Spendenaffäre und Wahlkampf in Großbritannien

Mit Darth Vader nach Strasbourg

Nach der Spesenaffäre im britischen Parlament bereitet sich die Labour-Partei auf ein Debakel bei der Europawahl vor. Von der Staatskrise könnten die rechtsextreme BNP und die rechtspopulistische UKIP profitieren, die sich derzeit als »Protestparteien« zu profilieren suchen.

Sir John Trevor hatte eine lange und erfolgreiche politische Karriere hinter sich. Doch das half ihm nichts, als ein Gericht befand, dass er sich hatte bestechen lassen. Ohne langes Zögern entfernte man ihn von einem der prestigeträchtigsten politischen Posten im Vereinigten Königreich. Sir John Trevor war der Sprecher des Parlaments in Westminster, seinen Job aufgeben musste er im Jahr 1695. Als vergangene Woche Michael Martin seinen Rückzug von eben diesem Posten bekannt gab, war er der erste Speaker des britischen Unterhauses seit über 300 Jahren, der zum Rücktritt gezwungen wurde. Die Affäre um die Spesenabrechnungen der britischen Parlamentsabgeordneten stürzte in den vergangenen Wochen das älteste parlamentarische System Europas in eine schwere Krise.

Alles begann vor zwei Wochen mit der Veröffentlichung von eigentlich geheimen Informationen über zweifelhafte Abrechnungen von 80 der 646 Abgeordneten des Unterhauses in der Tageszeitung Daily Telegraph. Am Wochenende gab die Zeitung bekannt, wer ihr die Details über die Abrechnungen zugespielt hatte. Es handelt sich um John Wick, einen Versicherungsberater und früheren Offizier der britischen Spezialeinheit SAS, der die brisante CD an den Daily Telegraph weitergab.
Die Abrechnungen zeigen, wie Abgeordnete sich eifrig selbst bedienten und unklare Vorgaben zu ihrem Vorteil nutzten. Nachdem zu Beginn des Jahres Wirtschafts- und Bankmanager wegen ausufernder Bonus-Zahlungen in die öffentliche Kritik geraten waren, stehen nun die Politiker in der Kritik. Auch wenn der Umfang der kritisierten Zahlungen oft vergleichsweise gering ist, bestätigen sie das, was viele Wähler über »die da oben« ohnehin denken: Politiker stellten ihr eigenes Wohl über das öffentliche, in dessen Namen sie handeln. Die Geringfügigkeit vieler der veröffentlichten Summen ist dabei erstaunlich. Die Liste der reklamierten Spesen beinhaltet Rechnungen für Gartenarbeiten, wie im Falle des Sprechers der Liberaldemokraten, Nick Clegg, der dafür 680 Pfund anmeldete. Die britischen Steuerzahler erfuhren weiterhin, dass sie für Sportkabelfernsehen, Toilettensitze, Staubtücher oder Hosenpressen der Abgeordneten bezahlt hatten.
Die Abrechnung solcher Lappalien als Spesen stößt vielen Briten bitter auf. Britische Abgeordnete verdienen jährlich rund 65 000 Pfund, das Dreifache des britischen Durchschnittsgehalts. Neben den Details der Kostenabrechnungen werden viele Abgeordnete wegen der so genannten Zweitwohnungszulage kritisiert. Diese Zulage soll es Abgeordneten ermöglichen, in London einen zweiten Wohnsitz neben dem in ihrem Wahlkreis zu unterhalten und die Hypothekenzinsen für diese Wohnungen zu bezahlen. Wie die Veröffentlichungen jetzt zeigen, haben einige Abgeordnete allerdings über Jahre weiter reklamiert, obwohl die Kredite für den Immobilienkauf längst abgezahlt waren. Andere haben die Regelung zu ihrem Vorteil ausgelegt und zum Beispiel den Zweitwohnsitz zum Erstwohnsitz erklärt, wenn die Kredite abgezahlt waren, und das Geld für die andere Immobilie reklamiert.
Der Parlamentssprecher musste gehen, weil er als Verantwortlicher für die Spesenabrechnungen der Parlamentarier die Vergabepraxis nicht früher korrigiert hat. Noch zu Beginn der Spesenaffäre reagierte er nur sehr zögerlich und wies Forderungen nach einer umfassenden Reform zunächst zurück. Sein Zögern hat die Krise in den Augen seiner Parlamentskollegen verschlimmert, und schließlich sprachen sie ihm ihr Misstrauen aus.
Martin ist nicht der einzige Politiker, der in dieser Krise seinen Job verloren hat. Der Staatssekretär für Justiz, Shahid Malik, trat zurück, weil er in drei Jahren über 60 000 Pfund der Zweitwohnungszulage bezogen hat, obwohl er bloß ein Haus in London besitzt und seine Wohnung in seinem Wahlkreis mietet. Elliot Morley, ehemaliger Staatssekretär im Umweltministerium, wurde von der Labour-Fraktion suspendiert. Auch Minister sind inzwischen zum Rücktritt aufgefordert worden, insbesondere Hazel Blears, Ministerin für Gemeinschaftsfragen, der vorgeworfen wird, durch die Manipulation der Erklärung von Erst- und Zweitwohnung rund 12 000 Pfund Steuern gespart zu haben. Öffentlichkeitswirksam übergab sie in der Folge einen Scheck an das Finanzamt, bestand allerdings auf ihrer Unschuld. Pikant ist, dass Blears den sehr armen nordenglischen Wahlkreis Salford vertritt und sich selbst zur Vertreterin der Arbeiterklasse im Parlament stilisiert. Gegen zwei weitere Kabinettsmitglieder, Verkehrsminister Jeffrey Hoon und Arbeitsminister James Purnell, stehen ähnliche Vorwürfe im Raum.
Auch in den anderen Parteien hatte der Skandal bereits Konsequenzen. Oppositionsführer David Cameron schasste einen seiner parlamentarischen Berater, den altgedienten Andrew MacKay. Bei den Liberaldemokraten trat vergangene Woche der Generalsekretär, Lord Rennard, zurück. Auch er war im Spesenskandal in die Schlagzeilen geraten, verneinte allerdings einen Zusammenhang mit seinem, wie er sagte, »gesundheitlich bedingten« Rücktritt. Viele in den Spesenskandal verwickelte Abgeordnete aus verschiedenen Parteien haben darüber hinaus in den vergangenen Wochen erklärt, bei den nächsten Unterhauswahlen, die spätestens im Juni 2010 stattfinden müssen, nicht wieder anzutreten.
Oppositionsführer David Cameron hat in der Folge der Krise Premierminister Gordon Brown bereits aufgefordert, sofortige Neuwahlen anzustreben, um einen »Neuanfang zu ermöglichen«. Cameron, dessen eigene Spesenabrechnungen keinerlei Makel aufwiesen, hatte zu Beginn des Skandals schnell reagiert. Kein konservativer Politiker, der in den Skandal verwickelt ist, habe eine politische Zukunft in der Partei, gab er bekannt. Die stellvertretende Parteivorsitzende der Labour-Partei, Harriet Harman, erklärte, man müsse Vorwürfe im Einzelfall prüfen, und wies Camerons Vorgehen als populistisch zurück.

