Ein Gespräch über Sprachverhalten im Internet

Torsten Siever: »Chats sind kreativ«

Der Linguist Torsten Siever lehrt an der Universität Hannover und ist Gründungsmitglied des linguistischen Forschungsprojekts sprache@web, das seit 1998 Sprachverhalten im Internet untersucht.

Im Web 2.0 wird Sprache oft nicht gerade normenkonform genutzt. Ist deshalb zu fürchten, die Normsprache des Dudens könnte dadurch Schaden nehmen?
Zunächst ist der Duden eigentlich nicht normativ, sondern nur ein Spiegel dessen, wie Sprache gebraucht wird – ihm liegen ja Untersuchungen des aktuellen Sprachgebrauchs zugrunde. Wir als Sprachteilnehmer bestimmen selbst, was im Duden steht. Natürlich hinkt der Duden dem aktuellen Sprachgebrauch immer hinterher, und die Rechtschreibfehler oder auch die häufige konsequente Kleinschreibung, wie man sie in der digitalen Kommunikation oft findet, bildet der Duden nicht ab. Aber dass sich etwa Kleinschreibung durchsetzt und dann auch eines Tages im Duden steht, ist nicht unmöglich – früher wurde ja schon einmal alles klein geschrieben.
Außerdem würde ich nicht sagen, dass das Web 2.0 der Sprache in irgendeiner Form schadet, weil man von der Funktionalität der Sprache ausgehen sollte. Warum sollte in einem Chat, der sehr schnell abläuft, korrekt geschrieben werden? Warum sollte man da etwa noch mal Fehler korrigieren oder die Groß- und Kleinschreibung beachten? Beim Chatten geht es ja ums Plaudern, und die dabei verwendete Sprache ist dieser Funktion angepasst. Wir transferieren dabei quasi unsere münd­lichen Gewohnheiten auf die Schriftsprache. Vieles in der Chat-Sprache ist auch tastaturbedingt.
Geht es bei der Chatsprache also hauptsächlich um Sprachökonomie – oder geht es auch um die Demonstration von Zugehörigkeit?
Beides spielt eine Rolle. Ökonomie ist ein sehr wichtiger Faktor. »afk« zum Beispiel – also »away from keyboard« –, wenn man das jedesmal ausschreiben würde, etwa als »ich bin mal kurz weg«, wäre das unökonomisch. Das gilt vor allem für Dinge, die sich oft wiederholen. Auch in der herkömmlichen Schriftkommunikation schreibt man etwa »z.B.«, und das ist ja durchaus konventionell.
Während in der Chatsprache Abkürzungen eine große Rolle spielen, ist die Kommunikation per E-Mail vergleichsweise konventionell. E-Mails orientieren sich noch an Briefen, sie weisen meist klassische Anreden und zum Schluss Grußformeln auf, »beste Grüße« und so weiter. Generelle Aussagen zur Sprache im Netz sind aber daher problematisch. Auch schon weil die Sprachverwen­dung in den verschiedenen Online-Communities unterschiedlich ist – beim Karrierenetzwerk Xing findet man solche sprachlichen Abweichungen gar nicht.
Ich würde schon daher nicht sagen, dass es ­irgendein Problem mit der Web-Sprache gibt. Pro­ble­matisch würde es nur, wenn diejenigen, die chatten, ihre Sprachgewohnheiten aus dem Chat auf andere Kommunikationsformen übertragen würden.
Passiert das? Haben Chatter Probleme, in ihren Hausarbeiten elaborierte hypotaktische Wissenschaftssprache zu schreiben und die Emoticons mal wegzulassen?
(Lacht.) Das ist eine schwierige Frage. Ich habe von Untersuchungen gelesen, die genau das herausgefunden haben wollen. Ich bin mit solchen Aussagen zurückhaltend, weil man das kaum untersuchen kann. Man müsste dabei heavy users finden, deren Hausarbeiten ansehen und die mit Arbeiten von Studenten vergleichen, die sich kaum im Netz bewegen. Und dabei müsste man natürlich ausschließen, dass die Unterschiede dann nicht doch eher an verschiedenen Bildungshintergründen liegen.
Das heißt aber nicht, dass da nicht irgendein Zusammenhang bestehen könnte – je mehr man sich im Netz bewegt, um so mehr tendiert man vielleicht dazu, die dortigen Gewohnheiten auch zu verwenden, wo sie manchen eher unpassend erscheinen. Bei klassischen Briefen etwa werden mittlerweile auch Smileys verwendet.
Haben die Kommunikationsgewohnheiten im Internet Auswirkungen auf das Rezeptionsverhalten? Können etwa so genannte digital natives eigentlich noch einen längeren Text auf Papier lesen, wenn rechts und links keine Animationen blinken?
An den Hausarbeiten sieht man, dass immer weni­ger gelesen wird und immer mehr aus Wikipedia zitiert wird, auch wenn wir versuchen, das zu verhindern. Man muss auch sehen, dass jetzt die Bibliotheken vieles scannen und online zur Verfügung stellen – das ist einerseits toll, man muss nicht in die Bibliothek, sondern lädt sich den Text herunter und macht eine Volltextsuche. Andererseits droht auch uns Wissenschaftlern dadurch die Überfrachtung mit Information. Wir finden immer weniger Zeit, ein Buch oder besser: drei Bücher zur Hand zu nehmen, die in Ruhe durchzulesen und dann darüber nachzudenken, auch weil man ständig kommunizieren muss.
Betont die germanistische Sprachwissenschaft das innovative Moment der Netzsprache deshalb, weil sie ihren angestaubten konservativen Ruf loswerden will?
Nein, definitiv nicht. Auch wenn die Abweichungen im ersten Augenblick vielleicht erschreckend aussehen, wäre es vielmehr angestaubt, wenn wir bei der Analyse etwa beklagen würden: »Hier wird jetzt schon der dritte Anglizismus verwendet – unsere deutsche Sprache ist in Gefahr.« Oder wenn wir etwa der Großschreibung hinterhertrauern würden. Es ist faktisch eben so, dass dieser Sprachgebrauch kreativ ist, weil er neue Ausdrucksformen hervorbringt – besonders in Chats. Wenn man sich in solche Chats einmal eingelesen hat und irgendwann keine »Vokabeln« mehr nachschlagen muss, sondern die Kürzel und Ausdrücke auswendig weiß, sind sie wirklich hochamüsant zu lesen – größtenteils.
Trotzdem wäre es auch nicht ganz falsch zu sagen, die Rechtschreibung ist katastrophal und viele Teilnehmer können gar nicht anders schreiben. Aber dass man so viele Rechtschreibfehler im Netz liest, liegt auch an einer neuen Transparenz von Geschriebenem innerhalb dieses Mediums. Vor langer Zeit konnten etwa nur diejenigen an öffentlicher schriftlicher Kommunikation teilnehmen, die Latein beherrschten. Heute im Internet können das eben alle Sprachteilnehmer. Da schreiben eben auch die, die früher nicht geschrieben hätten – geschweige denn veröffentlicht worden wären. Insofern sieht man tatsächlich auch viele Fehler, die keine Flüchtigkeitsfehler sind, sondern aus Unwissenheit gemacht werden. Das liegt aber eher am Bildungssystem und nicht daran, dass die Technik die Rechtschreibung untergräbt.