Der Staat und seine Schulden

Der wohlfeile Staat

Seit Anbeginn haben moderne Staaten Schulden gemacht. Doch in Deutschland soll damit im Jahr 2019 Schluss sein. Da außerdem die Steuern gesenkt werden sollen, muss bei den Ausgaben gespart werden.

Der Marktradikalismus ist ein zugleich kultur­elles, ökonomisches und politisches Phänomen. Seine Anhänger haben sich zum Ziel gesetzt, gleich in mehreren Bereichen die Ernährungskrankheit des Keynesianismus zu heilen: Fett­leibigkeit. Als politisches Ideal gilt ihnen der »schlanke Staat«. Bis zum Jahr 2008 konnte ­Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) hier schö­ne Erfolge teils vorweisen, teils ankündigen. Bis 2011 werde die Nettoneuverschuldung auf Null sinken, hieß es.

Dann kam die Wirtschaftskrise. Die Staatsverschuldung wächst wie nie zuvor, und damit zugleich die Staatsquote. Das ist nötig, um Banken zu retten, die Autoindustrie zu stützen und Konjunkturprogramme aufzulegen. Plötzlich lacht sich das Feuilleton über die marktfrommen Ökonomen tot, Keynes und der starke Wirtschaftsstaat scheinen rehabilitiert. Von einem Moment zum anderen ist nichts mehr, wie es vorher war, das klingt beinahe nach einer Revolution. Doch die Konterrevolution lauert schon: Die mögliche Veränderung wird revidiert oder – besser noch – in letzter Minute verhindert.
Dies versucht die Bundesregierung. Zwar muss sie derzeit viel Geld leihen und sofort ausgeben. Zugleich aber bereitet sie eine Verfassungsänderung vor, derzufolge der Bund und die Länder ab dem Jahr 2019 im Prinzip keine Schulden mehr aufnehmen dürfen.
Dem Beobachter stockt der Atem. Hier wird nicht nur die Doktrin von der Wünsch- und Machbarkeit des »schlanken Staats« heroisch gegen alle evidenten Tatsachen verteidigt, der Weg zu diesem Ziel könnte in Zukunft sogar noch viel konsequenter beschritten werden.

Krieg führen, Steuern erheben, Geld ausleihen – dies waren die wesentlichen Merkmale des Staats der Neuzeit vor dem Hintergrund des aufsteigenden Kapitalismus. Es begann im Hundertjährigen Krieg, der von 1337 bis 1453 zwischen den Königreichen England und Frankreich geführt wurde. Der Krieg war eine teure Angelegenheit, nicht nur wegen seiner Dauer, sondern auch wegen der schweren Feuerwaffen, mit denen er nach einiger Zeit ausgetragen werden musste. Das nötige Geld liehen sich die Krieg führenden Monarchen bei den Handels­kapitalisten. Um es zurückzahlen zu können, wurden Steuern eingeführt. So entstand die »schwebende Staatsschuld«. Ihr Partizip Präsens (»schwebend«) hat sie wohl davon, dass sie wie ein Damoklesschwert über den Häuptern der armen Monarchen hing. Sauste es herab, waren sie pleite. Diese Gefahr wurde zwischen 1688 und 1756 in Großbritannien behoben, indem die »schwebende« durch die »fundierte« Staatsschuld ersetzt, also auf Dauer geregelt wurde.
Das war eine der Voraussetzungen für den Aufstieg des Landes zur führenden kapitalistischen Macht. Anleihen wurden, nachdem sie abgelaufen waren, nicht mehr endgültig getilgt, sondern sie wurden erneuert und entwickelten sich zu handelbaren Papieren. Wer dem Staat Geld geliehen hatte, konnte es jederzeit auch dadurch wiedererlangen, dass er die Schuldverschreibung verkaufte. Die Verzinsung erfolgte über Steuern, die in der Folgezeit nicht mehr an Gläubiger vergeben, sondern ausschließlich von der staatlichen Finanzverwaltung erhoben wurden.
Damit war eine Basis moderner Staatlichkeit: der ständige Staatskredit in der Form, wie er bis heute besteht. Dieser befindet sich in einem Wechselverhältnis zum privaten Kapital. Das Privatkapital wird einerseits zur Finanzierung des Staates herangezogen, andererseits entstehen Wertpapiere, die staatlich gedeckt und zwischen Privaten handelbar sind und die ihre Ren­dite aus staatlichen Steuern beziehen. Man kann sich leicht vorstellen, welche Bedeutung dieses System bis heute hatte. Der Staat konnte dringende Vorhaben (vom Krieg bis zur Infrastruktur) finanzieren. Geldvermögensbesitzer hatten und haben eine sichere Anlage.

