Über das Buch »In die Sonne schauen. Wie man die Angst vor dem Tod überwindet« von Irvin D. Yalom

Der Hammer gegen die Angst

Der Therapeut und Romancier Irvin D. Yalom hat einen Lebensratgeber für gehobene Ansprüche geschrieben. Er erklärt mithilfe seiner Hausgötter Schopenhauer und Nietzsche, warum es besser ist, seiner eigenen Sterb­lichkeit ins Auge zu blicken.

Der Geist aus der Zukunft, der den Geizhals am Kragen packt – Charles Dickens’ Ebenezer Scrooge, der reiche Mann, der zum Weihnachtsfest eine Erweckungs­phantasie hat, die ihn vom Reich­tum des Geldschranks zum Reichtum des Lebens zurückführt, ist eine Schlüsselfigur der kon­frontativen Psychotherapie, der korrektiven Lebensführung.
»Selbstbewusstheit ist eine hohe Gabe, ein Schatz, so wertvoll wie das Leben« – so beginnt der US-amerikanische Psychotherapeut und Autor dreier Romane und mehrerer Sachbücher, Irvin D. Yalom, sein neuestes Werk. Es heißt »In die Sonne schauen«, und das ist es, was Yalom in Dickens’ Erzählung zu finden glaubt: Sei­nen eigenen Leichnam zu sehen, das sei eine Er­fahrung, die einen zum einfühlenden Menschen machen könne. Die Sonne ist zu hell zum Hinsehen, man wird blind davon, man könne ihr nicht ins Gesicht sehen, wie der französische Autor La Rochefoucauld einst schrieb. Und doch rät Yalom seinen Lesern, zu tun, was der ersten Empfindung widerspricht: Das, was wir von uns in aller Selbstgewahrwerdung zu sehen bekommen, sei womöglich hell, aber nichts Schönes – die Sonne, das ist der eigene Tod. Das Wissen darum nennt Yalom die »Wunde der Sterblichkeit«.
Jeder ernsthafte Autor, schreibt der ernsthafte Autor, habe sich mit der menschlichen Sterb­lichkeit befasst. Wie man die Todesangst überwindet, darüber glaubt Yalom in seinem langen Therapeutenleben einiges gelernt zu haben. Aus seiner Praxis gewinnt er die Einsicht, dass die Philosophie zwei Spielwiesen kennt: Auf der einen wird darüber gestritten, wie die Dinge sind. Auf der anderen wundert man sich darüber, dass überhaupt etwas ist. Die zweite philosophische Richtung ist es, die im Kern sagt, dass das Nicht­sein das Energiezentrum des Seins ist.
Die Konfrontation mit dem eigenen Tod läuft selten reibungslos ab. »Für einige von uns manifestiert sich die Furcht vor dem Tod nur indirekt, entweder als allgemeine Beunruhigung oder als sonstiges psychologisches Symptom ver­kleidet; andere erleben die Angst vor dem Tod sehr deutlich und bewusst; und bei manchen von uns bricht sich die Furcht vor dem Tod Bahn in einer panischen Angst, die jedes Glück und jede Erfüllung zunichte macht.«
Yalom, 1931 in Washington als Sohn russischer Einwanderer geboren, hat sein ganzes Psycho­analytikerleben vom Tod her gedacht bzw. denken müssen. Zum Berufsstart leitete der junge Arzt eine Gruppentherapie mit sterbenden Krebs­patienten. Die Arbeit mit diesen Todgeweihten prägte ihn als Analytiker und Autor. So wurde er zum wahrscheinlich prominentesten Vertreter jener Gesprächsschule, die das Leben vom Standpunkt des Nichtlebens betrachtet.
Zu seinen Wegbereitern zählt Yalom, dem jeg­licher esoterische Glaube fremd ist, die am wenigstens heilsversprechende und damit paradoxerweise am meisten Trost spendende Schule der Philosophie: die der Lebenstheoretiker Friedrich Nietzsche, Sören Kierkegaard und Arthur Schopenhauer.
Ihnen widmete er große Teile seines literarischen Schaffens. Seine Bücher tragen Titel wie »Und Nietzsche weinte« oder »Die Schopenhauer-Kur«. Seine Methode ist es, mit Nietzsche gesprochen, »mit dem Hammer zu philosophieren«: Nach dem Tod, vermittelt er seinen Klienten, ist es wirklich aus, nicht nur mit dem Körper, sondern mit allem. Aus dieser Perspektive könne man eine zutiefst dem Leben zugeneigte Haltung gewinnen, und seine Aufgabe als Therapeut sehe er darin, diese Haltung zu vermitteln. Er arbeite an einer Verbesserung der kon­kreten Lebensumstände, schreibt Yalom.
