Atomkraft als Wahlkampfthema der SPD

Wahlkampf? Ja, bitte!

Organisiert die SPD die nächsten Demonstrationen gegen Atomkraft? Nach dem Störfall im AKW Krümmel macht die Partei fleißig Wahlkampf mit dem Thema.

Möglicherweise war Umweltminister Sigmar Gabriel ernsthaft besorgt, als er Anfang des Monats, nach dem neuesten »Störfall« im norddeutschen Atomkraftwerk Krümmel, vor die Presse trat. Trotzdem konnte man aus den markigen Sprüchen gegen die Atomindustrie so etwas wie klammheimliche Freude heraushören – endlich ist die Atomkraft zum Wahlkampfthema seiner Partei geworden! So ist das Thema auf der offiziellen Wahlkampfseite inzwischen prominent plat­ziert, und auf der Startseite von Gabriels Ministerium prangt der Button »Atomkraft? Nein, danke«. Das darüber stehende Zitat von Gabriel klingt allerdings schon beinahe wie ein Kompromiss mit der Union: »Die jüngsten Vorfälle in Krümmel beweisen, dass eine Laufzeitverlängerung für ältere Atomkraftwerke nicht zu verantworten ist.«

Das AKW Krümmel in Schleswig-Holstein sollte Anfang Juli nach zweijähriger Wartung wieder ans Netz gehen. Peinlich für die Betreiber Vattenfall und Eon: Gleich nach dem Wiederanfahren des Reaktors kam es erneut zu einer Störung. Das lag auch an der mangelhaften Kontrolltechnik, die eigentlich während der zweijährigen Wartung verbessert werden sollte. Der Meiler steht seitdem wieder still – womöglich für immer.
Führende SPD-Politiker überbieten sich inzwischen mit druckreifen Sprüchen gegen die Atomindustrie. »Der Störfall ist der Normalfall«, sagt Sigmar Gabriel; der Generalsekretär der SPD, Hubertus Heil, spricht von »Schrottreaktoren«; der sozialdemokratische Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier verbindet mit der Atomkraft die »energiepolitische Steinzeit« und hat auch schon die endgültige Stilllegung von Krümmel gefordert.
Nichts ist durchschaubarer als das. Aus Krümmel wird vor der Bundestagswahl parteipolitisches Kapital geschlagen. Geschickt stellt sich die SPD als Gegenspielerin der Atomindustrie dar und tut fast so, als wolle sie gegen den nächs­ten Castor-Transport eine eigene Demonstration anmelden.
Dabei ist gerade die SPD vielen parteiunabhängigen AKW-Gegnern noch sehr unangenehm in Erinnerung. Als der »Atomkompromiss« im Jahr 2002 mit den Grünen ausgehandelt wurde – mit deren Rolle die Atomkraftgegner ebenfalls keinesfalls zufrieden waren –, galt die SPD noch als Vertreterin der Interessen der Wirtschaft. Statt Termine festzulegen, zu denen die Atomkraftwer­ke abgeschaltet werden sollen, wurde den Betreibern die Produktion bestimmter Strommengen zugebilligt. Die damalige Bundesregierung wollte damit erreichen, dass die alten und besonders unsicheren Reaktoren zuerst heruntergefahren würden.
Allerdings hat diese Regelung den Betreibern in die Hände gespielt, weil die nun mit verlängerten Wartungszeiten versuchen können, ihre Reak­toren über die Bundestagswahl zu retten, nach der eine atomfreundliche Regierung aus Union und FDP das Sagen haben könnte. Bislang wurden mit Stade und Obrigheim erst zwei deutsche AKW seit dem Ausstiegsbeschluss stillgelegt. 17 bleiben übrig.

