Die Uiguren und der chinesische Staat

Zwischen Krise und Kalifat

Auf eine Demonstration uigurischer Studen­ten folgten rassistische Hetzjagden. In der verarmten chinesischen Peripherie gewinnen islamistische und nationalistische Ideologien an Einfluss.

Polizisten überwachen die wichtigsten Straßen Urumqis, über der Stadt kreisen Hubschrauber. Am Montag wurden zwei Uiguren erschossen, nach offiziellen Angaben hatten sie Polizisten mit Messern angegriffen. Doch die strikte Überwachung verhindert weitere Unruhen.
Am vorvergangenen Sonntag war es in Urumqi, der Hauptstadt der westchinesischen Provinz Xinjiang, zu Ausschreitungen gekommen. Den An­gaben der Regierung zufolge wurden 184 Menschen getötet und über 1 000 verletzt. Uigurische Quellen sprechen hingegen von 800 Toten. Auslöser der uigurischen Proteste war der Angriff eines chinesischen Mobs auf uigurische Wanderarbeiter einer Spielzeugfabrik in Shaoguan im südchinesischen Guangdong am 26. Juni. Später wider­legten Gerüchten zufolge hatten uigurische Arbeiter zwei Han-Chinesinnen vergewaltigt. Etwa 5 000 han-chinesische Arbeiter stürmten das Fabrikwohnheim der Uiguren, mindestens zwei Arbei­ter wurden erschlagen und 118 schwer verletzt.
Die Weltwirtschaftskrise hat viele chinesische Industriezweige hart getroffen. Mehr als die Hälfte der chinesischen Spielzeugfabriken, die im Jahr 2005 für 70 Prozent der globalen Produktion stan­den, ist in Konkurs gegangen. Massenentlassungen und gewalttätige Proteste waren die Folge. Die Vermutung liegt daher nahe, dass die Konkurrenz unter den Lohnabhängigen um die wenigen verbliebenen Jobs zur Eskalation der rassistischen Gewalt beigetragen hat.

Am Vorabend der Proteste sollen Aufrufe für eine Demonstration in Urumqi kursiert sein, deren hauptsächliche Forderung die strafrechtliche Ver­folgung der Mörder von Shaoguan war. Rund 80 uigurische Studierende scheinen dann am Sonntagnachmittag losgezogen zu sein, ihnen schlossen sich schnell viele Menschen an. Wie es zur Eskalation kam, ist unklar. Die offizielle chinesische Version spricht von einem vom Ausland und dem World Uyghur Congress (WUC) initiierten Aufstandsversuch, der WUC behauptet, die Polizei habe wahllos in die Menge geschossen, nach­dem Provokateure die Ausschreitungen begonnen hätten.
Der uigurische Mob plünderte mehr als 200 Geschäfte, Amateurbilder zeigen einen kleinen De­monstrationszug ohne Transparente, der sich durch die Innenstadt Urumqis bewegt. Später zer­schlugen junge Männer mit Knüppeln Busfenster und warfen Polizeiautos um. Viele Han-Chine­sen wurden zu Tode geprügelt oder erstochen. Es kam zu Massenverhaftungen von Uiguren, am Montag der vergangenen Woche marodierten mit Knüppeln bewaffnete Han durch die Stadt und machten Jagd auf Uiguren. Die Sicherheitskräfte reagierten mit militärischer Repression und hatten die Stadt bis Donnerstag wieder weitgehend unter Kontrolle, während sich die Proteste auf Kashi, Aksu und andere Städte ausweiteten. Dort sind aber Telefone und Internet gesperrt, es gibt keine Informationen über die Ereignisse.

