Bodo Thiesen und die Piratenpartei

Gnade für den Gedankenverbrecher

Bis zum stellvertretenden Parteirichter hat es Bodo Thiesen in der Piratenpartei gebracht. Dass er den Holocaust relativiert und die deutsche Kriegsschuld leugnet, veranlasst die Piraten bisher nur zu zögerlichen Reaktionen.

Vielleicht dachte Jörg Tauss, er könne mit der Twitter-Meldung bei seinen neuen Parteikollegen Sympathien gewinnen. »Notierte, was sich Piraten z. Zt. anhören müssen: Kinderschänder, Diebe, polit. Arm von krimineller Vereinigung, nun rechtsradikal. Noch was?« schrieb er am 6. Juli.
Kurz zuvor waren, noch während der Bundesdelegiertenkonferenz der Piratenpartei, schwere Vorwürfe gegen das Vorstandsmitglied Bodo Thie­sen erhoben worden. Thiesen habe in zahlreichen Internetdiskussionen die deutsche Kriegsschuld geleugnet, den Holocaust relativiert und sich antisemitisch geäußert, hieß es in den mit Links zu diversen Foren und Newsgroups ausgestatteten Tweeds, die schließlich auch die Delegierten erreichten.
Unter dem begeisterten Beifall der Anwesenden sagte Thiesen auf Nachfrage kurz und knapp, er habe den Holocaust nicht geleugnet, wer das anders sehe, solle ihn anzeigen. Anschließend wurde er zum stellvertretenden Parteirichter gewählt. Dass der arbeitslose IT-Techniker bereits einmal wegen seiner Äußerungen zum Holocaust parteiintern verwarnt worden war, wurde nicht erwähnt. Wie wenig ernst gemeint seine damalige Entschuldigung war, lässt sich zudem an einem Zusatz erkennen, den Thiesen im Jahr 2007 zur »Stellungnahme zu Geschichte und Verantwortung« des Parteivorstands anbrachte. Deutschland trage unter anderem die Verantwortung für den Überfall auf Polen, hieß es in der Erklärung, Thiesen kommentierte neben seiner Unterschrift: »Streiche Überfall, setze Angriff.«
Warum dieser Unterschied so wichtig ist, hatte er unter anderem im Telepolis-Forum mehr­fach erläutert: »Es hören manche Leute nicht gern. Aber Hitler wollte keinen Krieg. Zumindest nicht mit dem Westen. (Ich glaube aber, generell nicht.)« Und: »Ah, jetzt wurde also die Sowjet­union inzwischen auch überfallen. Seit wann eigentlich das? Das muss doch noch ziemlich neu sein.«

Thiesen begründete seine Thesen unter anderem mit Argumenten aus dem Buch »Hinter den Kulissen der Politik – Was die Deutschen nicht wissen sollen« von Hans Werner Woltersdorf, das im rechtsextremen Grabert-Verlag erschienen ist: »Jedenfalls steht hier schwarz auf weiß, dass Polen in der Phase der Generalmobilmachung war (Kriegserklärung laut LKO).« Die von Thiesen hier vorgebrachte These, die sich auf die Haager Landkriegsordnung (LKO) bezieht, ist so gebräuch­lich wie falsch. Eine Mobilmachung wird dort an keiner Stelle als Kriegsgrund angeführt, gleichwohl muss die LKO in Nazikreisen häufig als Begründung für die deutsche Kriegsunschuld und andere krude Theorien herhalten, wahrscheinlich einfach nur deswegen, weil die Nazis sich recht sicher sein können, dass niemand Lust hat, sich die in altertümlichem Deutsch verfassten Vorschriften durchzulesen.
Gegenargumente interessierten Thiesen hingegen nicht. Auf den Einwand, man beschäftige sich nicht mit den von ihm immer wieder genann­ten Naziautoren, konterte er: »Aber mit dem Umerziehungsgeschmeiß befasst du dich?« Zudem behauptete Thiesen, »die Juden« hätten den Zweiten Weltkrieg begonnen. Einem Mitdiskutan­ten, der geschrieben hatte, dass eine solche Äußerung »mehr Schaden anrichtet als jegliche Behauptung über die Haarfarbe eines Politikers«, beschied er kühl: »Schaden? Welchen Schaden rich­tet denn diese Behauptung deiner Meinung nach an? Und: Was stimmt deiner Meinung nach nicht an dieser Aussage?« Des Weiteren wog Thiesen dann »das eine Unrecht (Kriegserklärung einer Re­ligion/eines Volkes ohne Staat/einer Rasse – oder als was auch immer man ›Jude-Sein‹ definie­ren möchte – gegen einen anderen Staat)« gegen »das andere Unrecht (haufenweise Vernichtung vieler armer und wehrloser Seelen – und das waren nicht nur Juden, obwohl die Medien immer wieder den Eindruck erwecken könnten)« auf.
Überdies sollten sich die derzeit in Deutschland lebenden Juden nicht so anstellen, schließlich könnten sie ja jederzeit nach Israel auswandern: »Es steht jedem Juden frei, jederzeit Deutschland für immer zu verlassen. Und im Gegensatz zum Dritten Reich dürfen die heute sogar ihr gesamtes Hab und Gut mitnehmen.«

