Über die Graphic Novel »Waltz with Bashir«

Tote Hunde wecken

Der gefeierte israelische Animationsfilm »Waltz with Bashir« als Graphic Novel.

Erst der Comic, dann der Film, eigentlich ist das die übliche Reihenfolge in der Verwertungskette erfolgreicher Graphic Novels. Im Fall von »Waltz with Bashir« ist es umgekehrt. Nach dem Erfolg des 2008 in den Kinos gezeigten israelischen Animations­films kann man die Geschichte jetzt auch als Comic lesen. Wir erinnern uns: Der Film ist ein seltenes Hybrid aus Animation und Dokumentation und basiert auf den historischen Ereignissen des ersten Libanon-Kriegs, den subjektiven Erinnerungen des israelischen Regisseurs und damaligen Kriegsteilnehmers Ari Folman und seinen Interviews mit Zeitzeugen der Militäroperation. Es geht darin um die Kriegserlebnisse einer Generation junger IDF-Soldaten, die an dem insbesondere wegen der Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern bis heute in Israel als heikel geltenden Libanon-Feldzug von 1982 teilgenommen und ihre Erinnerungen daran verdrängt haben.
Natürlich erscheint es als die weniger spannen­de Variante, wenn ein nicht zuletzt wegen seines Soundtracks funktionierender Trickfilm als Comicbuch erscheint. Ins Gedächtnis gebrannt haben sich nämlich vor allem Filmszenen, in de­nen Popstücke aus den Achtzigern das damalige Lebensgefühl abrufen. Zum Beispiel auf dem zu Kriegsbeginn vom Militär organisierten Besäufnis auf einem »Loveboat«, auf dem mit »Enola Gay« von Orchestral Manoeuvres in the Dark einer der ganz großen Achtziger-Hits läuft. Mit einem Schlag ist die ganze Labilität einer Ju­gend in den achtziger Jahren präsent. Oder, auch unvergesslich, die mit dem PIL-Heuler »This Is Not a Love Song« unterlegten Fernsehbilder Menachem Begins.
Im Grunde aber brauchen die spannend erzähl­te Story und der eindringliche Zeichenstil gar kein Beiwerk. Bild um Bild folgt die Graphic Novel der filmischen Dramaturgie. Am Anfang jagt ein Hunderudel durch die Nacht. Graphitschwarzes Fell, phosphorgelbe Augen – damit sind die beiden Farben etabliert, in denen die Bil­der der Kriegserinnerungen gehalten sind und die auch die gespenstische, zum Teil unwirkliche Grundstimmung der Geschichte ausmachen. Es sind exakt 26 Hunde, die Boaz jede Nacht im Traum erscheinen und ihn töten wollen. Boaz trifft seinen ehemaligen Kameraden Ari Folman in der Kneipe und spricht mit ihm zum ersten Mal über den Horrorfilm, der nachts in seinem Kopf abläuft und dessen Ursprung er genau kennt. Boaz gehörte zu den Soldaten, die im Som­mer 1982 in die Dörfer im Südlibanon einfielen, um diese nach bewaffneten Palästinensern zu durchkämmen. Weil er zart und ein besonderes Sensibelchen war, dessen Befähigung zum Töten in der Truppe allgemein bezweifelt wurde, erhielt er die vergleichsweise leichte Aufgabe, die beim Einrücken der Armee anschlagenden Hunde zu erschießen. Töten für Anfänger – die Zeichnung mit dem Angsthasen-Gesicht des zarten Jungen, der gleich ein Tier wird erschießen müssen und ansonsten seinen eigenen Tod riskiert, ist eins dieser Bilder, von denen man gepackt wird und bis zum bitteren Schluss nicht mehr loskommt. Die hypnotische Wirkung des Comics hat viel mit diesen verletztlichen, an Modigliani-Porträts erinnernden Gesichtern der Figuren zu tun, an denen sich der Blick regelrecht festsaugt.
