Über den Film »Auf der Suche nach dem Gedächtnis«

Behalten ist besser

»Auf der Suche nach dem Gedächtnis« bedeutet: niemals vergessen. Ein Film porträtiert den Gehirnforscher Eric Kandel.

Eric Kandel ist Gehirnforscher. Derzeit befasst er sich mit der Entwicklung von Medikamenten für an Alzheimer Erkrankte.
Kandel ist beinahe 80 Jahre alt. Als Kind musste er aus Wien vor den Nazis fliehen. Seine Familie emigrierte in die USA und ließ sich in New York nieder. »Niemals vergessen« habe eine Losung der Juden nach 1945 gelautet. »Meine wissenschaftliche Arbeit widmet sich den biologischen Grundlagen dieses Mot­tos: den Prozessen im Gehirn, die uns zur Er­innerung befähigen«, sagt Kandel.
Mit seinen Forschungen, vor allem an der Meeresschnecke Aplysia, ist er weit gekommen. Im Jahr 2000 erhielt er den Nobelpreis. Er ist der Star der Gehirnforschung – nicht allein aufgrund seiner Geschichte, sondern weil er Hirnforschung, Psychologie und Psychoanalyse näher zusammengebracht hat.
Die Vertreter dieser Gebiete waren sich Jahrzehnte spinnefeind: Was hilft besser gegen Depression: Gespräche oder Tabletten? Wozu Gespräche, wenn es Tabletten auch tun? – Das war die Überzeugung der medizinischen Psy­chi­ater. Wozu jemanden mit Gift vollstopfen, wenn man ihn analysieren kann, hielten die Therapeuten dagegen.
Leute wie Kandel, sowohl Mediziner wie Psychologe, wiesen nach: Lernprozesse verändern die Biologie des Gehirns. Wenn Psychoanalyse wirken soll, kann man das nachweisen. Seitdem setzt man bei psychischen Störungen und Krisen eher auf die Anwendung verschiedener Methoden. Theoretisch. Praktisch wird in der x-beliebigen Psychiatrieabteilung des Krankenhauses Posemuckel durchaus gern auf billige Me­dikamente zurückgegriffen. Kandel aber hat mit seiner Aplysia-Forschung den Weg gewiesen. Wenn Lernen bei der Seeschnecke die Nervenzellen verändert, voilà, tut es dies auch beim Menschen.
Das Phänomen Kandel, den polyglotten, welt­offenen, immer gut gelaunten und doch – oder deswegen – an seine Vergangenheit gebundenen Wissenschaftler, vielen Menschen bekannt zu machen, das kann notwendig sein. Kandel gibt gern Interviews, er erklärt seinen Forschungsgegenstand, er geht in Fernsehshows, er hat 2006 eine Autobiografie vorgelegt, die ein Bestseller wurde. Dennoch hat es sich die deutsche Regisseurin Petra Seeger zum Ziel gesetzt, ihm einen Dokumentarfilm zu widmen. Zwei Jahre begleitete sie den quirligen Mann durch seinen Alltag in New York und auf eine Reise zu seinen Wurzeln in Wien. »Auf der Suche nach dem Gedächtnis« lautet der Titel. »Auf der Suche nach meinem Gedächtnis« wäre auch nicht verkehrt: Kino, das ist technisches Erinnern. Der Film sei für ihn wie eine Psychoanalyse, sagt Kandel. »Die Erinnerung versieht unser Leben mit Kontinuität, ohne die bindende Kraft der Erinnerung würden unsere Erfahrungen in ebenso vie­le Bruchstücke zersplittern, wie es Momente im Leben gibt.«
Nun schaut man ihm zu, wie er in seiner unnachahmlichen Art mit Leuten ins Gespräch kommt, wie er die Situationskomik des Augenblicks auslebt. Regisseurin Seeger sagt: »Ich habe den Gedächtnisforscher in seinem Prozess der Erinnerung begleitet. Ich habe den Prozess nicht bestimmt, sondern mit dem, was er mir zeigen wollte, gearbeitet.«
Der Film ist sehenswert, weil er sehr gut mon­tiert ist, Lernstoff transportiert und das Wesen des Protagonisten einzufangen scheint. In der Logik des Films bedeutet dies: Jemand, der Leid erfahren hat, konfrontiert sich mit dem Ge­schehenen und arbeitet genau mit diesem Schmerz und schafft daraus seine Gegenwart. Kandels Forschungen besagen: Das Hirn ist veränderbar. Neue Erfahrungen können alte überschreiben. »Ein antidepressiver Film« sei dies, glaubt Seeger.
Was zu der Frage überleitet: Wie und warum funktioniert eigentlich Vergessen? Der Film liefert dazu keine direkte Antwort. »Ohne Gedächt­nis wären wir nichts«, sagt Kandel.