Der Spesenskandal überschattet den Europa-Wahlkampf in Großbritannien. Während Labour ohnehin kaum Gutes von den Wahlen erwarten kann, scheinen nun sämtliche etablierten Parteien diskreditiert. Darüber hinaus artikuliert sich bei Europa-Wahlen in Großbritannien traditionellerweise die wohlbekannte Skepsis vieler Briten gegenüber dem europäischen Integrationsprozess. Außerdem werden die Europa-Wahlen nach dem Verhältniswahlrecht abgehalten. Anders als bei den Wahlen zum Unterhaus haben hier auch kleine Parteien eine realistische Chance, Abgeordnete ins Parlament zu entsenden. Von der »Euro-Skepsis« und dem Spesenskandal könnte so insbesondere die UK Independence Party (UKIP) profitieren. Bereits bei den vorigen Wahlen war die UKIP erfolgreicher als die pro-europäischen Liberaldemokraten und war drittstärkste Kraft geworden.
Damals hatte ihr Spitzenkandidat Robert Kilroy-Silk angekündigt, das Europa-Parlament »verschrotten« zu wollen. Auch diesmal beschränkt sich das Programm der Partei auf die Forderung nach dem sofortigen Austritt aus der EU. Unterstützt wird die UKIP von verschiedenen Prominenten, darunter Dave Prowse. Der Schauspieler verkörperte den der dunklen Seite der Macht verfallenen Darth Vader im Film »Star Wars«. Der UKIP ist es nie gelungen, sich auf britischer Ebene in Wahlen zu behaupten, doch derzeit deuten Umfragen darauf hin, dass sie am 4. Juni sogar die Labour-Partei übertrumpfen könnte.
Auch Cameron hat bereits versucht, im anti-europäischen Milieu Stimmen zu gewinnen, indem er ankündigte, die britischen Konservativen aus der Fraktion der europäischen Konservativen auszugliedern. Doch trotz der Bestürzung, die dies unter europäischen Konservativen auslöste, hat es kaum Auswirkungen in Großbritannien. Während die Konservativen voraussichtlich als stärkste Kraft aus den Wahlen hervorgehen werden, bereitet sich die Labour-Partei auf ein Debakel vor. Bei den gleichzeitig stattfindenden Kommunalwahlen wird sie wahrscheinlich die letzten von ihr regierten Kommunen verlieren. Über einen möglichen Rücktritt Gordon Browns nach den Europa-Wahlen, der seit dem G 20-Gipfel im April in London eine politische Niederlage nach der anderen hinnehmen musste, wird derzeit viel spekuliert. Immer mehr Labour-Politiker glauben, dass nur ein neuer Spitzenkandidat verhindern kann, dass die Partei immer erfolgloser wird. Mit Sorgen blicken derweil viele auf die rechtsradikale BNP. Der Spesenskandal sowie die erwartete geringe Wahlbeteilung könnten den Einzug der Nationalisten ins Europa-Parlament ermöglichen.