Weitere wichtige Bezugspunkte bilden die Werke von Epikur, dem Philosophen der guten Lebensführung (»Wo der Tod ist, kann nicht Ich sein«), und Viktor Frankl, dem Erfinder der Logotherapie. Epikur hat mit der Freude am Sein die Todesfurcht überwunden, indem er sie einander bedingen ließ. Frankl, ein Psychiater, der als Gefangener vier Jahre im KZ Auschwitz zubringen musste, hat aus der Erfahrung des allgegenwärtigen Todes eine Strategie des nackten Lebens gewonnen: »Sinn muss gefunden werden«, sagt Frankl. »Er kann nicht erzeugt werden.«
Yalom hat sich diese Art, jeglichen Übersinn in Frage zu stellen, zueigen gemacht. Seine Popularität als Schriftsteller hat er paradoxerwei­se als Fachbuchautor begründet. Die Tipps, die er angehenden Therapeuten gibt, kommen erstaunlicherweise auch den Klienten zugute, weil sich der ratsuchende Leser durchaus in ent­lastender Weise in die Person des Therapeuten versetzen kann: Was würde ich tun, wenn ich mich therapieren müsste?
Dabei setzt Yalom auf eine Mischung von Methoden und schlägt einen therapeutischen Pluralismus vor, bei dem effektive Maßnahmen aus unterschiedlichen Therapieansätzen kombiniert werden. Denn worum geht es letztlich in der Psychotherapie? Zwei Leute unterhalten sich. Der »Patient« hat ein Problem, und meist hat er es mit anderen Menschen. Allerdings nützt es dem Therapeuten wenig, wenn der Patient von diesen berichtet. Es wäre immer nur eine durch den Patienten vermittelte Sicht. Wirk­lich stimmige Informationen liefert nur die Interaktion während der Therapiestunden. Yalom geht davon aus, dass der Mensch existenziell auf Sinn ausgerichtet ist. Nicht erfülltes Sinnerleben kann zu psychischen Krankheiten führen.
Womit sind nun die Leute fast 50 Jahre zum Therapeuten Yalom gerannt? Sie kamen nicht mit dem Leben zurecht und verzweifelten an den Härten des Daseins. Was kann der Therapeut ausrichten? »Die Freundschaft zwischen Therapeut und Patient ist eine notwendige Bedingung für den therapeutischen Prozess. Notwendig, aber nicht ausreichend. Die Psychotherapie ist kein Ersatz, sondern eine Generalprobe fürs Leben. Anders gesagt, erfordert sie zwar eine enge Beziehung, doch die Beziehung ist nicht das Ziel – sie ist ein Weg zum Ziel«, schreibt er in einer seiner früheren Veröffentlichungen, »Der Panama-Hut«.
Sigmund Freuds Psychoanalyse und ihre stark mit den Themen Sexualität und frühe Kindheit verbundene Neurosenlehre ist mit einer Anatomie der Seele vom Tode her schlecht zu vereinbaren. Fehlerhafte Entwicklungen der kindlichen Seele mag es auch schon während der Schwangerschaft geben. Und wer weiß, welchen Ballast man von früheren Zeiten her mit sich herumschleppt – vielleicht Erinnerungen daran, dass die Vorfahren Fische waren? Nimmt nicht jeder Embryo erst einmal die Form eines Wasserwesens an? Die Eltern mögen schlimm sein, für die Entwicklung des Lebens auf der Er­de können sie nichts. Es ist eine Standard­übung der psychoanalytischen Behandlung von Kindheitstraumata, sich die Eltern in der Reihe ihrer Ahnen vorzustellen. In der Tat: Diese Reihe kann sehr lang sein.
Anders als alles menschliche Fehl- oder Wohlverhalten ist das Nichtsein der Urzustand. Lebewesen, so Yalom, sind die meiste Zeit im Zustand des Todes. Sterben sei bloße Rückkehr in den Zustand vor der Geburt. Was soll daran ängstigend sein?
