Unternehmen und medizinische Versorgung

Poliklinik mit VIP-Bereich

Ärzte lieben Privatpatienten, denn mit ihnen lässt sich mehr Geld verdienen. Bei den Kassenpatienten dagegen muss gespart werden. Die Krankenkassen zeigen, wie das geht: durch eine noch engere Verflechtung zwischen Unternehmen und medizinischer Versorgung.

Markus König bekam jüngst einen Brief der Kinderärztin seiner Tochter. »Ab 1. Juli 2009 wird unsere Kinderarztpraxis als Privatpraxis geführt. Da wir unsere Kassenzulassung aufgeben, können wir Ihr Kind nur noch behandeln, sofern es Mitglied einer privaten Krankenversicherung ist«, las der Familienvater, der sich wegen seines geringen Einkommens keine private Krankenversicherung leisten kann. Als er nachfragte, warum die Ärztin seine Tochter nicht mehr behandeln wolle, hieß es, wegen des hohen bürokratischen Aufwands und der zu gering bemessenen Honorare der Gesetzlichen Krankenversicherung lasse sich die Praxis mit gesetzlich Versicherten nicht mehr rentabel führen.
Exklusiver Service für Privatpatienten zahlt sich dagegen aus. »Beratung; auch telefonisch«, wie es in den Rechnungen stets heißt, kann eine Kinderärztin bei Privatversicherten immer mit 10,73 Euro abrechnen, auch wenn es sich nur um das höfliche »Guten Tag« gehandelt hat. Kommen Kinder, die ein Anschlussrezept für ein verschreibungspflichtiges Medikament benötigen, kann die Kinderärztin auf einen Schlag 41,55 Euro kassieren. Wird dabei aber nicht erneut untersucht, entspricht dies einem Zeitaufwand von maximal fünf Minuten. Die Floskel »Untersuchung, symptombezogen« findet der Privatpatient nachher trotzdem auf der Rechnung, reicht diese unhinterfragt bei seiner Versicherung ein und bekommt einige Wochen später das Geld zurückerstattet. Ein gängiges Verfahren im Umgang mit Privatversicherten.

Kein Wunder also, dass immer mehr Ärzte ihre Praxen Privatpatienten vorbehalten oder sozial schwächere Stadtteile verlassen, um sich in wohl­ha­ben­de­ren Gegenden anzusiedeln, in denen der Anteil der Privatpatienten höher ist. »Im ärmeren südlichen Hamburg müssen die Patienten extrem lange Wege auf sich nehmen, um einen Facharzt zu erreichen«, beklagt eine Mitarbeiterin des Vereins Patienteninitiative gegenüber der Jungle World. Die Pressesprecherin der Kassenärztlichen Vereinigung in Hamburg, Barbara Heidenreich, stimmt dem ebenfalls zu: »Es gibt eine Abwanderungstendenz in Richtung reicherer Stadtteile. Private Praxen sind aus wirtschaftlichen Gründen nun einmal auf Privatpatienten angewiesen«.
Kassenpatienten bekommen vom trickreichen Abrechnungsverfahren mit den privaten Krankenkassen nichts mit. Sie tragen jedoch die Auswirkungen des ökonomischen Wandels im Gesundheitswesen, indem sie lange Wartezeiten, Budgetierung, Zuzahlungen und weite Wege in Kauf nehmen müssen. Sie sind es, die den von Ärztepräsident Jörg-Dietrich Hoppe beschworenen »Kollaps des Gesundheitssystems« erleiden. Die Ärzte sind es nicht. Denn sie können sich offenbar die lukrativsten Plätze und Verwertungsmöglichkeiten aussuchen.
Durch die geballte Medienpräsenz von Hoppe hat sich in den vergangenen Tagen dennoch die falsche Vorstellung in den Medien durchgesetzt, die niedergelassenen Ärzte stünden ökonomisch unter Druck. Der Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ) weist dies zurück und gibt an, dass die deutschen Ärzte das Drei- bis Vierfache von dem verdienen, was die Bevölkerung in Deutschland durchschnittlich verdient. Die Ärzte jammern demnach auf hohem Niveau. Bernhard Winter, stellvertretender Vorsitzender des VDÄÄ, hält die Argumentation Hoppes daher für »Propaganda«. »Bislang musste keine Praxis aus ökonomischen Gründen schließen, Hoppe will mit der Panikmache lediglich einen Dammbruch vorbereiten«, so Winter. Dieser würde die Bedingungen für die Kassenpatienten erheblich verschlechtern. »Hoppes Pläne zielen auf eine Basisversorgung für alle hin, alles andere soll kostenpflichtige Wahlleistung werden.«

