Zur Geschichte des Krawalls

Gegen Baal und die Kohorten

Seit Pyramiden gebaut werden, wird auch mit Steinen geworfen. Meist war der Krawall ein Mittel, die Herrscher an ihre vornehmste Pflicht zu erinnern: ihre Unter­tanen zu ernähren und zu unterhalten.

»Es ist kein Ende des Aufruhrs«, klagt der Schreiber. »Die Beamten sind ermordet, und ihre Schriftstücke sind fortgenommen. Der König ist vom Pöbel gestürzt worden. Sehet, es ist so weit gekommen, dass das Land des Königtums beraubt worden ist.« In Ägypten scheint es etwa 2200 v. Chr. eine Revolution gegeben zu haben. War die Umverteilung, die damals offenbar stattfand (»Die keine Kiste hatte, besitzt jetzt eine Truhe, die ihr Gesicht im Wasser besah, besitzt jetzt einen Spiegel«), das Ergebnis schlichter Plünderungen oder propagierten die Aufständischen ein anderes Gesellschaftsmodell?
Über die Hintergründe berichtet der Schreiber nicht, ihm gilt der Aufruhr allein als eine betrübliche Störung der göttlichen Ordnung. Schließlich wurde diese Störung behoben und die Monarchie restauriert, es sollte noch knapp 4 200 Jahre dauern, bis der letzte ägyptische König seinen Thron verlor.
Die Stabilität der Klassengesellschaft ist ein schockierendes Phänomen. An Kritik mangelte es auch im Altertum nicht, und meist klingt sie erstaunlich modern. »Man überschüttet mit Silber, wessen Name Räuber ist, man bringt um das Letzte, wessen Nahrung dürftig ist«, deklamierte ein anonymer babylonischer Poet. Diese Klage ist eine treffliche Zusammenfassung der Krisenpolitik westlicher Regierungen, bei Attac oder der Linkspartei würde man es nur dröger formulieren.
Den modernen Globalisierungskritikern nicht unähnlich, geißeln die Moralisten des Altertums zumeist Habgier und Willkür der Mächtigen, ohne deren Herrschaftssystem grundsätzlich in Frage zu stellen oder gar ein anderes Gesellschaftsmodell zu propagieren. Die Revolution wurde sehr spät erfunden. Erst nachdem die Offenbarungsreligionen die Ideen der Gleichheit und der Erlösung verbreitet hatten, wurde eine gezielte Veränderung der Gesellschaft denkbar. Es gab jedoch immer wieder Aufruhr.