Der Mensch sei das einzige Wesen, dass durch seine Existenz das Ableben fürchten lerne. Die Anzeichen dafür seien überall präsent, auch wenn sich die Kultur alle Mühe gebe, sie zu über­decken. Tote Blätter und Insekten, Haustiere, Großeltern, die plötzlich verschwinden, trauernde Angehörige.
Die Angst vor dem Tod, so Yalom, unterscheide den Menschen vom Tier: Jede Religion, jede Kulturleistung sei der mehr oder minder klägliche Versuch, sich das Undenkbare begreiflich zu machen. »Auch ich fürchte den Tod wie jeder Mensch«, schreibt er. »Er ist unser düsterer Schatten, der sich nicht abschütteln lässt.«
Dennoch sei die Auseinandersetzung mit dem Tod gewinnbringend.
Seine Arbeit mit Krebspatienten habe ihn ge­lehrt, wie sehr das Wissen um den nahenden Tod bei vielen seiner Patienten zu einer neuen Art des gelassenen Denkens geführt habe. Nicht nur, dass sie nun in der Lage gewesen seien, Ent­scheidungen zu treffen, die ihnen wirklich am Herzen lagen. Sondern vor allem: Dinge (nicht mehr) zu tun.
»In die Sonne schauen« sei kein düsteres Buch, schreibt der Autor: »Meine Hoffnung ist vielmehr, dass wir begreifen, wie kostbar jeder Moment ist und wie tröstlich unser Miteinander, wenn wir unserer Endlichkeit, unserer kurzen Zeit im Licht, wirklich ins Auge sehen.«
Auffällig – und eine Folge des US-amerikanischen Gesundheitssystems – ist es, dass bei Yalom selten ganz arme Leute in der Sprechstun­de sitzen, die sich die Therapie vermutlich nicht leisten können. Handfeste soziale Problematiken bieten seine Bücher denn auch selten. Seine Klientel sind geschiedene Börsenmaklerinnen, reiche Witwen, Psychiatrie-Professoren und Architekten. In der Ballung verwundert einen dies schon, zumal es den Eindruck vermittelt, es sei der Normalfall, dass man sich unbelastet von materiellen Sorgen seinen Ängsten widmen könnte – neun Zehntel der Weltbevölkerung kann dies nicht. Yalom arbeitet also in einer Umgebung relativen Wohlstands. Die Knack­punkte im Leben: runde Geburtstage, beunruhigende Träume, Sex.
Auf den ersten Blick mag dies zum Kitsch ten­dieren. Aber Yalom ist Geschichtenerzähler genug, um für den Leser Grenzsituationen auszuleuchten. Da ist die Frau in fortgeschrittenem Alter, die mit großer Energieleistung ihrem kaputten Elternhaus entkam und nun vor dem Dilemma steht, dass ihr Sohn ins Drogenmilieu abrutscht. Ihre Angst ist eine Übertragung – eigentlich fürchtet sie sich vor dem Altern ihres Körpers. Da ist der Anwalt, der seinen 50. Geburtstag nicht verkraftet und von Sterbevisionen heimgesucht wird. Ein 40jähriger Psychotherapeut fühlt sich schuldig am Tod seiner alkohol­kranken Schwester und stößt damit durch die dünne Hülle seines eigenen Lebensentwurfs. Ein 68jähriger Chirurg kommt wegen seiner hartnäckigen Angst angesichts der bevorstehenden Pensionierung in die Sprechstunde.
Der Tod sei aber keine Sache nur fürs Alter, Jugendliche setzten sich intensiv mit dem Tod auseinander. Später gelinge ihnen die Verdrängung der bedrohlichen Gedanken durch die Lebenspraxis – im Beruf und durch die Kinderaufzucht. Sind die Kinder aus dem Haus und ist die Karriere ruiniert – die Lektüre kann durchaus amüsant sein –, bricht das Thema wieder durch: Der erste Herzinfarkt hat jetzt den Männern gezeigt, wo es langgeht, bei den Frauen geht das Bindegewebe in die Binsen.