Noch hält Bernhard Winter vom VDÄÄ das deutsche Gesundheitssystem für sehr gut. Dennoch gibt es Bereiche, in denen Mangelverwaltung alltäglich ist. Gerade in der Pflege Demenzkranker oder in der Palliativmedizin lässt sich mitunter nicht erkennen, dass Deutschland das angeblich drittteuerste Gesundheitswesen der Welt hat. Auch prophezeien Studien, dass in den nächsten Jahren bis zu 20 Prozent der Krankenhäuser geschlossen werden sollen – wegen mangelnder Lukrativität. Denn Lukrativität ist mehr und mehr die Richtschnur medizinischen Handelns geworden. ›Kostendämpfung‹ und ›Servicequalität‹ – hinter diesen Floskeln steckt knallhartes ökonomisches Kalkül, an dem sich der Umbau des Gesundheitswesens seit circa 20 Jahren orientiert.
Dieses Kalkül spiegelt sich in den zahlreichen Innovationen der Gesetzlichen Krankenkassen wider, auch wenn sich diese gegen die aktuellen Forderungen der Ärzteschaft verwehren. Der Chef der AOK Rheinland/Hamburg, Wilfried Jacobs, klagt: »Regelmäßig verkündet Hoppe die Notwendigkeit von Leistungsbegrenzungen in der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem Muster: Fließt Blut, zahlt die Kasse; war Diabetes auf Pommes mit Mayonnaise zurückzuführen, liegt Eigenverschulden vor, der Patient zahlt selbst.« Jacobs warnt davor, dass Krankenkassen zu »Lebensstilüberwachern« werden könnten.
Dies ist ein Trend, dem die gesetzlichen Kranken­versicherungen schon unterworfen sind. So kann man etwa bei vielen Versicherungen mittlerweile so genannte Prämienmodelle buchen. Die Kunden vereinbaren dabei einen Selbstbehalt pro Jahr – das bedeutet, dass sie bis zu diesem Betrag ihre Arztbesuche selber zahlen müssen. Am Ende des Jahres erhalten sie so mitunter einige hundert Euro von der Kasse als Prämie zurück. Glücklich können sich diejenigen schätzen, die nicht krank werden. Sobald jedoch eine Krankheit dazwischen kommt, machen die Kunden je nach Vertrag ein Minusgeschäft. »Das ist Zocken mit der eigenen Gesundheit. Das sollte man sich sehr genau überlegen«, warnte die Gesundheitsexpertin der Stiftung Warentest, Ulrike Steckkönig, in der Welt. Steckkönig rät den Verbrauchern, auf keinen Fall wichtige Arztbesuche aufzuschieben, um ihre Prämie zu retten. Anderenfalls könnte der Anreiz, möglichst gesund zu leben, ins Gegenteil umschlagen.

Eine weitere Initiative zur Kostensenkung starten die Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) zum Juni. Erklärtes Ziel ist es, im kommenden Jahr eine Milliarde Euro bei den Arzneimitteln für ihre Versicherten zu sparen. Aus diesem Grund hat die AOK Rabattverträge mit 22 Pharmaunternehmen abgeschlossen, die für 63 Arz­neimittel­wirkstoffe gelten. Bei diesen Wirkstoffen werden die Apotheker angehalten, auf jeden Fall das rabattfähige Mittel zu verkaufen. In Zukunft werden AOK-Patienten deshalb wahrscheinlich häufiger zu Mitteln von Rathiopharm greifen müssen..
Was in diesem Falle kaum problematisch erscheint, könnte bei komplexeren Medikamenten jedoch Probleme bereiten. Komplexere Generika – das sind wirkstoffgleiche »Nachbauten« der Originalpräparate – wirken mitunter wegen anderer Herstellungsprozesse anders als das teurere Original. Auch wenn solche Auswirkungen der Rabattverträge für die Patienten wohl bislang nicht gravierend sind, ist der Trend bedenklich, dass einzelne wirtschaftliche Akteure und medizinische Einrichtungen immer weiter aneinander gebunden werden.

