Rechtsextreme Abtreibungsgegner in den USA

Ein Wolf kommt selten allein

Der Mord an dem Arzt einer US-Abtreibungsklinik könnte der Auftakt einer neuen terroristischen Kampagne sein.

Scott Roeder entspricht nicht nur dem klassischen Bild eines US-Rechtsextremisten, auch sein Lebenslauf könnte typisch für die Bewegung sein. Geboren nahe Kansas im Mittleren Westen, dem »Bibelgürtel«, schloss er sich Mitte der neunziger Jahre der Freemen-Miliz an. Er musste mehrfach vor Gericht erscheinen und verbrachte einige Monate im Gefängnis, weil die Polizei 1996 in seinem Auto Material für den Bombenbau gefunden hatte. In den folgenden Jahren fiel Roeder nicht weiter auf. Doch nun ist er dringend verdächtig, am 31. Mai George Tiller, den Arzt ­einer Abtreibungsklinik, im Vorraum einer Kirche in Wichita erschossen zu haben (Jungle World 23/09).
Vor derartigen Anschlägen hatte ein Anfang April veröffentlichter Bericht des Department of Homeland Security (DHS) gewarnt, in dem festgestellt wurde, dass das Gefahrenpotenzial des Rechtsextremismus in den USA wachse. Der Bericht brachte die kurz zuvor ernannte, für das DHS verantwortliche Ministerin Janet Napolitano in Bedrängnis. Zwar stimmten die Konservativen den Aussagen über die Gefährlichkeit der White-Power-Bewegung und rechtsextremer Milizen mehr oder minder zu. Dass auch eine terroristische Gefahr von extremistischen Abtreibungsgegnern ausgehe, haben die Republikaner und ihre Propagandisten konsequent bestritten.
Sie sahen in dieser Aussage einen Versuch der Regierung Barack Obamas, die Antiabtreibungsbewegung in Verruf zu bringen. Zahlreiche konservative »Pro-Life«-Organisationen, darunter die Concerned Women for America, das American Center for Law and Justice und der Family Research Council, nutzten den Bericht sogar als Negativvorlage für Spendenaufrufe, statt sich ernsthaft mit den Ergebnissen auseinanderzusetzen.
Noch ist unklar, ob Roeder einer der im DHS-Bericht als »lone wolf« bezeichneten Einzeltäter war oder Komplizen hatte. Medienberichten zufolge verfügte er über gute Verbindungen nicht nur zu verurteilten gewalttätigen Abtreibungsgegnern, sondern auch zur radikalen Antiabtreibungsgruppe Operation Rescue. Polizei und Staatsanwalt haben ihre Ermittlungsergebnisse bislang nicht bekannt gegeben.
Randall Terry, Gründer der Operation Rescue, hat hingegen den Attentäter bereits moralisch freigesprochen. Der »Massenmörder« Tiller, so Terry, habe »geerntet, was er säte«. So dient der neutestamentliche Galaterbrief als Rechtfertigung für einen politischen Mord, obwohl sich diese Bibelpassage auf die Gerechtigkeit Gottes bezieht, die »Ernte« ist eine eschatologische Angelegenheit.

Doch so lange wollen religiös motivierte Terroristen nicht warten. Nachdem das Oberste Gericht 1973 im Fall »Roe v. Wade« die Abtreibung legalisiert hatte, entwickelte sich unter christlichen Aktivisten seit Mitte der siebziger Jahre die Vorstellung, es sei theologisch gerechtfertigt, gewaltsam gegen die Abtreibung zu kämpfen. Im Laufe der achtziger Jahre radikalisierte sich die Bewegung, in den neunziger Jahren kam es zu mehreren Morden an Ärzten, die Abtreibungen vorgenommen hatten, und zahlreichen Sprengstoffattentaten auf Kliniken. Diese terroristischen Aktionen ebbten erst 1998 ab, pünktlich zum beginnenden Präsidentschaftswahlkampf.
Nach der Wahl George W. Bushs zum Präsidenten im Jahr 2000 änderten die Abtreibungsgegner ihre Strategie. Sie bedienten sich nun vor allem juristischer Mittel und konnten einige Erfolge erzielen. Statt das Urteil des Obersten Gerichts direkt zu attackieren, konzentrierten sie ihre Kampagnen auf aus ihrer Sicht besonders brisante Abtreibungspraktiken, vor allem auf Abbrüche, die wegen gesundheitlicher Notsituationen nach dem dritten Schwangerschaftsmonat vorgenommen wurden. Überdies versuchten die Abtreibungsgegner, in den jeweiligen Bundesstaaten den Zugang zu Abtreibungskliniken zu erschweren.

