des großen Ganzen gel­ten lassen will, ist es jedenfalls zunächst einmal zu begrüßen, wenn junge Menschen sich aus den Parteien zurückziehen, Skepsis gegen­über »zivilem Engagement« entwickeln und die eigene politische Urteilsfähigkeit anzweifeln, statt sie als Selbstverständlichkeit zu betrachten.
Auch »Desintegration und Anomie«, in den Augen deutscher Gesellschaftsforscher seit jeher unverkennbare Symptome für den Untergang des Abendlandes, repräsentieren gegenüber der Forderung nach totaler Integration, die längst zur Staatsräson geworden ist, zumindest das Versprechen von Veränderung und Widerstand. Die »Unentschiedenheit«, die den Jugendlichen von den Forschern mit erhobenem Zeigefinger attestiert wird, könnte insofern auch ein Anzeichen für die sich zunächst nur negativ aussprechende Weigerung sein, das tautologische Spiel, das die staatstragenden Statistiker mit ihnen treiben, noch länger mitzumachen.

Eine genauere Betrachtung der in der Studie skiz­zierten studentischen Charakterprofile, die der Tendenz nach mit den Ergebnissen der Shell-Jugend­studien vergangener Jahre übereinstimmen, lässt diese optimistische Einschätzung jedoch zweifelhaft erscheinen. Nicht die Abstinenz von parteipolitisch organisierter Projektmacherei oder die Entdeckung des »Privaten«, die sich ja immerhin auch als Besinnung auf das Eigeninte­resse gegenüber dem oktroyierten Gemeinwohl verstehen ließe, ist demnach das Problem, sondern die Tatsache, dass ebenjene Privatsphäre für die Jugendlichen keinerlei Autonomie mehr zu besitzen scheint. Sie wird nicht als möglicher Ort der Ausbildung von Individualität und Eigensinn gegenüber den Zumutungen, sei es der paternalistischen Staatsmacht, sei es der Familie begriffen, sondern als diffuser Schutzraum, der den Einzelnen vor der Kälte und Abstraktion einer un­übersichtlichen Außenwelt behüten soll.
Deutlich wird dies an dem wohl interessantesten Widerspruch innerhalb der Studie, der von den Autoren nicht interpretiert wird: Dieselbe Jugend nämlich, die mehrheitlich kein Vertrauen mehr in das bürgerliche »Leistungsprinzip« besitzt und jede Hoffnung darauf verloren hat, durch Fleiß und Talent einen angemessenen Platz in der Gesellschaft zu erringen, affirmiert immer offener das Prinzip des »Wettbewerbs« gegenüber der in Verruf geratenen Forderung nach »Solidarität«.

Wie kann man zugleich das »Leistungsprinzip« verwerfen und dem »Wettbewerb« huldigen? Wohl nur durch jene genuin deutsche Schizophre­nie, die die Angst vor dem naturwüchsige Bindungen zerstörenden Markt vermittlungslos mit der Idolatrie für Stärke und Gemeinschaftsgeist verschmilzt, welche dem Einzelnen, der sich als bürgerliches Individuum ohnmächtig fühlen würde, Sicherheit und gerechten Lohn verspricht, sofern er sich mit Haut und Haaren in den Dienst der gemeinsamen Sache stellt. Wettbewerb ohne Leistung also, neutralisierte, destruktiv gewendete Konkurrenz, die obsessiv am Fetisch der star­ken Einzelpersönlichkeit festhält, ohne dem Einzelnen je zuzumuten, eine Person zu werden, als welche er erst fähig wäre, sich mit anderen zu solidarisieren.
Dazu passt die harmlos klingende Diagnose, wonach Jugendliche sich zwar durchweg weniger politisch engagieren, ehrenamtliche und »zivile« Tätigkeiten, vor allem für Menschenrechtsgruppen, aber trotzdem noch immer ihre mit Ab­stand beliebtesten Tätigkeitsfelder sind. Nicht die Parteien nämlich, deren Vertreter hierzulande stets als Schmarotzer, Bürgerfeinde und Brems­klötze zivilgesellschaftlicher »Eigeninitiative« wahrgenommen werden, sondern die locker assoziierten politischen und menschenrechtlichen Gruppen sind die reinsten Verkörperungen jenes Prinzips. Insofern hängen die Autoren der Studie, die noch immer die Beteiligung in Parteien als deutlichsten Index für politisches Verantwortungsbewusstsein betrachten, einer objektiv veralteten Ideologie an, und die Jugend ist womöglich auf beängstigende Weise politisch aktiver, als der Report suggeriert.
Allzu viel Angst müssen die Technokraten der Macht jedenfalls nicht haben, dass die jungen Menschen aus Enttäuschung und Frustration verstärkt dem Imperativ »verschwende deine Jugend« folgen. Als Avantgarde einer Nation, in der die Zunahme von staatlichem Zwang noch nie mit Wut oder liberaler Lässigkeit beantwortet, sondern stets masochistisch genossen wurde, wis­sen sie Nützlicheres mit sich anzufangen.