Die chinesischen Medien interpretieren die Unruhen als vom WUC dirigiertes Pogrom gegen die Han. Vollkommen abwegig ist diese Interpretation nicht. Der WUC distanziert sich von jeglicher Gewalt, doch ist die tatsächliche Rolle der Organisa­tion, die für ein »East Turkestan« kämpft, un­klar. Überdies hat der transnationale Islamismus unter den muslimischen Uiguren Anhänger gewonnen, einige uigurische Jihadisten wurden in Guantánamo interniert. Es ist möglich, dass Islamisten, die von einem zentralasiatischen Kalifatsstaat träumen, zur Eskalation beigetragen haben.
Doch der Konflikt hat eine lange regionale Geschichte. Seit über 2000 Jahren ist Xinjiang der Grenzbereich zwischen China und dem türkisch geprägten Zentralasien. Die Kontrolle über die lukrative Seidenstraße war stets zwischen den chi­nesischen Dynastien, Räuberhorden und regionalen Reichen umkämpft. Die seit den neunziger Jahren aufflammenden separatistischen Bestrebungen werden vom chinesischen Zentralstaat hart bekämpft. Durch Chinas »Wilden Westen« führen die neuen Ölpipelines aus Kasachstan, Xin­jiang verfügt über die zweitgrößten Öl- und die größten Gasvorräte der Volksrepublik und ist militärstrategisch relevant.
Nicht erst die Bombenattentate uigurischer Extremisten, bei denen im vergangenen Jahr 30 Menschen starben, haben zu einer gesonderten Behandlung der Uiguren durch chinesische Sicherheitskräfte geführt, deren Repressionsrepertoire, von Inhaftierung über Folter und Hinrichtungen bis zum kürzlich eingeführten Verbot von Kopftuch und Moscheebesuch für Beamte, recht umfassend ist. Der antiterroristische Diskurs im Olympiajahr hat zudem Ressentiments gegen separatistische Minoritäten geschürt.

Ökonomisch profitiert die Mehrheit der Uiguren kaum von der Entwicklung Chinas. Die 1978 von Deng Xiaoping eingeleitete »neoliberale Wende« hat zu einer Zunahme der regionalen Ungleichheit geführt. Den von der Exportorientierung pro­fitierenden Küstenregionen steht eine abgehängte inländische Peripherie gegenüber. Das Durchschnittseinkommen liegt in Xinjiang bei einem Drittel des nationalen Verdiensts, viele arme Bau­ernhaushalte müssen sogar mit weniger als 80 Eu­ro pro Jahr auskommen. Die Ausbildung vieler Uiguren ist relativ schlecht, sie müssen sich zu mi­serablen Bedingungen als Wanderarbeiter in den Industriezentren des Ostens verdingen. Es wird auch davon berichtet, dass uigurische Dorfvorsteher von Fabrikbesitzern Zahlungen für die Lieferung von Sklavenarbeitern bekommen.
In China ist derzeit eine zweite Kapitalisierung der Gesellschaft im Gange, die zu einer Kommerzialisierung der Lebensverhältnisse in der Binnenperipherie führt. Die ursprüngliche Akkumulation erfasst den »Wilden Westen« Chinas. Uigurische Bauern verlieren ihren Boden, weil sie die Kredite für das Saatgut nicht zurückzahlen können, häufig kaufen Han die Ländereien auf. Die Landschaft wird auf der Suche nach Bodenschätzen umgepflügt, und Millionen Han-Zuwan­derer haben den Status der rund acht Millionen Uiguren als Bevölkerungsmehrheit in Xinjiang unterminiert. Auch sind es meist die Han, die in den Städten von der Kapitalisierung profitieren.
Den Minoritäten der Peripherie wird zehn bis 20 Jahre später als den Bewohnern der Küstenregionen ihre realsozialistische Lebensgrundlage entzo­gen. Proletarisiert und auf einen Arbeitsmarkt ge­worfen zu werden, der sie, zumal in der Krise, nicht absorbieren kann, wird von vielen als koloni­ale Vertreibung durch »die Han« interpretiert. Unter den Uiguren gewinnt die transnationale islamis­tische Ideologie an Einfluss, unter den Han der Na­tionalismus, gefördert von der Regierung, die seit einigen Jahren die brüchig wer­dende Wachstums­ideologie durch Chauvinismus ersetzt. Es steht zu befürchten, dass die Bildung rassistischer Mobs auf beiden Seiten und die Pogrome Vorboten eth­nisierter sozialer Konflikte sind, die sich mit der Krise wei­ter verschärfen könnten. Die Enteigneten scheinen eher überei­nander her­zufallen, als sich gemeinsam zu wehren.