Auf diese Weise sollte die legale Abtreibung immer mehr erschwert werden. Oft gelang das, denn Bush ernannte Dutzende christlich-konservative Abtreibungsgegner zu Richtern an den Bundesgerichten. Auch extremistische Abtreibungsgegner verzichteten auf direkte Aktionen, sie gaben sich während der Amtszeit Bushs staatstragend und versuchten, gemeinsam mit gemäßigteren christlichen Organisationen die republikanische Basis zu mobilisieren.
Doch das wichtigste Ziel, eine Revision des Urteils »Roe v. Wade«, blieb unerreicht. Nach wie vor gibt es im Obersten Gericht eine knappe Mehrheit für die Beibehaltung des Rechts auf Abtreibung in den ersten drei und eingeschränkt in den folgenden drei Schwangerschaftsmonaten. Nach dem Rücktritt David Souters ernannte Obama die Richterin Sonia Sotomayor zu dessen Nachfolgerin, die »Roe v. Wade« wahrscheinlich nicht in Frage stellen wird. Zumindest bis zur nächsten Präsidentschaftswahl hat die juristische Strategie ausgedient, und der Mainstream der konservativen Abtreibungsgegner hat derzeit keine Alternative. James Dobson, der im April in den Ruhestand gegangene Leiter der einflussreichen NGO Focus on the Family, sagte bei seiner Abschiedsrede, dass die christlichen Konservativen den Kulturkrieg »verloren« hätten.
Doch die extremistischen Abtreibungsgegner wollen sich nicht geschlagen geben. Anfang Mai begleitete ein u.a. von Operation Rescue geführtes Bündnis eine Rede Obamas bei der akademischen Abschlussfeier der katholischen Universität Notre Dame im Bundesstaat Indiana mit heftigen Protesten. Von Obamas Appell an die versammelte liberal-katholische Prominenz Amerikas, die Abtreibungsdebatte mit »aufrichtigen Worten« zu führen und im Dialog Gemeinsamkeiten zu suchen, halten sie nichts. Die Proteste erinnerten eher an die Strategie der neunziger Jahre.

Dass drei Wochen später Tiller erschossen wurde, scheint die These zu bestätigen, dass auch die Gewaltbereitschaft wächst. Wie Matthew Yglesias, ein linksliberaler Blogger des Magazins Atlantic Monthly, nach dem Attentat anmerkte, »funktioniert der Terrorismus« extremistischer Abtreibungsgegner. In den vergangenen 20 Jahren sank die Zahl der Ärzte und Krankenhäuser, die Abtreibungen anbieten. In fast 90 Prozent aller Landkreise gibt es diese Art der medizinischen Versorgung nicht, denn allzu oft lehnen die Ärzte Abtreibungen aus Angst vor öffentlicher Verurteilung oder Gewaltakten ab.
So unterhöhlen die extremistischen Abtreibungsgegner erfolgreich das Recht auf Abtreibung. Nur noch ein Handvoll Ärzte bietet Abtreibungen nach dem dritten Monat an, einer von ­ihnen war Tiller. Nun, da »Tiller der Baby-Killer«, wie Bill O’Reilly vom rechten Sender Fox News ihn Dutzende Male in den vergangenen Jahren nannte, tot ist, wird schon nach dem nächsten Opfer gesucht. Jill Stanek, eine prominente Abtreibungsgegnerin, hat in der vorigen Woche Bild und Adresse eines Arztes aus Nebraska veröffentlicht. Sie rief dazu auf, die Proteste, die bisher Tiller galten, dorthin zu verlagern.