Yalom misst dem Alter dennoch Sonderstatus zu, und dass man mit 70 keine Therapie mehr beginnen sollte – wofür denn jetzt noch? – ist ihm ein völlig fremder Gedanke. Denn im Alter werden die Anzeichen für das eigene Ableben deutlicher. Das Leben vergeht dann zwar nicht schneller. Aber es ist wie mit der Sanduhr: Wenn oben weniger Sand vorhanden ist, rieselt er nicht schneller, aber man kann ihm beim Rieseln zusehen. Auch hier gilt es, passende Strategien zu entwickeln. Eine davon nennt Yalom den »Welleneffekt«, von dem er sich selbst betroffen fühlt: »Ich kann nicht leugnen, dass es für mich einen ganz persönlichen Wert hat, dieses Buch über den Tod zu schreiben. Ich glaube, es wirkt dahingehend, mich zu desensibilisieren, denn ich vermute, wir können uns an alles gewöhnen, sogar an den Tod.« Er schreibe haupt­sächlich als Lehrer: »Ich beziehe große Befriedigung daraus, etwas von mir selbst in die Zukunft weiterzureichen.« Sein Wissen könne sich »auf unvorhersehbaren Wegen in kleinen Wellen unter Menschen ausbreiten, die ich nie kennen werde«.
Braucht ein Mensch einen Therapeuten, wenn er enge Freunde hat? Gute Freunde seien wesentlich für ein gutes Leben. Wenn jemand von guten Freunden umgeben sei, oder anders ausgedrückt, die Fähigkeit habe, dauerhaft intime Beziehungen zu formen, sei es viel weniger wahrscheinlich, dass er einer Therapie bedürfe. Doch bleibe ein großer Unterschied: »Nur bei Therapeuten ist es wahrscheinlich, dass sie einem im Hier und Jetzt begegnen.« Ein grundsätzlicher Katechismus der psychotherapeutischen Ausbildung sei, dass die Therapiesituation ein sozialer Mikrokosmos sei – die Patienten legten früher oder später in der Therapiesituation das gleiche Verhalten an den Tag »wie in ihrem Leben draußen«.
Am Ende sei der Hilfesuchende nach Yalom aufnahmebereit für die fundamentale logische Folgerung: Wenn man für das, was im eigenen Leben falsch gelaufen sei, die alleinige Verantwortung übernähme, dann könne nur man selbst und niemand anderer daran etwas ändern.
Was nicht gerade weniger bedrückend ist, als wenn man sich einem allmächtigen Gott aus­liefert. Wofür stehen diffuse, neurotische Ängste? Laut Yalom ist die latente Angst im Alltag un­bewältigte Todesangst. Mit jedem krisenhaften Ereignis bricht diese schlecht verheilte Wunde wieder auf. Scheidung, Verlust von Angehörigen, Kündigung, Krankheit. Todesfurcht sei darum viel zu selten Thema der Psychotherapie. »Therapeuten vermeiden das Thema aus einer Reihe von Gründen: Sie leugnen die Präsenz oder die Relevanz der Todesfurcht; sie behaupten, dass Todesfurcht in Wirklichkeit die Furcht vor etwas anderem sei« – wo es sich genau umgekehrt verhält: Alles andere ist in Wirklichkeit Todesangst. »Sie mögen fürchten, ihre eigenen Ängste zu entfachen; oder sie fühlen sich vielleicht zu ratlos oder verzweifelt angesichts unser aller Sterblichkeit.«
Die Therapie ist nicht nur für den Patienten eine Aufforderung, an sich zu arbeiten. Nur der Mensch, der glaubwürdig sei, könne den therapeutischen Prozess zum Erfolg zu bringen: »Auf­richtigkeit erhält eine neue Dimension, wenn ein Therapeut ernsthaft existenzielle Probleme behandelt.« Man müsse ein medizinisches Modell aufgeben, das postuliere, solche Patienten seien von einem seltsamen Leiden befallen und bräuchten einen leidenschaftslosen, fehler­freien, distanzierten Heiler. »Wir sind alle mit demselben Schrecken konfrontiert, der Wunde der Sterblichkeit, dem Wurm im Kern der Existenz.«
Epikur glaubte, dass die erschreckende Vision des unausweichlichen Todes keine Freude ungetrübt lasse. Rein gedankliche Strategien halfen ihm bei der Bewältigung: Was Furcht verbreite, sei selbst nicht ohne Furcht, lautet einer seiner Lehrsätze. Die beiden schönsten überlieferten Fragmente Epikurs sind aber diese – Aphorismus 35: »Die Natur hat uns zur Gemeinschaft geschaffen.« Aphorismus 38: »Lebe zurückgezogen!«
Der mit der Furcht ist Nummer 37.

Irvin D. Yalom: In die Sonne schauen. Wie man die Angst vor dem Tod überwindet. btb, München 2008, 270 S., 21,95 Euro