Mildes Urteil für den Polizisten: Vor zwei Jahren wurde der Fussballfan Gabriele Sandri erschossen

Uniform mit Eigengewicht

Der Polizist, der vor zwei Jahren den Fußballfan Gabriele Sandri erschoss, kam zunächst mit einem milden Urteil davon.

Am 14. Juli wurde im toskanischen Arezzo ein seit langem erwarteter Urteilsspruch gefällt. Es ging um den am 11. November 2007 auf einer italienischen Autobahnraststätte von einem Polizisten erschossenen 28jährigen Fußballfan Gabriele Sandri. Der Fall sorgte seinerzeit für Schlagzeilen, weil sich römische Fangruppierungen als Reaktion eine Nacht lang heftige Straßenschlachten mit den Ordnungshütern lieferten und eine Polizeikaserne verwüsteten. Seither ist der Anhänger von Lazio Rom zu einer Symbolfigur des Protests der organisierten Fans gegen Polizeiwillkür und Repression geworden. »Mörder, Mörder« ist weiterhin ein beliebter Schlachtruf gegen die »Celerini«, wie die blau behelmten mobilen Einsatzkommandos genannt werden.
Sandri, dessen Name und Bild auch in der vorigen Saison noch in jedem Stadion der Serie A bei jedem Spiel in irgendeiner Form präsent war, wurde zum Symbol des »Wir gegen die«, das sich jeden Sonntag in den Fußballstadien Italiens abspielt.
An jenem Novembertag vor zwei Jahren hatte es zwischen zufällig am Rastplatz aufeinandergetroffenen Fans der Vereine Juventus Turin und Lazio Rom Rangeleien gegeben. Beide beteiligten Gruppen streiten zwar ab, dass es zu ernsthaften Auseinandersetzungen kam. Dennoch wurde der Agent der »Polstrada« (Verkehrspolizei), Luigi S., von der anderen Seite der Autobahn aus auf die Vorfälle aufmerksam. Er rannte in Richtung der Absperrungen und gab – seinen ersten Ausführungen zufolge – einen Warnschuss in die Luft ab, um die Ultràs auf sich aufmerksam zu machen und eventuelle Streitigkeiten zu beenden. Wie dieser Schuss den auf der Rückbank des abfahrenden Autos seiner Freunde sitzenden Gabriele Sandri durch die kleine hintere Seitenscheibe des Kleinwagens in den Nacken getroffen haben soll, konnte der Polizist zunächst nicht erklären. Erst unter dem Druck von fünf Zeugenaussagen, die übereinstimmend bestätigten, S. habe, mit geladener Waffe in beiden Fäusten auf Mannhöhe zielend, über sechs Fahrspuren hinweg dem fahrenden Auto hinterher geschossen, gab der Ordnungshüter den Schuss zu – und bestritt gleichzeitig jegliche Tötungsabsicht. Ansonsten äußerte sich der Mann nicht weiter. Leider konnten so weder das Gericht noch die interessierte Öffentlichkeit erfahren, was den erfahrenen Polizisten dazu gebracht hatte, eine bereits beendete Streitigkeit zum Anlass zu nehmen, gezielt auf ein in größerer Entfernung fahrendes Auto zu schießen und dabei den Tod nicht nur eines Insassen, sondern auch zufällig in die Schussbahn fahrender Insassen völlig unbeteiligter Fahrzeuge zu riskieren.
Die damalige Situation war angespannt. Bereits am 2. Februar 2007 war der Polizist Filipo Raciti beim sizilianischen Derby in Catania unter bislang nicht völlig geklärten Umständen zu Tode gekommen. Und nun war Gabriele Sandri tot, erschossen von einem Polizisten. Für Ultràs im ganzen Land war sofort klar, dass hier die »Konten ausgeglichen« worden waren, und insbesondere glaubte man nicht daran, dass der Fall jemals mit einer ernsthaften Verurteilung des Todesschützen Luigi S. abgeschlossen werden würde.
