Claudio Albertani im Gespräch über soziale Bewegungen in Mexiko

»Mexiko ist ein interessantes Laboratorium«

Am Sonntag wird in Mexiko auf kommunaler und bundesstaatlicher Ebene ein Teil der gewählten Vertreter neu bestimmt. Neue oder alte Mehrheiten in den Rathäusern und dem Parlament werden darüber mitentscheiden, wie groß der politische Handlungsspielraum der regierenden rechtskonservativen Partei der Nationalen Aktion (Pan) künftig sein wird. Der Autor, Übersetzer und Wissenschaftler Claudio Albertani war aktiver Unterstützer der operaistischen Bewegung Italiens. Seit 1979 lebt er in Mexiko, wo er sich als Übersetzer von Victor Serge und als unbequemer Chronist sozialer Bewegungen einen Namen gemacht hat. Er ist ständiges Mitglied der internationalen Menschenrechtskommission CCIODH. Zuletzt erschien von ihm die Essaysammlung »El espejo de México. Crónicas de bar­barie y resistencia«.

Seit der Eskalation des Kriegs gegen die Drogen im vergangenen Jahr war klar, dass Sicherheit das bestimmende Thema im Wahlkampf sein wird. Doch nur wenige hatten damit gerechnet, dass ausgerechnet die Grüne Partei Mexikos (PV) mit einem Slogan wie »Todesstrafe für Entführer und Mörder« antritt.

Ich denke, die mexikanischen Grünen verdienen es nicht, dass wir auch nur ein Wort über sie verlieren. Das ist eine Partei, die wie ein Unterneh­men funktioniert, das Stimmen kauft und dann lukrativ weiterverkauft, um den großen Parteien Mehrheiten zu sichern. Aber ihre politischen Positionen sind einfach grotesk. Die Bevölkerung wird sich nicht rächen, indem sie aus Protest die Grünen wählt, sondern indem sie der Wahl fernbleibt. Der PV wird am Ende nur die Stimmen ein­fahren, für die er vorher auch gezahlt hat.

Der Trend, die Abstimmung massiv zu boykottieren, wird von den beiden großen mexika­nischen Medienunternehmen TV Azteca und Televisa angeheizt. Warum?

Das ist ihre Art, der mexikanischen Rechten beim Ausbau ihrer Mehrheit im Senat zu helfen. Davon versprechen sie sich, ihre Monopolstellung zu sichern und bei der Vergabe digitaler Frequenzen durch den Staat begünstigt zu werden. Die Regierungspartei Nationale Aktion (Pan), aber auch die heute oppositionelle Partei der institutionellen Revolution (Pri) würden von einer geringen Wahlbeteiligung profitieren. Ihre Stammwähler haben sie sicher, und wenn Unentschlossene nicht zu den Urnen gehen, dann kann sie das nur freuen. Doch es ist müßig, sich an der Debatte ums Wählen oder Nichtwählen zu beteiligen. Vor allem die sozialen Bewegungen sollten dazu Abstand wahren und ihre Kämpfe besser anderswo weiterführen. Sollen die Parteien doch regieren. In der Zwischenzeit baut man Alternativen auf und, klar, im Idealfall stürzt man irgendwann auch die Regierenden.

Im südmexikanischen Oaxaca wäre es im Jahr 2006 fast zu einem Sturz des dortigen Gouverneurs Ulizes Ruiz (Pri) gekommen. Sehen Sie in dem breiten Bündnis »Versammlung der Bevölkerung Oaxacas« (APPO), das damals den Auf­stand gegen das politische Establishment organisierte, eine solche Alternative?

Ja, was in Oaxaca passiert ist, hatte schon etwas Magisches. Eine vollständige Erklärung, warum gerade dort zu diesem Zeitpunkt eine Revolte aus­brach, wird es wie so oft nie geben. Unbestreitbar ist jedoch auch, dass die Menschen dort nicht mehr so weiterleben wollten oder konnten wie bisher. Sie drängten auf Veränderung und entdeck­ten autonome Praktiken für sich, bildeten kollektive Organisationen, von denen viele bis heute fortdauern. Das Problem war nur, dass bestimmte Teile der APPO schnell von der traditionellen mexikanischen Linken vereinnahmt wurden, also von Organisationen stalinistischer Prägung und von marxistisch-leninistischen Quadratköpfen. Als der Staat zum Angriff auf die Bewegung über­ging, wusste er, dass nicht diese Gruppierungen eine Gefahr darstellten, sondern jene Menschen, die angefangen hatten, sich einfach die Sachen zu nehmen, die sie brauchten.

