Ungarn, die Krise und die Rechten

Die Krisenmanager blicken nach rechts

Die Wirtschaftskrise hat für Ungarn gravie­rende politische Folgen. Nach dem Rücktritt des Ministerpräsidenten klammern sich die regierenden Sozialisten an die Macht. Der künftige Ministerpräsident hat harte Sparmaßnahmen angekündigt. Die Unzufriedenheit wächst, die rechte Op­position fordert Neuwahlen. Von der politischen Krise profitieren derzeit die Rechtsextremen, die mit dem Schüren sozialer Ressentiments äußerst erfolgreich sind.

»Es wird wehtun«, stimmte der designierte Minis­terpräsident Gordon Bajnai vergangene Woche die Ungarn auf sein Sparprogramm ein. Der Wirt­schaftsfachmann hat harte Sparmaßnahmen angekündigt. So will er den etwa zwei Millionen Rentnern die dreizehnte monatliche Zahlung streichen. Auch die rund 700 000 Staatsbediensteten müssen auf ihr dreizehntes Monatsgehalt künftig verzichten – jeder sechste ungarische Bür­ger ist davon betroffen. Löhne und Gehälter sowie Familien- und Kinderzulagen sollen für zwei Jahre nicht steigen. Die staatlichen Heizkostenzuschüsse sollen ebenfalls stark gekürzt werden. Mit seinem Programm will Bajnai den Staatshaushalt um gut drei Milliarden Euro entlasten. Die Ungarn müssten sich entscheiden, empfahl sich der Krisenmanager, »ob noch tausende Jobs verloren gehen oder ob sie ein paar Prozent ihres Einkommens abgeben«. Tatsächlich hat die Regie­rung keine andere Wahl. Schließlich hat der Internationale Währungsfonds (IWF) den Milliarden­kredit, den er Ungarn im vergangenen Herbst gewährte, an eine Bedingung geknüpft, und sie lautet: sparen. Um den Staat vor dem Bankrott zu bewahren, hatten IWF, Weltbank und EU einen Kredit von 20 Milliarden Euro gegeben.
»Die Zeche zahlen die kleinen Leute«, sagte eine Frau, die in Budapest am Sonntag vor Ostern mit zehntausenden Regierungsgegnern für vorgezogene Neuwahlen demonstrierte. Ein anderer Demonstrant räumte ein, »dass es wohl keine we­sentlich besseren Ideen gibt, um die Probleme zu lösen«. Während sich die Demonstranten auf dem Heldenplatz in der Budapester Innenstadt versammelten, versuchten die regierenden Sozialisten im Kongresszentrum am anderen Ende der ungarischen Hauptstadt, ihre Macht zu retten. Sie stimmten mit 93 Prozent für die Politik Bajnais. Der soll bis zu den regulären Wahlen in einem Jahr die Minderheitsregierung führen. Der bisherige Premierminister Ferenc Gyurcsány hatte zu­vor seinen Rückzug vom Amt des Ministerpräsidenten und Parteivorsitzenden angekündigt. Am Abend stimmten auch die Liberalen, die bis vor einem Jahr noch mit den Sozialisten regiert hatten, für Bajnais Programm. Damit hat er die nötige Mehrheit im Parlament. Ungarische Politologen befürchten nun, das Sparprogramm kön­ne »solche gesellschaftliche Spannungen schüren, dass die Gegensätze erneut explodieren«.

