Obdachlose in Amsterdam

Die letzten Grachtenstreuner

In Amsterdam setzt sich die Politik der sozialen Disziplinierung immer mehr durch. Menschen ohne festen Wohnsitz bekommen das seit Jahren zu spüren. Die soziale Infrastruktur für Obdachlose wird demontiert und Hilfe immer mehr an »Wiedereingliederungsmaßnahmen« gekoppelt.

Als Arjen an diesem Morgen auf seiner Bank an der Schleuse erscheint, hat er keine Ahnung, dass er just vor ein paar Stunden zu einer aussterbenden Minderheit erklärt worden ist, und das auch noch in hunderttausendfacher Auflage. Die meisten Tageszeitungen haben die kleine Agenturmeldung gedruckt. »In den großen Städten der Niederlande gibt es fast keine Obdach­losen mehr, die draußen schlafen«, heißt es darin. »Auch die Zahl derer, die sich tagsüber auf der Straße aufhalten, nimmt ab.« Der gemeinsame Plan von Regierung, Gemeinden und Anlaufstellen, alle Obdachlosen weg von der Straße zu holen und in Hilfsprogrammen unterzubringen, scheint Erfolg zu haben. Auch die Dachorganisation Föderation Auffang bestätigt: Die neue Methode funktioniere sehr gut.
Für Arjen ist dennoch alles beim Alten. Er verbringt den Tag auf der Straße und so manche Nacht dazu, auch wenn er gestern wieder mal in einer Notunterkunft geschlafen hat. Er blinzelt in die Frühlingssonne und nimmt einen Schluck Pils. Die erste Streife des Tages lässt nur ein paar Minuten auf sich warten. Zwei blendendweiße Oberhemden, gebeugt über die Lenker schnei­diger Mountainbikes, schieben sich ins Bild. »Sie wissen, dass hier Alkoholverbot ist?« fragt die Beamtin bestimmt. Nein, davon hat Arjen noch nichts gehört. Routiniert gleitet die Dose in den schwarzen Müllsack, der seine Decke, seine Klamotten und die kleine Plüschkuh enthält. Beim nächsten Mal, sagt die Polizistin beim Wegfahren, werde man ihn zur Kasse bitten. Arjen nickt und zieht die Dose wieder hervor, sobald die Streife um die Ecke ist. Drüben am Nieuw Markt, im Zentrum des Touristengetümmels, habe er schon einmal 200 Euro für den Genuss eines Bieres in aller Öffentlichkeit zahlen müssen. »Zum Glück fand ich damals wenig später 250 Euro, die jemand in einem Geldautomaten vergessen hatte«, sagt er, und auf dem schmalen, faltigen Gesicht zeigt sich ein Grinsen. Dann wird er wieder ernst. »Es ist eine völlig verrückte Politik. Würde ich hier im Viertel den ganzen Tag für Ärger sorgen, könn­te ich sie verstehen. Aber das mache ich wirklich nicht!«

Ärger – das ist eine Definitionsfrage. Und die Definitionshoheit liegt nicht in Händen von Menschen wie Arjen. Zwervers, wie sie hier genannt werden (»Streuner«, »Landstreicher«), haben schon bessere Zeiten gesehen in den Niederlanden, wo in den vergangenen Jahren zahlreiche Kampagnen gegen alle geführt wurden, die die Straßen der Innenstädte vermeintlich unsicher machen. Overlast heißt das Zauberwort, Belästigung, und die Liste derer, die in der öffentlichen Debatte damit gleichgesetzt werden, ist lang. Junkies, Trinker, hangjongeren, jugendliche Rumhänger. Für ihr in die Jahre gekommenes Pendant wurde zuletzt gar der Begriff hangouderen geprägt. Zwervers sind eine Mischung von allem und damit die älteste Gruppe urbaner »Delinquenten«. Es gab sie schon immer, am Rand der Gesellschaft, häufig mit einem Bein in der Illegalität, aber sie wurden immer irgendwie toleriert. Eine der beliebtesten niederländischen Fernsehserien zwischen den fünfziger und siebziger Jahren handelte von dem sympathischen Herumtreiber Swiebertje, dem ein übereifriger Wachtmeister das Leben schwer macht und der sich am Ende doch stets behauptet.
Die Realität sieht heute anders aus, gerade in Amsterdam. Dass hier einmal einer der Ausgangspunkte des Hippietrails lag, ist eine Geschichte, aus der sich noch immer etwas touristisches Kapital schlagen lässt. Die Zeiten aber sind andere. Amsterdam, das »Dorf mit dem Flair einer Weltmetropole«, inszeniert sich im inter­nationalen Standortwettbewerb als topstad. Mit dem fünften Platz in Europa kann die Stadt zufrieden sein. Drogenkonsum auf offener Straße stört da nur, selbst ein Joint an der Gracht ist längst nicht mehr selbstverständlich, und das Alkoholverbot gilt in der gesamten Innenstadt. Mit Platzverweisen und drakonischen Bußgeldern wird der Radius der Streuner heutzutage verkleinert.

