Die Justizfarce um Julien Coupat

Der letzte Unsichtbare ist frei

Als angeblich linker »Terrorist« verbrachte Julien Coupat sieben Monate in einem Pariser Gefängnis in Untersuchungshaft. Durch extrem konstruierte Zusammenhänge wollte die Justiz seine Beteiligung an terroristischen »Sabotageaktionen« beweisen. Vergangene Woche wurde er freigelassen.

»Was sich zeigt, unter den äußeren Erscheinungsformen einer ›Wirtschaftskrise‹, einer ›Erschüt­terung des Vertrauens‹, einer ›massiven Ablehnung der Regierenden‹, ist sehr wohl das Ende einer Zivilisation, der Zusammenbruch eines Paradigmas (…) Es gibt auf allen Ebenen der Gegenwart einen gigantischen Kontroll- und Herrschaftsverlust, dem kein polizeiliches Schamanentum wird abhelfen können.«
Der Urheber dieser, gelinde ausgedrückt, sehr optimistischen Theorie der derzeitigen gesellschaftlichen Abläufe ist der 34jährige Julien Coupat. Am Dienstag vergangener Woche kam er in der liberalen Pariser Abendzeitung Le Monde zu Wort, deren schriftlich gestellte Fragen er aus der Zelle heraus beantwortete.
Zu diesem Zeitpunkt saß Coupat noch in einem Pariser Gefängnis in Untersuchungshaft, und dies seit über sieben Monaten. Zwei Tage später kam er frei. Am vorigen Donnerstag beschloss ein Untersuchungsrichter, Coupat »unter strengen Aufsichts- und Meldeauflagen« aus der Haftanstalt zu entlassen.
Der 34jährige war am 11. November vergangenen Jahres zusammen mit acht weiteren Personen verhaftet worden (Jungle World, 48/08). Ihre Festnahme stand im Zusammenhang mit einem groß angelegten »Antiterroreinsatz« der französischen Polizei, die einer von ihr so genannten unsichtbaren Zelle auf die Spur kommen wollte. Alle anderen acht angeblichen Mitglieder der vermeintlichen Zelle waren bis Anfang dieses Jahres frei gekommen. Coupat allerdings nicht. Ihn hielten die Ermittler für den »Rädelsführer«, »charismatischen Chef« oder »Guru« einer Gruppe, deren bloße Existenz nachzuweisen sich als nicht gerade einfach herausstellte.
Die »unsichtbare Zelle« scheint in den Köpfen der Untersuchungsrichter und -behörden aus dem »Unsichtbaren Kollektiv« entstanden zu sein, das im Jahr 2007 als kollektiver Verfasser des schmalen Büchleins L’insurrection qui vient (Der Aufstand, der kommt) firmierte. Es erschien in dem linksradikalen Kleinverlag La Fabrique. Auch dessen Verleger, Eric Hazan, wurde am 9. April im Zusammenhang mit den Untersuchungen unter Terrorismusverdacht vor den Ermittlungsrichter geladen und mehrere Stunden lang verhört.
Das kleine Buch enthält eine an postmodernen Ideologieversatzstücken orientierte Theorie der gesellschaftlichen Veränderung und des Bruchs mit dem herrschenden System, die darauf hinausläuft, dass es heute keine Zentren der Macht mehr gebe, sondern diese in Form von Netzwerken quasi überall – an jedem gesellschaftlichen Ort – gegenwärtig sei. Deswegen könne man das Herrschaftssystem auch treffen, indem man die Netzwerke sabotiert, Computer, das Stromnetz oder das Eisenbahnnetz.
Julien Coupat gilt den Untersuchungsbehörden als mutmaßlicher Co-Autor des Büchleins des »Unsichtbaren Kollektivs«. An den Haaren herbeigezogen scheint jedoch der Zusammenhang zu sein, den die Ermittler sofort konstruierten, als in der Nacht vom 7. auf den 8. November 2008 an vier Orten Sabotageakte mittels Hakenkrallen gegen die Oberleitung französischer Bahnlinien verübt wurden.

