Der französische Front National verliert die Mittelschicht

Die Stimmen der Schwarzfüße

Anhand zweier Wahlen in Nord- und Südfrankreich zeigt sich das Problem des rechtsextremen Front National: Kleinbürger und Angehörige der Mittelschicht sind ihm als Wähler abhanden gekommen.

Die Anhänger der extremen Rechten können sehr schlechte Verlierer sein: Kaum war der partei­unabhängige Mitte-Links-Kandidat Daniel Duquenne am Sonntagabend zum Bürgermeister der im ehemaligen nordfranzösischen Bergbaurevier gelegenen Stadt Hénin-Beaumont ­gewählt worden, griffen Unbekannte, wie die Polizei berichtete, ihn mit einer Tränengasgranate an. Duquenne fiel die Granate zwischen die Füße, er wurde daraufhin schleunigst in einem Auto evakuiert.
Vorher hatte die Polizei antifaschistische Demonstranten und den Ordnerdienst des örtlichen Büros des rechtsextremen Front National (FN) getrennt. Es hatte Rangeleien zwischen Duquennes Sicherheitspersonal und »aufdringlichen Fernsehjournalisten« gegeben, die in großer Zahl in die Stadt mit ihren 26 000 Einwohnern geeilt waren. Denn bis zum Sonntagabend hatte es so ausgesehen, als habe der FN gute Aussichten, die Wahl in der entscheidenden zweiten Runde zu gewinnen. In den turbulenten Szenen zeigte sich die starke Anspannung, die bis in den späten Wahlabend hinein in Hénin-­Beaumont vorherrschte.

Der FN hatte im ersten Wahlgang, der Ende Juni stattfand, über 39 Prozent der Stimmen erhalten und war damit die stärkste Partei. Dagegen traten die anderen Parteien – vor allem die eher linken, die allein fünf Listen aufgestellt hatten – uneinig auf. Die parteiunabhängige Liste des früheren Sozialdemokraten Duquenne lag mit etwa 20 Prozent der Stimmen auf dem zweiten Platz, auf dem dritten landete eine Bündnisliste der Linksparteien, die von der französischen KP bis zur christdemokratisch-liberalen Zentrumspartei Modem reichte. Sie erhielt 17 Prozent. Die konservative Regierungspartei UMP erzielte nur etwas mehr als vier Prozent.
In der Stichwahl acht Tage später erhielt die Liste des FN dann etwa 47 Prozent der abgegebenen Stimmen, die des Mitte-Links-Kandidaten Daniel Duquenne hingegen mehr als 52 Prozent. Die Rechtsextremen, angeführt vom Spitzenkandidaten Steeve Briois und von Marine Le Pen, der Tochter des FN-Vorsitzenden Jean-Marie Le Pen, auf dem zweiten Listenplatz, lagen nur 530 Stimmen hinter der »Alliance Républicaine« von Duquenne. Beobachter hatten vorher sogar einen Wahlsieg des FN für möglich gehalten. Die örtliche Linke war in den vergangenen Monaten von Korruptionsskandalen erschüttert worden, der ehemalige Bürgermeister Gérard Dalongeville sitzt seit April wegen Unterschlagung und Urkundenfälschung im Gefängnis.

Nicht überall hingege schneidet der FN derzeit so gut ab wie in Hénin-Beaumont. Auch im südwestfranzösischen Perpignan wurde im Juni gewählt: Die Kommunalwahlen vom März 2008 mussten wegen eines Wahlbetrugs, der so genann­ten Socken-Affäre, wiederholt werden. Ein Wahlhelfer des damals amtierenden Bürgermeisters Jean-Paul Alduy war bei der Auszählung der Stimmen mit in seinen Strümpfen versteckten Wahlzetteln erwischt worden. Auch in Perpignan trat ein hochrangiger Parteifunktionär des FN an, der 40jährige General­sekretär Louis Aliot, und machte sich große Hoffnungen, nachdem der Ruf des Amts­inhabers wegen der Socken-Affäre stark gelitten hatte.
Doch von zwölf Prozent, die Louis Aliot mit seiner Liste im März 2008 im ersten Wahlgang erhielt, sank der Stimmenanteil für den FN in der diesjährigen Kommunalwahl auf etwa neun Prozent. Da Aliots Liste unterhalb der Zehn-Prozent-Hürde blieb, konnte sie weder ihre Kandidatur in der Stichwahl aufrechterhalten, noch wird sie künftig im Stadtrat von Perpignan vertreten sein. Dagegen triumphierte der Amtsinhaber Alduy, der für die konservativ-liberalen Rechten antrat. Er gewann sowohl den ersten Wahlgang als auch die Stichwahl souverän vor zwei konkurrierenden Listen.
Dass einerseits der Stimmenanteil des FN im Vergleich zum Vorjahr noch kleiner geworden ist, andererseits aber Bürgermeister Alduy trotz des vorangegangenen Skandals so deutlich gewonnen hat, liegt auch daran, dass dessen Liste sehr weit rechts steht: Ihr ist es gelungen, die rechtsextremen Wähler zum großen Teil an die UMP zu binden. Von diesen gibt es in Perpignan nicht wenige, sie kommen aus dem dortigen Milieu der »Pieds Noirs« (Schwarzfüße), wie die ehemaligen Kolonialsiedler in Algerien genannt werden.
Diese Kreise, eine Art von Vertriebenenmilieu, hegen häufig rechtsextreme Revanchegelüste, wenngleich die Prägung durch die historische Erfahrung der Aussiedlung aus Nordafrika nach der algerischen Unabhängigkeit in jüngerer Zeit eher nachlässt. In den achtziger und neunziger Jahren konnte der FN noch einen Gutteil der Wählerstimmen der »Pieds Noirs« gewinnen, die sich ab 1962 vor allem entlang des Mittelmeer­beckens von Perpignan im Westen bis Nizza im Osten angesiedelt hatten. Doch seit Anfang dieses Jahrzehnts ist es der konservativen Rechten unter Nicolas Sarkozy größtenteils gelungen, dem FN diese Wähler abspenstig zu machen. Der neuen und anscheinend stabil bleibenden Hegemonie des konservativen Bürgerblocks über dieses spezifische Milieu ist es in erster Linie zu verdanken, dass der FN in Perpignan jüngst so schwach abschnitt, während andererseits die bürgerliche Rechte trotz Aufsehen erregender Affären weiterhin Wahlen gewinnt.

Die überaus unterschiedlichen Ergebnisse des FN in der nord- und der südfranzösischen Stadt deuten zweifellos darauf hin, dass sich die frühere Wählerschaft der rechtsextremen Partei im Wesentlichen in zwei Hälften gespalten hat. Seit mehr als zwei Jahren steckt der FN in einer sehr schweren Krise, weil er zum einen die Nachfolge für den alternden Jean-Marie Le Pen nicht klären und zum anderen das Strategieproblem nicht lösen kann, das daraus resultiert, dass ein nach rechts gerückter, konservativer Block die Möglichkeiten des FN einschränkt.
So ist dem FN vor allem seine Arbeiterwählerschaft verblieben, die er größtenteils erst in den neunziger Jahren wegen der Krise der Linken nach 1989 für sich gewonnen hat. Hingegen hat sich seine frühere Wählerschaft aus dem Kleinbürgertum und der Mittelschicht zum großen Teil den Konservativen unter Sarkozy zugewandt. Sofern diese Wähler vom Präsidenten enttäuscht sind, flüchten sich viele von ihnen nun seit kurzem in die Wahlenthaltung. Aber sie kehren, bisher jedenfalls, nicht zum Front National zurück.