Über das Leben nach der Kohle in der Lausitz

Neues Leben nach der Kohle

Nach der Erdrutschkatastrophe in Nachterstedt (Sachsen-Anhalt), bei der am Samstag drei Menschen verschüttet wurden, fürchtet man sich auch in anderen Regionen, in denen früher Braunkohle-Tagebau stattfand, vor ähnlichen Un­fällen. Die Landschaft in der Lausitz befindet sich seit Jahren im Umbruch. Von echten Mondlandschaften bis zu künstlichen »Tropenparadiesen« ist alles zu ­finden.

»Sehen Sie den Schornstein am Horizont?« Hilmar Laube zeigt auf den etwa 30 Kilometer entfernten Schornstein eines Braunkohle-Kraftwerks in der Lausitz. »Da wollten wir eigentlich hinfahren mit unserer Förderanlage samt Baggern, dann eine 180-Grad-Kehre machen und wieder zurück. Das hätte ungefähr 30 Jahre gedauert. Und dann hätte man den F 60 gerne zum Museum machen können«. Aber es kam anders.
Der F 60, die größte Braunkohle-Förderanlage der Welt, wurde bereits zwei Jahre nach der Wende wegen mangelnder Nachfrage nach Braunkohle-Briketts stillgelegt. Nun ragt die riesige Stahlkonstruktion, fast zweimal so hoch wie der Eiffelturm, als Industriemuseum in den Lausitzer Himmel. Und Hilmar Laube, der zu DDR-Zeiten für die »unorthodoxe Ersatzteilbeschaffung« zuständig war, führt heute Touristengruppen in die luftige Höhe von 80 Metern.
Heute betreut er eine 18köpfige Gruppe des Bildungswerks der grünen Heinrich-Böll-Stiftung, die sich auf einer fünftägigen Fahrradtour durch die Lausitz und den Spreewald befindet. Gesucht wird das »neue Leben nach der Kohle«.
Nachdem der resolute Mittfünfziger in die Sicherheitsbestimmungen eingewiesen hat – »Ich habe jetzt das Sagen, einverstanden?« –, steigt die Gruppe über unendliche Stahltreppen und Brücken die Förderanlage hinauf. Während am nördlichen Horizont der Berliner Fernsehturm nur schwer zu erkennen ist, sieht man im Osten die Rauchsäulen der Vattenfall-Braunkohle-Kraftwerke von Jänschwalde und Boxberg aufsteigen. Hier, nördlich und südöstlich von Cottbus, sind noch vier von ursprünglich 32 großen Braunkohle-Tagebaugebieten in der Lausitz in Betrieb, die letzte Genehmigung läuft 2045 aus. »F 60 bedeutet, dass die Anlage bis zu 60 Meter tief das Erdreich abtragen konnte, um die etwa zehn Meter dicken Kohleflöze freizulegen«, erklärt Laube und beginnt, sich für die Zahlen zu begeistern. »Allein eine Baggerschaufel fasste 3 750 Liter, in 60 Minuten konnte die Anlage 29 000 Kubikmeter Erdreich bewegen, das sind rund 50 Güterzüge voll.« Man sieht ihm deutlich den Schmerz darüber an, wie »sinnlos« die in den letzten Jahren der DDR vom VEB Takraf gebaute und damals rund 600 Millionen Mark (knapp 300 Millionen Euro) teure Anlage nun in der Gegend herumsteht. Dabei kann man direkt vor der Baggeranlage auch 15 Jahre später die noch fast pflanzenlose Mondlandschaft sehen, die der Bagger in der Landschaft hinterlässt. Auch dezente Hinweise der Besucher auf den Klimawandel bügelt Hilmar Laube mit einem flotten Spruch ab.

In einem ähnlichen Tonfall weist auch Henry Löwenherz wenige Kilometer weiter im Windpark Klettwitz alle Einwände wegen der Lärmbelästigung zurück. Dabei ist das tiefe Dauerbrummen der auf einer Braunkohle-Abraumhalde errichteten Anlage selbst in einem Kilometer Entfernung noch zu hören. Viel mehr begeistert auch Löwenherz sich für technische Superlative: »Die aus 39 Windkrafträdern bestehende Gesamtanlage war beim Bau mit 100 Megawatt die leistungsstärkste Europas, jetzt ist es immerhin noch der leistungsstärkste Windpark Deutschlands.« Derzeit werden nach und nach die »V 66«, Windräder mit 66 Metern Durchmesser, durch die »V 90« ersetzt, die »das Doppelte bis Dreifache an Leistung erzeugen«. Die alten Anlagen werden dann »Richtung Osten abgestoßen«. Irritiert reagiert Löwenherz auf die Frage nach dem Eigentümer der Anlage. Die Hälfte des Geldes für die rund 75 Mil­lionen Euro teure Anlage stamme von einem geschlossenen Fonds, der sich neben Windkraft »auch in Containerschiffen und Spezialimmobilien engagiert«. Der Rest werde über Bankkredite finanziert, »eben ganz gewöhnlicher Kapitalismus«.