Eine solche Symbiose deutet sich seit einiger Zeit bei den neuen Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) an. Das Modell der MVZ erinnert zunächst an die alten Polikliniken in der DDR. Unter einem Dach findet der Patient alle notwendigen Haus- und Fachärzte. So ist das auch im MVZ »Atrio-med« in der Jarrestadt in Hamburg. Die Techniker Krankenkasse (TK) tritt dort als Kooperationspartner auf und hat für ihre Kunden einen eigenen VIP-Bereich im Atrio-med eröffnet. Der Patient erhält dort Kalt- und Heißgetränke. »Wir haben die Hoffnung, dass durch die Leistungen des MVZ Atrio-med die Kunden schneller gesund werden, und das ist wiederum gut für die TK«, erklärt Pressesprecherin Jaqueline Dauster das ökonomische Interesse hinter dem Servicegedanken.
Die Pressesprecherin der Kassenärztlichen Vereinigung in Hamburg, Barbara Heidenreich, vermutet noch andere Gründe: »Wir sind den MVZ gegenüber nicht negativ eingestellt, aber im Fall des Atrio-med ist vollkommen unklar, wer der Finanzier ist. Und das ist bei solch einer Einrichtung eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit«. Denn für die MVZ ist gesetzlich vorgeschrieben, dass sie nicht von Krankenkassen, Pharma-Unternehmen oder anderen Akteuren geführt werden dürfen, deren Interessen mit dem Wohl der Patienten kollidieren könnten. Nach Erkenntnissen der KV in Hamburg lässt sich der Geldgeber des Atrio-med nicht ermitteln. Außerdem sei es völlig unklar, warum die TK sich an diesem Betrieb beteiligt. »Geht es womöglich um die gezielte Da­ten­er­he­bung über die Arztbesuche der Kunden?« fragt Heidenreich.
Für Bernhard Winter vom VDÄÄ sind die MVZ von der Grundidee her begrüßenswert. Doch auch er warnt vor einer zunehmenden »Kapitalisierung«, wenn private Kapitalinvestoren im medizinischen Bereich durch die MVZ Einfluss erlangen. Am Ende könnte dann eine Kapitalgesellschaft über Behandlungsschwerpunkte und Einstellungen und Entlassungen von Ärzten entscheiden. Denkbar wären damit MVZ, die sich nicht an den Bedürfnissen der Patienten orientieren, sondern am größtmöglichen Gewinn.
Und ein weiteres Problem besteht schon jetzt. Winter nennt Beispiele dafür, dass die Betreiber der MVZ gezielt Praxen in ländlichen oder ärmeren Regionen aufkaufen und sie dann in ein MVZ in Toplage verlagern. Das Atrio-med in Hamburg hat dies mit einer Hausarztpraxis in Finkenwerder bereits vollzogen. Während in Finkenwerder in der Versorgung jetzt eine Lücke klafft, findet sich die Praxis in der mit Ärzten gut versorgten Jarrestadt wieder.
In Zukunft wird man sich daher als Kassen­patient wahrscheinlich auf weitere Wege, längere Wartezeiten, von der Kasse ausgewählte Pharmahersteller und weitere Einschränkungen gefasst machen müssen. Es sei denn, es setzt sich eines Tages doch noch die Überzeugung durch, dass nicht nur der Finanzsektor, sondern auch das Gesundheitssystem stärkerer Regulierung bedarf – etwa dass MVZ vergesellschaftet und dort eingerichtet werden müssen, wo sie gebraucht werden. Wahrscheinlicher als die Vergesellschaftung des Gesundheitssystems ist jedoch leider, dass man in Zukunft zunehmend »Wahlleistungen« selbst zahlen und die Hüftgelenke über einen Kredit ­finanzieren muss. Das wäre nicht zuletzt im Interesse der Ärzteschaft.