Viele jüdische Propheten waren Aufrührer, sie bekämpften die Zusammenarbeit mit den kapitalkräftigen Phöniziern, die in jüdische Bergbau- und Handelsunternehmen investierten. Bei der jüdischen Oberschicht waren phönizische Luxuswaren begehrt, für die Bauern und Hirten, die das alles bezahlen mussten und überdies durch die Kommerzialisierung der Lebensverhältnisse geschädigt wurden, wurde der phönizische Gott Baal zum Symbol für verderbliche Dekadenz.
Ein beträchtlicher Teil der Bibel ist der Darstellung der Kämpfe zwischen dem Globalisierungs­kritiker Jahwe und Baal, dem Repräsentanten des transnationalen Kapitals, gewidmet. Mit der Forderung nach einer Reichensteuer gaben sich die Propheten Jahwes nicht ab. Vielmehr sagt Elia: »Greift die Propheten Baals, dass ihrer keiner entrinne!« Er »führte sie hinab an den Bach Kison und schlachtete sie daselbst«. Es gab damals noch ein unternehmerisches Risiko. Doch ein Sieg der Propheten war nie von langer Dauer, der regressive Antiphönizianismus konnte die Kommerzialisierung nicht aufhalten.
Auch der jüdische Prophet Jesus war ein Randalierer. Allerdings trieb er die Wechsler nicht aus dem Tempel, um gegen die Geldwirtschaft im Allgemeinen, sondern um gegen die Kommerzialisierung des Gottesdienstes zu protestieren. Die Hohepriester beschlossen, ihn diskret verhaften zu lassen, »auf dass nicht ein Aufruhr werde im Volk«. Jesus war zwar der biblischen Darstellung zufolge nicht sonderlich populär, doch fürchtete man offenbar, jedweder Polizeieinsatz könne einen Krawall auslösen.
Einen Bauernaufstand zu organisieren, war eine mühselige Angelegenheit. Man musste von Hof zu Hof wandern, und wenn absehbar war, dass der Aufruhr länger dauern würde, drohte der Verlust der Ernte. In den Städten hingegen kam die Menge zwanglos zusammen, auf dem Markt, bei religiösen Festen oder Spielen. Städtische Rebellionen waren nur selten explizit politisch, sehr oft richteten sie sich gegen die Inflation, häufig auch gegen eine besonders repressive Obrigkeit. Doch entwickelte sich auch eine Haltung, die zeitgenössische Marktextremisten als Vollkaskomentalität bezeichnen würden.
Der Untertan forderte, ernährt und unterhalten zu werden. Als vornehmste Eigenschaft eines Herrschers galt die Freigebigkeit, man erwartete, dass er einen Teil dessen, was er sich angeeignet hatte, auch wieder verteilte. Versäumte er dies, mahnte man ihn zunächst mit Spottliedern und Graffiti. Blieb er halsstarrig, musste er mit einem Aufruhr rechnen. Da die Ereignisse damals ausschließlich von Angehörigen der Oberschicht aufgezeichnet wurden, sind die Details des »bargaining by riot«, wie es der britische Historiker Eric Hobsbawm nannte, unbekannt.

Häufig klagten römische Moralisten über den Sittenverfall der bildungsfernen Schichten, die im Theater, wie der Historiker Carl W. Weber feststellt, vor allem »erotische Stoffe« sowie Krimis, »gewürzt durch zahllose Ohrfeigen, Fußtritte, Prügeleien, schmachtvolle Liebesszenen, obszöne Bewegungen«, sehen wollten und es an Interesse für das Staatsgeschäft mangeln ließen. »Schon lange kümmert sich die Menge um nichts«, nörgelt der Satiriker Juvenal. »Nach zwei Dingen lechzt sie nur – nach Brot und Spielen«.
Sueton berichtet, dass die Plebs die Spiele nutzte, um weitere Forderungen vorzubringen, etwa nach einer Senkung der Weinpreise. Auch kam es immer wieder zu Tumulten. Ausgerechnet Kaiser Nero, der ansonsten nicht im Ruf steht, ein Softie gewesen zu sein, sah deren Ursache in der Anwesenheit der Kohorten und zog sie ab. Die Deeskalationsstrategie scheint jedoch versagt zu haben, denn bald darauf überwachten die Kohorten wieder die Plebs.
Das Integrationsprogramm war dennoch insgesamt erfolgreich, die Plebs ließ sich kaufen. Doch immerhin: Man musste sie kaufen. In Rom war die plebs urbana berechtigt, an den Frumentationen, der kostenlosen Verteilung von Getreide, teilzuhaben. Damals mussten die Empfänger nicht nachweisen, dass sie jederzeit dem Sklavenmarkt zur Verfügung standen, um in den Genuss staatlicher Sozialleistungen zu kommen. Unter Kaiser Augustus gab es 182 Feiertage, an jedem zweiten wurden Spiele geboten, ohne lästige Werbeblöcke.
Die Kreuzberger hingegen sollen sich mit dem vom Senat bezahlten Myfest begnügen, und wo die plebs urbana keinen Krawall zustande gebracht hat, bekommt sie nicht einmal ein solches Fest spendiert. Weil die Bourgeoisie eisern an dem Mythos festhält, es gäbe ihre Herrschaft gar nicht, fühlt sie sich auch nicht berufen, freigebig zu sein. Die Plebs zu beschenken, etwa mit Konsumgutscheinen, gilt insbesondere in Deutschland als populistisch. Wenn die Plebs solche Geschenke nicht energisch einfordert und ihre Repräsentanten gar meinen, viel wichtiger sei mehr Arbeit, muss man sich nicht wundern, wenn nach der Überschüttung der Räuber kein Silber mehr übrig ist.
Tatsächlich scheint es in Deutschland derzeit überflüssig zu sein, die Plebs zu kaufen. Zwar warnen Michael Sommer, Vorsitzender des DGB, und Gesine Schwan, die gerne Bundespräsidentin geworden wäre, vor sozialen Unruhen, doch die beiden verstehen von Krawall soviel wie Paris Hilton von der Hegelschen Rechtsphilosophie. Der Ehrgeiz der üblichen Verdächtigen ist vor dem 1. Mai in diesem Jahr etwas größer geworden, doch für ein ernsthaftes bargaining dürfte das nicht reichen.