Daan van Leeuwen macht diese Entwicklung Sorgen. »Es ist fürchterlich«, sagt der junge Koordinator der Obdachlosenvereinigung BADT, die Menschen ohne festen Wohnsitz bei Streitigkeiten mit der Gemeinde und den Sozialdiensten zur Seite steht. Keine Hilfsorganisation, sondern eine Interessenvertretung, so lautet das Selbstverständnis. »Das Stadtzentrum wird für Touristen auf Hochglanz getrimmt. Menschen, die ungepflegt aussehen, will die Gemeinde dort nicht sehen. Obdachlose oder Leute, die Drogen nehmen, sind in der Innenstadt unerwünscht.«
Alles begann vor rund 25 Jahren, als die Stadtverwaltung die offene Drogenszene am legendären Zeedijk anging, einer verwinkelten Gasse, die sich zwischen Bahnhof, Chinatown und Rotlichtviertel durch das alte Zentrum windet. Mit dem Dijkverbod fingen die Platzverweise an, die inzwischen auch an anderen zentralen Orten verhängt werden. Die erste Verbannung dauert 24 Stunden, im Wiederholungsfall kann die Strafe einen Monat betragen. Viele Anlaufstellen in der Innenstadt werden damit unerreichbar. »Natürlich kann man gegen so einen Bescheid Einspruch erheben«, sagt van Leeuwen, »aber dann steht da der Obdachlose gegen den Polizisten vor einer Kommission. Da kannst du dir schon denken, wie das in neun von zehn Fällen ausgeht.« Der Katalog an sanktionierten Vergehen nimmt mittlerweile groteske Formen an. Nicht nur objektiv nachweisbare Handlungen wie das Nächtigen unter freiem Himmel, Wildurinieren und die Missachtung von Platzverweisen ziehen Geldstrafen nach sich, sondern auch der vage Tatbestand »zielloses Herumhängen«. Van Leeuwens Fazit ist deutlich: »Heutzutage haben Obdachlose eher mit der Polizei zu tun als mit Sozialarbeitern.«