Um ganz gewöhnlichen Kapitalismus geht es auch dem schwedischen Staatskonzern Vattenfall, der den riesigen Tagebau nordöstlich von Cottbus betreibt. »Braunkohle für rund drei Milliarden Euro liegt hier noch im Boden«, berichtet Daniel Häfner, Aktivist bei Robin Wood und jahrelang im Widerstand gegen die Abbaggerung der Dörfer Horno und Lakoma aktiv. »Insgesamt wurden in der Region seit dem Beginn des großflächigen Tagebaus im Jahr 1928 90 Dörfer abgebaggert«, erzählt Häfner, der an der TU Cottbus Kultur und Technik studiert. Und er berichtet, was dies für die noch rund 300 000 Sorben und Wenden bedeutete. Aber er ist Wissenschaftler genug, um auch zu erwähnen, dass die eigentlichen Ursachen der Zurückdrängung der sorbischen Alltagskultur »die vielen deutschsprachigen Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg waren, die auf einmal auch die deutsche Sprache in die Dörfer brachten und die nachfolgende Kollektivierung, mit der sich Deutsch als Arbeitssprache durchsetzte«. Heute bekennen sich nur noch 60 000 Menschen zur sorbischen Sprache, »zu wenig für einen Kulturerhalt«.
Sichtlich bewegt führt Häfner die Gruppe an die Stelle, wo einst Lakoma stand, früher ein blühendes Dorf inmitten von vor Jahrhunderten von Mönchen angelegten Fischteichen. Heute nach der Grundwasserabsenkung und Trocken­legung ein wüstes Land. Am Horizont nähert sich schon ein »F 34«, eine Förderanlage mit 34 Metern Tiefgang. Ohne Unterbrechung wirft das Förderband die am einen Ende abgetragenen Erdmassen etwa einen Kilometer entfernt am anderen Ende der Anlage wieder ab. Zurück bleibt tote Erde. »Selbst der Schutzstatus der Europäischen Union als Flora-Fauna-Habitat hat nichts genutzt«, erzählt Häfner weiter, »eine Klage der Grünen Liga hätte am Ende 120 000 Euro gekostet, und die hatten wir nicht.« Es geht um viel Geld. Allein 200 Millionen Euro zahlt Vattenfall jährlich in der Region an Steuern, in den Etat von Cottbus fließen jährlich 18 Millionen Euro. Und die Mehrheit der Menschen scheint hinter der Braunkohle zu stehen. Ein von den Grünen im vergangenen Jahr angeschobenes und von der »Linken« halbherzig unterstütztes Volksbegehren gegen weiteren Braunkohletagebau scheiterte deutlich an den fehlenden Unterschriften.
Doch aus einer Minderheitenposition heraus zu agieren, hat für den Widerstand in der Region fast schon Tradition. Eine zufällig vorbeikommende ehemalige Dorfbewohnerein berichtet von ihrem jahrzehntelangen Kampf gegen den Braunkohletagebau. »Schon zu DDR-Zeiten sind fünf Frauen aus unserem Dorf nach Berlin zu Hermann Axen vom Zentralkomitee der SED gefahren und haben dort einen Aufschub für Lakoma und die Zusicherung einer späteren gemeinsamen Umsiedlung des Dorfes erreicht.« Aus ihrer Sicht hat sie der aus der DDR-Umweltbewegung kommende Ministerpräsident Matthias Platzeck »verraten und verkauft«. Und wie Häfner befürchtet sie: »Mit dem neuen CO2-Einlagerungsgesetz könnte der Braunkohletagebau erst richtig losgehen.«
Davon träumt auch Vattenfall und versuchte bis vor wenigen Tagen, dieses Gesetz noch vor dem Ende der Legislaturperiode durch den Bundestag zu bekommen. Es sieht die Abspaltung des klimaschädlichen CO2 bei der Verfeuerung der Braunkohle und seine nachfolgende Einpressung in den Boden vor. Doch überraschenderweise scheiterte Vattenfall am Widerstand der CSU und der Bauernorganisationen in der CDU, die auf keinen Fall in Zukunft ihren Ackerbau auf riesigen Gasblasen betreiben möchten. So wurde die Entscheidung über das »Carbon Dioxide Capture and Storage« genannte Verfahren bis nach der Wahl vertagt. In wenigen Jahren soll im nahegelegenen Kraftwerk »Schwarze Pumpe« eine von Vattenfall betriebene Versuchsanlage errichtet werden.