Julien Coupat und sein Umfeld standen zu dem Zeitpunkt seit mehreren Monaten unter inten­siver Überwachung. Am fraglichen Abend waren Coupat und seine Freundin Yldune Lévy in einem Auto im östlichen Pariser Umland unterwegs. Einen Teil der Nacht verbrachten sie in ihrem Mercedes in der Nähe der Kleinstadt Dhuys, wobei ihnen ständig Beschatter folgten – Coupat erklärte später dem Untersuchungsrichter, die beiden hätten dies wohl beobachtet, »denn jedes Mal, wenn wir an einer noch so abgelegenen Stelle anhielten, fuhr 30 Sekunden später ein Auto vorbei«. Spät am Abend parkten sie dennoch ihren Mercedes und schalteten die Lichter aus – um Sex zu haben, wie sie später in den Verhören angaben.
War es ein Zufall? Jedenfalls wurde in derselben Nacht auf die elektrische Oberleitung der nahe gelegenen Bahnlinie ein Anschlag mit Hakenkrallen verübt. Das entscheidende Indiz, meinten die Ermittler zunächst. Im Nachhinein scheint es jedoch sehr unwahrscheinlich, dass ein Zusammenhang zwischen dem Aufenthaltsort von Coupat und Lévy sowie dem Sachschaden bestand – die beiden wurden beschattet und wussten dies offenkundig auch.
Inzwischen haben zwei große Zeitungen, Le Monde und Libération, Ende März sowie Mitte April das Dossier der Ermittler veröffentlicht und analysiert. Höchstwahrscheinlich hatten sie über die Verteidigung Zugang zu den Akten. Seitdem hat sich erwiesen, wie mager die Faktenlage für die Anklagebehörden ist und wie konstruiert der gesamte Zusammenhang ist. So notierten die Ermittler für einen vorausgehenden Hakenkrallenanschlag am 25. Oktober, dieser habe »70 Kilometer vom Wohnort der beiden Eltern von Gabrielle H.« – Coupats früherer Lebensgefährtin – stattgefunden.
Dass die Gruppe um Coupat, die zumindest einen Teil des Jahres in einer Landkommune in Tarnac lebte, mit den Hakenkrallenanschlägen zu tun hatte, wirkt auch ansonsten extrem fragwürdig. So notieren die Ermittlungsbehörden, in der Landkommune habe man das Exemplar eines deutschsprachigen Buches mit dem Titel Autonome in Bewegung gefunden. Auf Seite 336 dieses Buches sei ein Presseausschnitt dokumentiert, und in dem abgebildeten Zeitungsartikel wiederum finde sich ein Foto, das eine Hakenkralle zeige – es ging auf der Seite um Castor-Transporte. Also, schlussfolgerte man, habe die Gruppe sich für Hakenkrallen interessiert.
Ein Problem, das die Ermittler bislang noch igno­rieren, besteht darin, dass es eine relativ einfache und plausible Erklärung für die Hakenkrallenanschläge zu geben scheint. Denn schon am 10. November, also noch vor den Festnahmen in Tarnac, traf ein in Hannover aufgegebenes Bekennerschreiben bei der Berliner Zeitung ein. Dessen Verfasser übernahmen die Verantwortung für eine Reihe von Anschlägen auf den Bahnverkehr, die in der Nacht vom 7. auf den 8. November sowohl in Deutschland als auch im nordöstlichen Frankreich stattfanden. In jener Nacht rollte nämlich ein Atommüllzug mit Castor-Behältern aus der französischen WAA in La Hague ins niedersächsische Gorleben, wo er – nach Protesten und Aktionen gegen das Bahnnetz vor allem im norddeutschen Raum – an jenem 10. November eintraf.