Selbst draußen im Westerpark ist das Vagabunden­leben nicht mehr, was es früher war. Das morastige Wiesengebiet unterhalb eines Bahndamms liegt 20 Gehminuten vom Zentrum entfernt und dient Menschen ohne festen Wohnsitz als eine Art Refugium. »Hier ist die Situation noch am besten von allen Parks in dieser Stadt. Doch auch wir kriegen hier jeden Tag Besuch vom Gesetz«, sagt Davor, der sich mit einem kleinen Grüppchen von knapp zehn Männern – Holländer, Marokkaner und Kroaten im Alter zwischen 30 und 40 – auf zwei Bänken niedergelassen hat. Der Ostermorgen fängt ganz entspannt an. Das Radio plärrt mit den Vögeln um die Wette. Man kennt sich im Park. Eine Joggerin grüßt im Vorbeilaufen, ein gut gekleideter Herr gratuliert den anwesenden Marokkanern vom Fahrrad herunter zu ihrer Integration: »Muslime, die Alkohol trinken, hervorragend!« Auf der Bank quittiert man das mit Gelächter.
Davor, der in Zagreb aufwuchs, ergreift wieder das Wort: »Ich komme aus der Science-Fiction-Republik Jugoslawien. Auf dem Weg nach Kana­da blieb ich hier hängen. Eigentlich ist dies ein guter Ort dafür.« Sein roter Iro hängt heute schlapp zur Seite herunter. Er wird bald 40, und seit mehr als zehn Jahren lebt er in Amsterdam. »In letzter Zeit entwickelt sich Amsterdam zu einer Polizeistadt«, fügt er hinzu. »Seit ein paar Jahren trampeln sie richtig auf uns herum. Wenn du keinen Ausweis bei dir hast, kostet das 50 bis 100 Euro. Unter freiem Himmel schlafen macht 120, und Wildpinkeln 90.«
Bei diesen Stichworten steigen auch die anderen ein in das Gespräch. Geschichten werden hervorgekramt, wer hat die meisten Geldstrafen bekommen, wer die absurdesten – und wer musste die nicht bezahlten Schulden in welchem Knast absitzen? Richard schaut müde unter dem Rand seiner Wollmütze hervor. Seine Gefängnisbiographie ist beeindruckend. Bis nach Friesland hat er es schon geschafft. Einen Tag Haft pro 50 Euro Bußgeld, das ist die einfache Regel. »Und dann wird deine Sozialhilfe für zweieinhalb Monate gestrichen, wenn du in den Knast musst. Wovon lebst du dann, von der Luft? Dadurch gibt es sehr viele ›Drehtürpersonen‹, die ständig rein und raus gehen.« Richard ist im eigentlichen Sinn nicht obdachlos. Er hat ein Boot, irgendwo in der Nähe des Parks. »Aber wenn das kein registriertes Wohnboot ist, darfst du darauf nicht schlafen.« Auch die anderen Kleinigkeiten des Alltags werden nicht unbedingt leichter. Die Zahl der öffentlichen Toilettenhäuschen in der Stadt, sagt Richard, sei um die Hälfte reduziert worden. Im Westerpark habe die Stadt Sitzbänke und die meisten Wasserhähne abgebaut. »Und dann reden sie von Belästigung!«