Atomkraftgegner glauben keineswegs einvernehm­lich, dass die Äußerungen der SPD zur Atomkraft reines Wahlkampfgeplänkel sind. »Die Kritik ist ernst zu nehmen«, sagt Heinz Smital von Greenpeace. Die Führung der SPD habe erkannt, dass sie sich mit dem Thema Atomausstieg bei der Bevölkerung beliebt machen könne. Die ist nämlich, einigen Studien zufolge, überwiegend dafür, die Kraftwerke abzuschalten. Eine aktuelle Forsa-Um­frage ergab, dass zwei Drittel der Deutschen den Atomausstieg befürworten oder ihn sogar be­schleu­nigen wollen. Aber auch unabhängig davon haben die Sozialdemokraten nach der Ansicht von Smital den Abschied von der Atomkraft mittlerweile verinnerlicht.
Christoph Bautz, Atomkraftgegner vom Bündnis Campact, sieht das ähnlich: »Die Partei kann inzwischen von ihrer Position nicht mehr abweichen. Dafür haben sich die Parteispitzen zu weit aus dem Fenster gelehnt.« So forderte etwa Sigmar Gabriel, die Laufzeiten der älteren AKW weiter als bisher geplant zu verkürzen – eine Idee, die Heinz Smital von Greenpeace begrüßt: »Gerade von den alten Kraftwerken geht eine hohe Gefahr aus.« Die Kontrolle dieser Meiler sei besonders schwierig, weil durch Reparaturen immer wieder neue Bauteile hinzukämen. Außerdem seien die Sicherheitsstandards dieser AKW-Generation deut­lich nie­driger als bei den neueren Kraftwerken, was Pannen oder mögliche Terroranschläge angeht.
Greenpeace widerspricht mit einer Studie auch der verbreiteten Behauptung von der drohenden »Stromlücke«: Die sieben ältesten Atomkraftwerke in Deutschland, einschließlich Krümmel, könnten sofort abgeschaltet werden und alle anderen bis zum Jahr 2015, ohne dass es zu Engpässen bei der Stromversorgung käme. Zeitweise seien in den vergangenen Jahren sieben Meiler gleichzeitig außer Betrieb gewesen, ohne dass der Stromverbraucher etwas davon gemerkt hätte. Nach Angaben des Energieverbands BDEW wurden im vergangenen Jahr 22 Milliarden Kilowattstunden Strom mehr aus Deutschland ins Ausland ge­schickt als importiert, so viel, wie immerhin etwa zwei große Atomkraftwerke jährlich produzieren. Das belegt den Überschuss.

Etwas schwerer haben es derzeit die Unionspolitiker, die zwanghaft versuchen, die vielgeliebte Atomwirtschaft gegen die Kritiker zu verteidigen. Günther Oettinger (CDU), der baden-württembergische Ministerpräsident, hält die deutschen Meiler sogar für besonders sicher und will alle Anlagen, die »dem Stand der Technik entsprechen«, ohne zeitliche Beschränkung laufen lassen. Heinz Smital glaubt nicht an die außergewöhnliche Sicherheit der deutschen AKW: »Es ist unklar, auf welche Grundlage sich diese Aussage bezieht.«
Auch wenn einzelne Unionspolitiker wie der Ham­burger Erste Bürgermeister Ole von Beust und der hessische Ministerpräsident Roland Koch mittlerweile den Konzern Vattenfall für die neuen Vorfälle in Krümmel kritisieren, ändert das nichts an der grundsätzlichen Einstellung der Uni­on. Günther Oettinger hat wie viele seiner Parteikollegen längst den »Ausstieg aus dem Ausstieg« unter einer schwarz-gelben Regierung angekündigt.
Auch der Präsident des schwedischen Konzerns Vattenfall, Lars Göran Josefsson, zeigt wenig Demut nach dem misslungenen Fehlstart seines Atomkraftwerks in Norddeutschland. Er malt sich schon »Chancen für eine Wende« in der Atom­politik aus, sollten CDU und FDP bei der Bundestagswahl an die Macht kommen. Angela Merkel hat jüngst bekannt, sie fände es »schade«, aus der Atomtechnologie auszusteigen.

Für die Atomkraftgegner ist deshalb klar, dass mit der Bundestagswahl eine Systementscheidung ansteht. Sollte es zu einer rot-grünen Regierung kommen, könnte der Atomausstieg sogar schneller erfolgen als bisher geplant. Dabei könnte die SPD auch mit der Unterstützung der Linkspartei rechnen, die eine sofortige Stilllegung der deutschen Atomkraftwerke fordert.
Entgegen der Behauptung der CDU, die Atomkraft sei eine »Brückentechnologie« hin zu mehr erneuerbaren Energien, sind viele Fachleute überzeugt, dass der Anteil von Wind- und Solarkraft schneller wachsen würde, wären die AKW erst abgeschaltet. Denn die Reaktoren blockierten bislang die Netze mit ihren großen Strommengen und verhinderten somit, dass große Mengen von Strom aus erneuerbaren Energiequellen eingespeist wurden.
»Wir kommen jetzt in eine Phase, wo der Atom­ausstieg erstmals richtig greift«, sagt Christoph Bautz von Campact. Sieben Atomkraftwerke würden nach dem derzeitigen Ausstiegsplan in der kommenden Legislaturperiode abgeschaltet. Die Atomkraftgegner außerhalb des Parlaments wollen daher ihren Druck auf die Parteien vor der Wahl erhöhen. »Wir haben jetzt die Chance, die Debatte zuzuspitzen und zu zeigen, dass es bei die­ser Wahl um viel geht«, sagt Bautz.
Für den 5. September ruft ein Bündnis zu einer Großdemonstration in Berlin auf. Damit will man an den Erfolg der jüngsten Proteste gegen die Castor-Transporte nach Gorleben anknüpfen. Rund 16 000 Menschen hatten sich Ende vergangenen Jahres daran beteiligt, mehr als drei Mal so viele wie in den Jahren zuvor. So viel Unterstützung von der Anti-AKW-Bewegung hat sich die SPD wohl nicht zu wünschen gehofft.