In weiteren Diskussionen bei Telepolis versuchte Thiesen, seinen Anspruch als relativ unpolitische, nur nach der Wahrheit suchende Person mit einem Zitat zu untermauern: »Zum Recht des Wahrheitssuchenden gehört es, zweifeln, forschen und abwägen zu dürfen. Und wo immer dieses Zweifeln und Wägen verboten wird, wo immer Menschen verlangen, dass an sie geglaubt werden muss, wird ein gotteslästerlicher Hochmut sichtbar, der nachdenklich stimmt.« Dass Thiesen ausgerechnet diese, in Nazikreisen übrigens oft verwendeten Sätze des österreichischen Priesters Viktor Knirsch benutzte und vor allem kannte, spricht für sich. Sie stammen aus einem Brief des Geistlichen an Gerd Honsik, österreichischer Holocaustleugner und Neffe des KZ-Kommandanten Amon Göth. Honsik machte unter anderem durch sein Buch »Freispruch für Hitler?« von sich reden, in dem bekannte Nazis von Alois Brun­ner bis Ernst Zündel als »37 ungehörte Zeugen wider die Gaskammer« präsentiert werden.
Zweieinhalb Stunden nach seiner Twitter-Nach­richt erkannte wohl auch Jörg Tauss, dass er einen Fehler gemacht hatte. Mittlerweile waren Thie­sens Internetpostings fast lückenlos dokumentiert worden. Deshalb twitterte Tauss: »Klare Kante bei Jens Seipenbusch: Wir werden ihn auffordern, sich klar und unmissverst. zum Holocaust zu äußern.« Doch Tauss ahnte nicht, dass der neue Parteivorsitzende Seipenbusch, der in einem Radiointerview zuvor gesagt hatte, dass man »allen Leuten, denen unsere Themen wirklich sehr, sehr wichtig sind, die Möglichkeit bieten will, sich zusammenzutun, egal ob sie aus dem eher linken oder eher rechten Lager kommen«, den Fall Thiesen weder schnell noch eindeutig beenden würde.
Die von Seipenbusch geforderte Distanzierung Thiesens bestand unter anderem aus den Sätzen: »Ich habe keinen Zweifel daran, dass im Zuge dieses durch das nationalsozialistische Deutschland begangenen Verbrechens über sechs Millionen Menschen umgebracht worden sind, die meisten von ihnen Juden.« Und: »Ich werde in Zu­kunft jegliche Äußerungen unterlassen, die an dieser, meiner Meinung Zweifel aufkommen lassen könnten.«

Die neuerliche Diskussion über den Fall Thiesen wurde im Forum der Piratenpartei teilweise unterbunden. Mit der Begründung, ein User habe Thiesen strafrechtlich relevant beleidigt, wurde ein Thread von einem Moderator für einige Stunden geschlossen, statt die Äußerung einfach zu löschen. Ein offener Brief von Parteimitgliedern, in dem Thiesens Entschuldigung als unzureichend bezeichnet und sein Rücktritt von den Äm­tern und sein Austritt aus der Partei gefordert wird, fand bis Montagmittag 91 Unterzeichner. 22 Piraten lehnten den Inhalt des Briefs jedoch vollständig ab, unter anderem mit Erklärungen wie: »Ich lehne es ab, mich an der Verfolgung von Gedankenverbrechen zu beteiligen.« 33 Parteimit­glieder waren gegen die Diskussion um Thiesen. Einer schrieb zur Begründung: »Links- und/oder rechtsradikale Gedankenpolizei? Nein, danke!«