Überdies leidet der Krawall in Deutschland an übertriebenen Ansprüchen. Mit Kommunismus und Revolution hat er nämlich wenig zu tun. Der Randalierer ist ein Bittsteller, auch wenn er sein Anliegen rabiater vorträgt, als es im Bürgerlichen Gesetzbuch vorgesehen ist. Zumeist hat er eine sehr spezifische Forderung, etwa den Erhalt eines besetzten Hauses. Im Grunde handelt es sich um eine von den Amtskirchen nicht vorgesehene Nachfolge Jesu Christi, der seinen Teilbereichskampf im Tempel für einen von der Kommerzialisierung ausgenommenen Freiraum wohl auch im Rahmen einer größeren Idee sah, sein Anliegen den Jerusalemern aber nicht verständlich machen konnte.
Zwar kann die Konfrontation mit der Staatsmacht politisierend wirken, doch wenn ein jeder, der im Tränengasnebel stand oder einen Polizei­knüppel zu spüren bekam, deshalb eine dauerhafte staats- und kapitalismuskritische Haltung angenommen hätte, stünde die Linke gewiss besser da. Vielmehr handelt es sich bei der Vorliebe für den Tumult zumeist um eine Phase jugendlichen Abenteurertums, auf die ebensogut ein Bundestagsmandat oder die Führung eines Start-up-Unternehmens folgen kann wie Arbeitslosigkeit oder die Tätigkeit in der Jungle World-Redaktion.
Man muss, das wusste bereits Nero, nicht kritisch denken, um eine Abneigung gegen uniformierte Kohorten zu entwickeln. Ein Aufruhr zieht magisch jene Männer an, die bereits im 12. Jahrhundert v. Chr. ein Lehrer mahnte: »Du gehst von Straße zu Straße, der Biergeruch all­abendlich, der Biergeruch scheucht die Menschen von dir, er richtet deine Seele zugrunde. Man trifft dich, wie du auf die Mauern steigst und das Brett zerschlägst, die Leute fliehen vor dir und du schlägst ihnen Wunden.«
Neben prekären Intellektuellen, unzufriedenen Lohnabhängigen und ehrgeizigen Jünglingen, die mit Hilfe der Plebs in den Senat kommen wollten, haben sich immer testosterongesteuerte Hooligans an Krawallen beteiligt, ob vor pharaonischen Tempeln, im Circus Maximus zu Rom oder am Kottbusser Tor in Kreuzberg. Begnügen wir uns an dieser Stelle mit der Feststellung, dass es weitaus leichter ist, die Menschen zum Steinewerfen als zum Denken zu motivieren.
Doch zu hohe Ansprüche kann man derzeit in Deutschland nicht stellen. Der Krawall hat den Vorzug, dass er kein Interesse an einer konstruktiven Mitarbeit am Staatsgeschäft erkennen lässt, und es wäre schon ein Fortschritt, wenn wieder ein Anspruchsdenken wenigstens auf antikem Niveau einkehren würde. Sollte, solange die Aneignung der Produktionsmittel nur das Anliegen einer kleinen radikalen Minderheit ist, nicht zumindest dafür Sorge getragen werden, dass die herrschende Klasse einen möglichst großen Anteil des Mehrprodukts dafür aufwendet, uns angemessen zu versorgen und zu unterhalten?