Die Demontage der Infrastruktur für Obdachlose ist nur ein sichtbares Zeichen. Dahinter steckt nicht allein Schikane zum Selbstzweck. Zum einen will die Stadt auf diese Weise die Obdachlosigkeit bekämpfen, um Besuchern und Investoren das versprochene pittoreske Bild zu präsentieren. Daneben geht es auch um den administrativen Zugriff auf eine Szene, die sich diesem bisher durch ihre Flüchtigkeit zu entziehen wusste. Am Anfang dieser Domestizierung steht die Klassifizierung. »Obdachlose werden unterteilt in solche, die Rechte haben, und andere, denen diese verwehrt sind«, erzählt van Leeuwen. Nicht zuletzt der starke Zustrom an Osteuropäern in den vergangenen Jahren sei dafür verantwortlich, viele von ihnen landeten auf der Straße. »Wer nicht nachweisen kann, dass er sich seit zwei Jahren in Amsterdam aufhält, hat kein Recht mehr auf Übernachtungsplätze oder Essensausgabe. Da­zu braucht es keine Einschreibung bei der Stadt, aber man muss zum Beispiel auf den Listen der entsprechenden Einrichtungen auftauchen.«
Für viele Anlaufstellen für Obdachlose zeichnet sich hier ein Dilemma ab. Auch wenn in Amsterdam die Heilsarmee oder andere konfessionelle Träger den Ton angeben, wird doch der gesamte Sektor von der Kommune finanziert. Wer sich der neuen Linie verweigert, kann dies zu spüren bekommen. Auch Daan van Leeuwen kennt diesen Zwiespalt. »Wir stehen in allen Konflikten auf der Seite der Obdachlosen«, fasst er die Mission von BADT zusammen. Allerdings hat der Koordinator die einzige bezahlte Stelle unter lauter Frei­willigen. Und sein Geldgeber ist, nun ja, die Stadt.
Eine Konstellation, in der Kollisionen programmiert sind. Zum Beispiel bei der Stiftung Regenboog, die mehrere Häuser unterhält, in denen Obdachlose und Drogenabhängige übernachten, essen oder sich aufhalten können. Eines davon ist die Anlaufstelle Makom im zentrumsnahen Viertel Oud Zuid. »Wir sind für Menschen in Not da, und wo die herkommen, ist uns egal«, sagt Kathleen Denkers, die Leiterin, trotzig. Dass jeder hier Zugang hat, ist charakteristisch. Schließlich sieht sich die Stiftung als Ort für »diejenigen, die aus dem Rahmen der regulären Sozialarbeit fallen« – so ist es auf einem Plakat an der Wand ihres Arbeitszimmers zu lesen. Es gibt eine Arztsprechstunde für Nichtversicher­te, Gratismedikamente, Beratung und sogar eine Kunstsuite für kreative Besucher. Natürlich weiß Kathleen Denkers, dass einheimische Obdachlose eigentlich Vorrang haben. Da man der Gemeinde aber nur die Zahlen und nicht die Namen der Besucher weitergebe, würden gewisse Freiheiten erhalten bleiben.
Doch auch so sind die Einschnitte bereits spürbar. Die Subvention von der Stadt, die Regenboog empfängt, wurde neulich gekürzt. Amsterdam konzentriert die Mittel mehr und mehr auf die vor einigen Wochen eröffnete Notunterkunft im ­Osten der Stadt, die 40 Schlafplätze bietet. Das Projekt ist eine Art sozialarbeiterisches Joint Venture. Eine große Koalition aus Gemeinde­insti­tutionen wie dem Gesundheitsdienst oder dem Sozialamt und Organisationen wie der Heilsarmee und anderen Akteuren aus der Drogen- und Obdachlosenhilfe. Sechs Wochen kann man dort bleiben, muss dafür aber an einem städtischen Projekt zur »sozialen Wiedereingliederung« teilnehmen. »In diesem Sinn sind wir nicht unverbindlich«, heißt es auf der Website. »Inzwischen ist die erste Sechs-Wochen-Periode vorbei, und die Leute kommen einfach wieder zu uns zum Essen und Schlafen, genau wie vorher«, erzählt Kathleen Denkers. Die »Politik der Aktivierung«, wie die Stadt das nennt, ist also noch zu verbessern. Und auch wenn die Mehrzahl der offiziell 3 000 Amsterdamer Obdachlosen das Leben auf der Straße gerne beenden würde – der Deal Hilfe gegen Verpflichtung schreckt viele ab. Genau darauf aber zielt die Politik, nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch im Rest der Niederlande. Bußgelder und Innenstadtverbote erweisen sich vor diesem Hintergrund nur als Begleitmaßnahmen, die die Alternativen einschränken.
Die Besucher der bisherigen Anlaufstellen sind über die Situation geteilter Meinung. Muis, der regelmäßig im Makom auftaucht, lässt kein gutes Haar an der Stadtverwaltung. Seit 25 Jahren ist er in Amsterdam, die meiste Zeit ohne festen Wohnsitz. Derzeit schläft er in einem besetzten Haus. »Wenn sie irgendwo etwas aufbauen, brechen sie dafür an anderer Stelle etwas ab. Und indem sie die Einheimischen bevorzugen, schüren sie die Rivalität unter uns. Früher war es hart. Heute ist es kaum noch erträglich«, sagt er. Auf der anderen Seite ist da Youssef, ein anderer Stammgast, im Makom vor allem als Koch und in der Kunstsuite bekannt. Mit 45 ist auch er ein Routinier unter den Grachtenvagabunden. In mehr als zwei Jahrzehnten auf den Straßen Amsterdams hat er geschrieben, Musik gemacht, gemalt und in Obdachlosenchören gesungen. Derzeit hat er zum ersten Mal seit langem ein Zimmer – und eine neue Funktion. Er ist einer von fünf »Botschaftern«, die in Sachen Obdachlosenpolitik zwischen der Stadt und der schwer erreichbaren Zielgruppe vermitteln sollen. Die Stimmung peilen, Beschwerden weiterleiten, und auch »die Imagebildung positiv beeinflussen«. Youssef wurde wegen seiner positiven Ausstrahlung zum Botschafter ernannt. Außerdem ist er furchtlos. Angst, sagt er, habe er vor nichts, und auch Sorgen macht er sich keine – nicht einmal, wenn die Vorgabe heißt: »bessere Hilfe, weniger Obdachlosigkeit, weniger Belästigung«.