Sündenböcke sind jetzt schon Minderheiten wie Roma und Juden. Der Holocaust-Überlebende Ervin Lazarovics berichtete, dass seit der Wende die jüdischen Gemeinden immer mehr Hassbriefe bekommen und Friedhöfe geschändet werden. »Der Geist des Antisemitismus ist aus der Flasche«, sagt der Auslandsbeauftragte des Verbandes der ungarischen jüdischen Gemeinden (»Mazsihisz«). Selbst der ungarische Schriftstellerverband sorgte bereits vor einigen Jahren mit antisemitischen Ausfällen für Schlagzeilen. Namhafte Autoren wie Péter Esterházy traten daraufhin aus dem Verband aus. Regelmäßig veröffentlicht der Publizist Zsolt Bayer in der konservativen Tageszeitung Magyar Nemzet antisemitische Hetzartikel. Möglich ist das, weil es bis heute keinen Volksverhetzungsparagrafen gibt, der ent­sprechende Äußerungen unter Strafe stellt. Ein Versuch scheiterte letztlich am Staatspräsidenten, der die Gesetzesvorlage dem Verfassungsgericht zur Prüfung übergab. Und das lehnte sie ab.
Auch die rund 600 000 ungarischen Roma wer­den immer mehr zu Zielen rechtsextremer Gruppierungen wie der Partei Jobbik und ihrer Parteiarmee, der Ungarischen Garde. Die Wehrsportgruppe hat sich den Kampf gegen so genannte »Zi­geunerkriminalität« auf die Fahnen geschrieben. Sie marschiert – trotz Verbots ihres Trägervereins – weiter durch Viertel mit hohem Roma-Anteil. Und mittlerweile werden die Auseinander­setzungen immer gewalttätiger. In den letzten anderthalb Jahren hat es mehr als 50 Gewalttaten gegeben. Die Bilanz: sieben Tote.
Nach der Wende 1989 waren die Roma die ersten, die ihre Jobs verloren. Jeder vierte Roma ist in Ungarn mangels Bildung arbeitslos, viele sind auf staatliche Unterstützung angewiesen. Ungarische Rechtsextreme diffamieren sie deshalb als »Sozialschmarotzer«. »Ich verdiene die Stütze, von der du lebst«, heißt es in einem Hassvideo einer ungarischen Nazi-Band, das auf Youtube frei zugänglich ist. Diese Meinung über Roma findet derzeit in Ungarn viele Anhänger. »Ungarn ist ein sehr rassistisches Land«, sagt Gina Böni – eine Schweizerin, die in Budapest ein Projekt für Roma gegründet hat. »Das Problem ist die politische Elite«, meint sie, die keine deutlichen Zeichen gegen die allgegenwärtige rassistische Stimmung setze. Justizminister Tibor Draskovics gibt unum­wunden zu: »Die fehlende gesellschaftliche Integration der Roma ist das größte Debakel der letz­ten 20 Jahre.« Jede Regierung sei bislang daran gescheitert.
Wer von dieser Situation profitiert, sind die Rechts­extremen. Auf zwölf Prozent beziffert der Budapester Soziologe Pál Tamás ihr Wählerpotenzial. »Das sind Männer um die 30, die vor der Wende große Träume hatten, die sich nicht erfüllt haben«, sagt er. Das ist eine Beschreibung, die auch auf Gábor Vona zutrifft. Der junge Mann ist eigentlich Lehrer. Und er ist der Parteivorsitzende von Jobbik. Die Partei könnte in die Parlamente in Budapest und Strasbourg einziehen, war­nen Meinungsforscher. Eine der prominentesten Figuren von Jobbik ist derzeit die eloquente Juristin Krisztina Morvai. Früher hat sie zum Thema Gewalt in der Familie geforscht und sich für Frau­enrechte stark gemacht. Jetzt bewirbt sie sich als Spitzenkandidatin für einen Sitz im EU-Parlament, während ihr Chef Vona bereits ankündigte, künftig noch besser mit der rechten Szene in ganz Europa zusammenzuarbeiten. Kontakte zur NPD und zu bulgarischen Rechtsextremen gibt es bereits. Jetzt peilt Vona auch die FPÖ an.
Es gibt noch jemanden, der von der gegenwärtigen Krise profitiert: Der ehemalige Minister­präsident Viktor Orbán. Wenn jetzt Wahlen stattfinden würden, könnte er mit seinem rechtskonservativen Bürgerbund Fidesz eine Zweidrittelmehrheit erzielen, während die kleineren Parteien wie die Liberalen um ihren Wiedereinzug ins Parlament bangen müssten. Orbán hat sich bislang nicht von den Rechtsextremen distanziert – im Gegenteil. Fidesz-Politiker treten regelmäßig auf Jobbik-Veranstaltungen auf, in einigen Stadtregierungen mischen sie mit. Der Historiker Krisz­tián Ungváry wirft Orbán vor, »dass Fidesz eine Gruppe hochzüchtet, die auf der Straße lautstark Politik machen will.« Das Kalkül Orbáns ist es, die Stimmen der Rechtsextremen bei der nächsten Parlamentswahl für sich gewinnen zu können. Die Chancen stehen gut, dass ihm das gelingt.

Gegen diese Tendenzen bewegt sich in der ungarischen Gesellschaft derzeit nicht viel, abgesehen von einzelnen Projekten, die daran arbeiten, dass Roma in Ungarn nicht nur Rassismus und Diskriminierung erleben müssen. Ein gutes Beispiel dafür ist das Gandhi-Gymnasium im südungarischen Pécs. Vor 15 Jahren wurde es von Ro­ma für Roma gegründet mit dem Ziel, den Roma eine bessere Bildung zu ermöglichen. Denn nur etwa ein Prozent der ungarischen Roma schafft den Aufstieg zum Akademiker. Diese Quote will das Gandhi-Gymnasium erhöhen.
250 Schüler lernen und leben hier. Die meisten kommen aus sehr armen Familien. »Dort finden Sie selten mal ein Buch«, sagt der 29jährige Csaba Lakatos. Er gehörte zum ersten Jahrgang, der hier Abitur gemacht hat. Mittlerweile unterrichtet er als Lehrer die ungarische Roma-Sprache Beasch. »Wir wollen zwei Dinge miteinander verbinden und den Schülern ein Bewusstsein als Roma und als ungarische Staatsbürger vermitteln.« So sind die Gruppenräume nach erfolgreichen Roma-Persönlichkeiten wie Django Reinhardt benannt. Die Schüler lernen neben Ungarisch auch die Roma-Sprachen Beasch und Lovári in Wort und Schrift. Und sie machen noch eine wichtige Erfahrung, erzählt die Sozialarbeiterin Eszter Scheich, nämlich »dass es Ungarn gibt, die sich für die Belange der Roma einsetzen«. Aber sie weiß auch, dass das Gandhi-Gymnasium ein geschützter Raum ist. Die Realität hat sie sich mit ihren beiden Kollegen gerade aus dem Internet heruntergeladen: Harte Gitarren und Hasstexte, viereinhalb Minuten lang. Für sie sind solche Videos Schulungsmaterial für die Schüler. »Wir müssen darüber reden«, sagt sie, »was in der wei­ten Welt da draußen passiert.«