Sie kamen kurz nach Beginn der staatlichen Rückeroberung von Oaxaca-Stadt als Mitglied der Internationalen Menschenrechtskommission dort an. Was war zu diesem Zeitpunkt noch übrig von der Magie des Moments?

Wenig, denn der Staat war angetreten, um die Bevölkerung zu massakrieren. Diese Politik war nicht nur gegen die Menschen auf den Barrikaden, sondern auch gegen völlig Unbeteiligte gerich­tet, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Und dafür arbeiteten lokale, bundesstaatliche und föderale Instanzen besser zusammen als je zuvor. So wurde ich nach meiner Ankunft leider Zeu­ge der Hinrichtungen auf dem Schafott, im übertragenen Sinne. Doch ich verpasste die glück­lichen Momente der Revolte, die vielfältigen und so wichtigen kreativen Äußerungen der Bewegung. Die Botschaft von Oaxaca war eindeutig: Auch heute ist noch so etwas wie eine soziale Revolution möglich! Man muss sich auch in Mexiko nicht zwangsläufig der Willkür der Regierung un­terwerfen.

Die Niederschlagung der Revolte in Oaxaca richtete sich gegen alle Unterstützer, traf jedoch einige Gruppen härter als andere. Wie sah diese sicherheitspolitische Strategie aus?

Die Leute, die keine starke Organisation hinter sich hatten, waren die verwundbarsten. Übrig blieben nach der polizeilich-militärischen Zurückeroberung von Oaxaca-Stadt vor allem die alteingesessenen linken Gruppen. Wie eine Art Vampire machten sie sich in den Wunden zu schaffen, welche der Staat in die Bewegung gerissen hatte. Und die waren gewaltig, denn von den 800 000 Demonstranten, die im Sommer 2006 durch die eine Million Einwohner zählende Provinzhauptstadt Oaxaca zogen, waren kurz nach der Repression nicht mehr viele geblieben. Über diesen Rück­zugsprozess ist viel geschrieben worden. Ein Problem der Bewegung war es in jedem Fall, dass sie zur Zeit der Revolte außerhalb Oaxacas nie ge­nug Unterstützer fand. Die von den Zapatisten einberufene »Andere Kampagne« war zu diesem Zeitpunkt geschwächt und unschlüssig. Und so blieben die Menschen in Oaxaca während der Repression fast allein. Und das, was von der APPO übrigblieb, griffen traditionelle linke Caudillos auf, die sich selbst zu Sprechern von etwas machten, in dem sie vorher nie recht Fuß fassen konnten.

Eine Bewegung ohne Caudillos, das ist in Mexiko in der Tat etwas Seltenes. Doch wer trug und organisierte den Aufstand in Oaxaca denn dann?

Es waren ganz normale Leute, welche die Barrika­den bauten und nachts dahinter Tortillas und Maiskolben aßen. Dabei entdeckten die Beteiligten etwas, das sie irgendwie vergessen hatten. Denn Oaxaca hat zwar auf den ersten Blick koloniale, fast europäische Züge. Aber in dieser Stadt leben auch viele indigene Migranten, Menschen, die vom Land hierhergezogen sind und dafür gesorgt haben, dass sich die Einwohnerzahl in ei­nem halben Jahrhundert verzwanzigfacht hat. Während der Revolte brachten viele sehr selbstbewusst unterschiedlichste lokale Traditionen, Erfahrungen und Organisationsformen ein, aber innerhalb einer Art kosmopolitischer Verflechtung. Und zu ihnen gesellten sich Punks und Darkies, vor allem junge Anhänger der urbanen Subkulturen. Mexiko ist in dieser Hinsicht ein in­te­res­santes Laboratorium. Und der Aufstand war eine Drohung, die die Machthaber nicht hinnehmen konnten.

Müssen sich die mexikanischen Regierungen noch vor der APPO fürchten? Und was ist mit dem zapatistischen Befreiungsheer, der EZLN? Gerade jetzt vor den Wahlen wird deutlich, dass die außerparlamentarischen Kräfte wenig Präsenz zeigen.