Durch die Einführung des Schuldenverbots bis 2019 würde der Staat in einen vormaligen Zustand zurückkehren, als er sozusagen von der Hand in den Mund lebte. Er könnte sich nur noch über Steuern finanzieren. Diese müssten enorm steigen, wenn er dieselben Ausgaben zu tätigen hat wie bisher.
Allerdings hört man gerade ständig, dass die Steuern gesenkt werden sollen. Die Parteien der Großen Koalition, die Grünen und die FDP sind sich darin einig. Gestritten wird lediglich noch über Ausmaß und Zeitpunkt. Keine Schulden mehr, gleichzeitig Steuersenkungen – wie geht das zusammen?
Man könnte die Ankündigung für einen Reklametrick im Wahljahr halten, für ein Versprechen, das nach dem 27. September wieder gebrochen wird. Vielleicht ist das ja so. Dann blieben Bund, Länder und Gemeinden auf ihren nunmehr sehr hohen Schulden sitzen und müssten sie, um ihren Aufgaben nachzukommen, sogar noch ständig erhöhen. Man kann sich aber schlecht vorstellen, dass die marktradikalen Kämpfer ihr Ideal des »schlanken Staats« so einfach aufgeben und sich ihre Erfolge der vergangenen 30 Jahre wieder nehmen lassen.
Ein Ausweg öffnet sich, wenn nicht nur weniger Kredite aufgenommen und die Steuern gesenkt, sondern auch die Ausgaben des Staates verringert werden. Bleibt er auf die klassischen Funktionen beschränkt, die schon bei Adam Smith nachgelesen werden konnten (Bau von Straßen und Brücken, Innere und Äußere Sicherheit), dann wird er wohlfeil und lässt sich mit weniger Steuern bezahlen. Mit dem Sozialstaat wäre es dann allerdings aus, mit Bildung für alle und unentgeltlich genutzter Infrastruktur auch. Aus dem Anleihe- und Steuerstaat würde ein Gebührenstaat, ein Dienstleister für diejenigen, die ihn sich mieten können. Gegen alle, die dann nicht mehr dazugehören, wird man die Aufwendungen zur Finanzierung von Gefängnissen – gern auch privatisiert, vielleicht im »Sale-and-lease-back-Verfahren« – erhöhen müssen.
So ungefähr hat man sich die marktradikale Utopie vorzustellen. »Visionen« werden selten verwirklicht, sind aber dennoch nützlich. Die Schritte, die auf dem Weg zum letztlich unerreichbaren Ziel zurückgelegt werden, sind für die Anhänger einer Utopie besser als nichts. Einschnitte im Sozialsystem können gerechtfertigt werden, solange die Ideologie von der Verwerflichkeit der Staatsschulden hegemonial bleibt. Zurzeit ist dies, wie die Umfragewerte der FDP zeigen, offenbar noch der Fall.

Die zukünftige Richtung in der Sozialpolitik lässt sich jetzt schon daran erkennen, dass Pläne für Steuersenkungen immer nur die direkten Steuern betreffen, nicht aber die Verbrauchssteuern. Über eine Senkung der Mehrwertsteuer wie in Großbritannien wurde in Deutschland erst gar nicht diskutiert. Progressiv gestaffelte direkte Steuern treffen die Besserverdienenden stärker und sind deshalb zu senken; Verbrauchssteuern treffen die Ärmeren stärker und sollen auf der bisherigen Höhe bleiben. Da in der Krise Deflationsgefahr, nicht aber Inflationsgefahr besteht, sind vorerst vermutlich nicht einmal Proteste gegen diese ungleiche Art der Belastung zu befürchten.