Gleichzeitig betreibt Vattenfall aber auch ein anderes Projekt. Auf einer Infotafel im ehemaligen Lakoma werden die Besucher aufgefordert, »uns auf dem Weg vom aktiven Tagebau zum größten See Brandenburgs zu begleiten, erleben Sie das Entstehen des 1 900 Hektar großen Cottbusser Ostsees«. Spätestens 2018 soll hier mit der Flutung begonnen werden, 2030 soll es soweit sein. Eine gut gemachte Computeranimation zeigt Lakoma in seinem aktuellen wüstenähnlichen Zustand und in einem weiteren Bild sieht man den Badestrand, der bis 2030 entstehen soll.
Einen solchen Badestrand an einem ehemaligen Tagebau konnte die Gruppe des Bildungswerks im nahe gelegenen Senftenberg besichtigen. Zwischen 1967 und 1972 wurde dort ein Tagebau geflutet, bis zum Ende des 20. Jahrhunderts war er mit 1 300 Hektar der größte künstlich angelegte See Europas. Inzwischen ist das Wasser so gut, dass es wiederholt das Gütesiegel »Blauer Engel« verliehen bekam. Der See ist Teil des »Lausitzer Seenlands«, das bis zum Jahr 2018 Europas größte künstliche Wasserlandschaft werden soll. Ob die notwendigen Wassermassen angesichts der Klimaveränderungen noch vorhanden sind, ist allerdings umstritten.
Eine künstliche Landschaft ist auch der weiter nördlich gelegene Spreewald. Nur weil die verzweigten Sümpfe der Spree schon vor Jahrhunderten mit Kanälen durchzogen wurden, entstand die heutige Auen- und Moorlandschaft, die als eine der größten Touristenattraktionen Brandenburgs gilt. So beschreibt Ralf Hegewald von der Naturwacht in Lübbenau eben nicht einfach die »schöne Natur«, sondern berichtet von der »Entstehung, Entwicklung und Verän­derung dieser Landschaft«. Im Haus für Mensch und Natur führt er Besucher durch eine Aus­stellung. »Auch um 1850 gab es hier keine heile Welt«, erzählt er. In diesem Jahr versank die Ernte im Hochwasser der Spree, im folgenden Jahr vertrocknete sie aufgrund des niedrigen Wasserspiegels bei einer Dürre. Deshalb wurden das Kanalsystem und die Wasserregulation immer weiter ausgebaut. Auch für die Tierwelt bedeutet dies nur, dass »der eine geht und ein an­derer kommt«. So braucht der heute sehr selten gewordene Schwarzstorch den sumpfigen Urwald, »während der nachfolgende Weißstorch unbedingt auf das Mähen der Feuchtwiesen ­angewiesen ist, weil er nur so genügend Frösche und andere Kleintiere als Futter finden kann«, erklärt Hegewald. Für ihn geht es darum, die verschiedenen Interessengruppen aus Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Tourismus im 475 Quadratkilometer großen Biosphärenreservat Spreewald »in ein ausgewogenes Verhältnis zu bekommen«. Alles in Ruhe zu lassen, würde nur bedeuten, dass der Spreewald wieder zuwächst.
Überhaupt etwas wachsen muss erst mal im etwa 20 Kilometer entfernten Wanninchen. Inmitten der wüstenähnlichen und aufgewühlten Sandlandschaft entsteht langsam ein See, sogar erste Birkenbäume wachsen bereits wild. Hier am Rande des sich derzeit in der Flutungsphase befindenden Tagebaus von Schlabendorf hat die Stiftung des Tierfilmers Heinz Sielmann ein etwa 3 000 Hektar großes Gelände gekauft. Sieben Dörfer wurden hier abgebaggert. Noch etwa fünf Jahre soll es dauern, bis der Wasserstand des Sees seine geplante Höhe erreicht hat. In der Tagebaugrube sind noch mehrere so genannte Rüttelverdichter aktiv, weil die Hänge und der Abraum immer wieder abzurutschen drohen. Fast überall warnen Schilder vor dem Betreten der Uferböschung. Oft dauert es ein bis zwei Jahrzehnte, bis sich eine Uferböschung durch den Druck der Wassermassen, durch Mikroorganismen und Kleinpflanzen so verdichtet hat, dass man sie ohne Gefahr betreten kann. Yvonne Siedschlag führt die Gruppe über das Gelände. Hervorgegangen ist das als Schulungszentrum geplante Haus aus dem Arbeitskreis »Junge Naturforscher« der DDR. Jetzt sollen hier Schulklassen erleben können, wie »zwischen Bergbaufolgelandschaften und dem nahe gelegenen Wald eine neue Landschaft und Natur entsteht«.