Die heillose Überforderung junger Männer, die gerade noch mit niedlichen New-Wave-Frisuren in Tel Aviver Discos abhingen, vom ersten Mal phantasieren oder unter der Trennung von der Freundin leiden und dann am nächsten Tag in Uniformen gesteckt und nach Beirut geschickt werden, zieht sich durch den gesamten Comic. Ari selbst, der wie im Film als Erzähler, Rechercheur und Protagonist fungiert, hatte keinerlei Erinnerungen an seine Zeit im Libanon, bis zu dem Winterabend, als sein ehemaliger Kriegskumpel ihm von seinen Alpträumen von den Hun­den erzählt.
Die Ereignisse liegen zu diesem Zeitpunkt 20 Jahre zurück. Ari hat nach diesem Gespräch zum ersten Mal einen Erinnerungsflash und ent­schließt sich nun, seine Kriegserfahrungen zu rekonstruieren. Er sucht seine Kameraden und Vorgesetzten auf, um sie zu den Ereignissen zu befragen – was war, was habt ihr getan, was ha­be ich gemacht? –, um die persönliche wie auch die Verstrickung des israelischen Militärs allgemein in die Massaker von Sabra und Schatila zu rekonstruieren. Es geht um die Frage, ob und wie er schuldig geworden ist. Von Zeit zu Zeit bespricht er den Recherchestand mit einem psy­cho­analytisch beschlagenen Freund und bekommt zu hören, dass es das Trauma des Holocaust ist, das seine Erinnerungen verdunkelt. Es sei die Angst davor, zugeben zu müssen, dass er zum Nazi geworden sei, zum Helfer der Schläch­ter. Das Spannende an seiner Recherche ist, wie die Erinnerungsbilder nach und nach freigegeben werden, bis sich daraus die Kriegsnarration ergibt und man erfährt, was der damals 19jährige mit den Massakern zu tun hatte.
In den späteren Untersuchungen zur Rolle Israels während des Massakers war ein Detail von besonderer Wichtigkeit, die Leuchtraketen, die die Beobachtungsposten nachts abfeuerten und die Lager erhellten, in denen die falangistischen Milizen gegen die arabischen Bewohner wüteten. Wenn man kein Nahost-Experte ist, sind einem die damaligen Ereignisse im Libanon-Krieg wahrscheinlich nicht wirklich vertraut, und es ist erstaunlich, wie es »Waltz with Bashir« schafft, das komplizierte Kräfteverhältnis der Kriegsparteien in groben Zügen verständlich zu machen und dabei immer wieder zwischen heutigem und damaligem Erkenntnisstand und zwischen dem Wissen der israelischen Militärführung und der jugendlichen Soldaten zu differenzieren.
Die Massaker von Sabra und Schatila waren kein israelisches Kriegsverbrechen, sondern wurden von christlichen Milizen an arabischen Zivilisten verübt. Allerdings gehörte das israelische Militär zu den Mitschuldigen, war über die sich teilweise in Sichtweite israelischer Posten abspielenden Vorgänge in den Lagern informiert und hat seine Beteiligung auch insofern eingestanden, als der damalige Verteidigungsminister Ariel Sharon zurücktreten musste. Es ist ein guter Nebeneffekt der Comic-Novelle, dass sie die historischen Verantwortlichkeiten in diesem oftmals israelisch gelabelten Verbrechen während des Libanon-Krieges trennscharf abbilden kann. Aber nicht deshalb ist »Waltz with Bashir« großartig, sondern weil der Comic vom Trauma einer Jugend im Krieg handelt und spür­bar macht, wie schmerzhaft es ist, die schlafenden Hunde zu wecken.

Ari Folman/David Polonsky: Waltz with Bashir. Eine Kriegsgeschichte aus dem Libanon. Atrium, Zürich 2009, 122 Seiten, 22 Euro