Die APPO ist heute in den Händen der Stalinisten. Aber das heißt nicht, dass in Oaxaca nichts passiert. Es gibt viele Organisationen, vor allem in den indigenen Gemeinden, aber auch in der Stadt, die ihre Arbeit fortsetzen, woran man klar sieht, dass es kein Zurück gibt. Und was die Zapatisten angeht, denen haben wir sicherlich viel zu verdan­ken. Aber das Anführergehabe von Subcomandante Marcos ist trotzdem bedauernswert. Ich hal­te es für einen schwerwiegenden Fehler, dass er vor den Präsidentschaftswahlen 2006 in den Co­muniqués Stimmung gegen den Kandidaten der Linken, Manuel López Obrador (Amlo), machte. Denn unterm Strich arbeitete er damit der Rechten zu. Das hat dazu geführt, dass ich heute als Professor meinen Studenten erklären muss, dass die Zapatisten keine heimlichen Unterstützer der Regierung sind.

In manchen Regionen Mexikos ist seit drei Jah­ren eine zunehmende Militarisierung zu be­obachten. Wäre unter diesen Umständen ein monatelanges Aufbegehren wie in Oaxaca über­haupt nochmals möglich?

Ich denke, es ist möglich. Zugegeben, 2006 kamen viele Dinge zusammen, welche die Ereignisse in Oaxaca begünstigten. Angesichts der weltweiten Wirtschaftskrise sind die meisten Mexikaner heute viel zu sehr damit beschäftigt, irgendwie weiter Geld zu verdienen oder ihren Job zu behalten, anstatt über die Revolution zu sinnieren. Doch wir steuern ja gerade auf dieses symbolträchtige Jahr 2010 zu, in dem sich zum 200. Mal die mexikanische Unabhängigkeit und zum 100. Mal die mexikanische Revolution jährt. Also könn­te man meinen, die Zeichen stehen günstiger für ein erneutes Aufbegehren als für ein weiteres Zurückdrängen der sozialen Bewegungen. Es fehlen nur noch einige Monate, und dann blicken auch die Herrschenden in Mexiko beunruhigt auf den Jahreswechsel. Im Moment schläft niemand ruhig.

Sind Sie auch einer jener Propheten, die den so­zialen Bewegungen für 2010 mehr als ein Comeback voraussagen?

Naja, ich fühle mich eigentlich nicht als Prophet. Auch wenn ich als Italiener in Mexiko sicher einen guten Wahrsager abgeben würde. Im Grunde stehe ich dieser ganzen 2010-Geschichte sehr skeptisch gegenüber. Auch die Zapatisten haben dieses »besondere Jahr« seit langer Zeit im Blick. Sie folgerten früh, dass ihnen eine 2010 amtieren­de Linksregierung für eine starke Mobilisierung der Menschen eher hinderlich sei, und begannen, linke Reformer innerhalb des PRD zu bekämpfen. Von dieser Strategie bin ich nicht sonderlich überzeugt. Aber klar, viele Menschen glauben an die magische Jahreszahl. Und die Regierenden sind auch nicht blöd, sie wissen, dass sie auf einem Druckkochtopf sitzen. Es war schlau, das Auf­begehren der Menschen in Mexiko bereits weit vor 2010 niederzuschlagen. Im kommenden Jahr wird der politische Preis höher sein.

Ihre persönliche politische Arbeit beschreiben Sie als permanente Suche nach autonomem Handeln. Gleichzeitig arbeiten Sie auch in der internationalen Menschenrechtskommission CCIODH mit und haben bei dieser Arbeit ständig mit staatlichen Organisationen zu tun. Wie vertragen sich diese beiden Arbeitsfelder?

Die Menschenrechte sind auf einem sehr widersprüchlichen Terrain angesiedelt. Um Menschenrechtsbeobachter zu sein und sich ein Minimum an Glaubwürdigkeit zu erhalten, muss man unabhängig sein von jeglichen privatwirtschaftlichen oder staatlichen Institutionen. Und es muss eine Freiwilligenarbeit sein, die von bestimmten ethischen Basisprinzipien ausgeht. Das sind eher defensive Prämissen, um die Menschenrechte zu schützen und Menschenrechtsverletzungen an­zuklagen. Alles, was ich darüber hinaus sage oder schreibe, ist meine persönliche Meinung. Das sind zwei Paar Schuhe. Dennoch würde ich meine Arbeit als Menschenrechtsbe­obachter nicht als neutral beschreiben. Denn wenn jemand gefoltert wird, dann bin ich nicht neutral. Man macht diese Arbeit ja nicht nur, um etwas zu dokumentieren, sondern auch damit die Folter aufhört. Das ist letztlich auch eine politische Überzeugung, wenn auch keine revolutionäre.