Von einer ganz anderen Natur träumt die polnische Schulklasse, die sich im Eingangsbereich von Tropical Islands drängt. Nicht weit vom Spreewald entfernt ist hier »Europas größte tropische Urlaubswelt« entstanden. In der leerstehenden Halle des Pleite gegangenen Cargo-Lifters hat ein Unternehmen aus Malaysia den »größten Indoor-Regenwald der Welt angelegt«. In der etwa acht Fußballfelder großen Halle herrschen an 365 Tagen im Jahr Temperaturen um die 26 Grad. Rainer Wilkens, der Marketing-Direktor, redet sich schnell in Fahrt. Die Böll-Gruppe will mitgenommen werden »auf dem Weg zum führenden europäischen Ferienort«. Mehrmals drohte das Projekt zu scheitern, doch nun ist Wilkens zufolge der richtige Weg gefunden. Seit in der Werbung offen von der Tropenwelt als »künstliche« gesprochen werde, kommen die Leute. Begeistert wirft er mit Begriffen wie »Destinationsmarketing«, »Markenkernwerte« und »Umsatzveredelung« um sich. Knapp 30 Euro kostet der Tag in der »tropischen Erlebnis- und Saunalandschaft«. Als Renner entpuppt sich das Dschungel-Camp, täglich übernachten hier 500 bis 1 000 Leute, so dass es inzwischen sogar schon zu Konflikten zwischen Strandreinigung und nächtlichen Badegästen gekommen ist. Nach Angaben von Wilkens kamen 2008 bereits 16 Prozent der Gäste aus dem Ausland, vor allem aus Polen, und 20 Prozent aus den alten Bundesländern. Selbst moderne Ausdrücke haben in seine Sprache inzwischen Eingang gefunden, so spricht er von »Wertschöpfungs-Netzwerken statt Wertschöpfungs-Ketten«. Einwänden wegen des großen Energieverbrauchs begegnet er mit der Frage, wie viel Energie die Flugzeuge verbrauchen würden, die 800 000 Menschen real in die Südsee transportierten. Selbst zu den Rechtsradikalen in der Region hat er eine klare Meinung: »Die stören nur das Geschäft.«
Jahrelang musste sich Ska Keller mit diesen Rechten im nahe gelegenen Guben auseinandersetzen. Die 27jährige Gubenerin ist inzwischen Landesvorsitzende der Grünen von Brandenburg und seit wenigen Wochen Mitglied des Europaparlaments. Von den rund 20 Leuten ihrer damaligen Clique »lebt noch einer in Guben«, erzählt sie. Sie engagierten sich im antirassistischen Widerstand, nachdem am 13. Februar 1999 der damals 28jährige Flüchtling Farid Guendou auf der Flucht vor Neonazis ums Leben gekommen war. Auf die Zukunft ihrer Heimatstadt angesprochen, kann die Studentin der Islamwissenschaften und Judaistik nur schmunzeln. »Hier gibt es nicht mal ein Kino, das nächste ist in Cottbus. Aber selbst dahin kommt man in wenigen Jahren auch nicht mehr, weil die Eisenbahnlinie wegen des Tagebaus wahrscheinlich eingestellt wird.
Genau dies ist die Hoffnung von Hilmar Laube. An einer Sache nämlich lässt er bei der Führung über seinen F 60 keinen Zweifel. Wenn man ihn und seine ehemaligen Kollegen rufen würde, »wir hätten die Anlage in wenigen Wochen wieder in Gang«. Noch wissen sie genau, in welchen Kellern die Ersatzteile liegen. Und dann könnten sie wieder losbaggern.