Nun, knapp zwei Jahre später, erfolgte der erste Urteilsspruch. Die Staatsanwaltschaft hatte in sehr eindringlichen Statements auf 14 Jahre Haft wegen erwiesenen Totschlags plädiert, zweimal brachte Staatsanwalt Giuseppe Ledda eine Beretta-Dienstpistole in den Gerichtssaal, um die Schusshaltung zu demonstrieren und insbesondere jegliche Zufälligkeit des Tatablaufs auszuschließen. Angesichts von fünf belastenden Zeugenaussagen und in Ermangelung gravierender Entlastungsaussagen, deutete tatsächlich alles auf eine Verurteilung wegen Totschlags hin, zumindest waren sich die Prozessbeobachter insoweit einig. Nach knapp neunstündiger Beratung kam das Gericht allerdings zu dem überraschenden Schluss, Luigi S. hätte sich lediglich der fahrlässigen Tötung schuldig gemacht, mit dem erschwerenden Zusatz, dass er den Tod Sandris »wissentlich in Kauf genommen hätte«. Es erging das erstinstanzliche Urteil von sechs Jahren Haft. Ein Urteil, das in der italienischen Praxis höchstens eineinhalb Jahre Gefängnisaufenthalt nach sich zieht, danach kann der Polizist – und dies ist sein ausdrücklicher Wunsch – seinen Dienst wieder aufnehmen.
Christiano Sandri, der Bruder des Opfers, hielt das Urteil in einer ersten Reaktion für »eines zivilisierten Landes unwürdig«, und selbst Roms rechter Bürgermeister Gianni Alemanno äußerte sich »zutiefst unbefriedigt« über den Richterspruch. Die bei der letzten Sitzung anwesenden Freunde Gabriele Sandris fanden noch deutlichere Worte. Sofort schienen die Fronten wieder klar: Ein Staatsbediensteter in Uniform darf ohne das Vorliegen einer gravierenden Gefahr weitgehend ungestraft einen jungen Mann abknallen, während umgekehrt schon ein Steinwurf fast automatisch zu jahrelangen Haftstrafen führt. Bereits vorher war das Vertrauen in eine unabhängige Justiz in Berlusconis Italien alles andere als hoch, nun scheint es gewiss, dass »die Uniform offensichtlich ihr ei­genes Gewicht hat«, wie es Giorgio Sandri, der Vater des Opfers, noch im Gerichtssaal ausdrückte.
Auch vielen anderen Beobachtern ist einfach nicht ersichtlich, warum gezielte Schüsse ohne das Vorliegen einer akuten, durch kein anderes Mittel aufzulösenden Gefahrensituation rechtlich genauso bewertet werden sollen wie ein Schuss, der sich versehentlich beim Reinigen der Dienstwaffe löst, oder wie ein Verkehrsunfall im Dienst.
Giorgio Sandri nannte das Urteil »eine Schande für ganz Italien« und sagte: »Ich glaube nicht mehr an die Gerechtigkeit, ich glaube an gar nichts mehr. Ich bin angeekelt, angeekelt, angeekelt, angeekelt.«
Vermutlich handelt es sich bei eben diesem Urteil wirklich um einen schmutzig konstruierten »Mittelweg« zwischen einem glatten Freispruch und dem von der Staatsanwaltschaft geforderten Totschlag, der aufgrund des großen Medieninteresses an dem Fall gewählt wurde. Für »Fahrlässigkeit« spricht, angesichts der von der Staatsanwaltschaft akribisch rekonstruierten Tatumstände wenig, insofern hätte man eigentlich nur zwischen Freispruch und 14 Jahren Gefängnis wählen können. Beides mit jeweils unabsehbaren negativen Konsequenzen – seitens der organisierten Fans in dem einen Fall, seitens der zum Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit bei Sportveranstaltungen eingesetzten Polizisten im anderen Fall.
Das Urteil wird vermutlich sowieso keinen Bestand haben wird, da beide Seiten eine Berufung anstreben. Selbstverständlich hatte der Schütze angegeben, »niemanden töten zu wollen«. Was er allerdings sonst vorhatte, als er auf Distanz beidhändig auf ein davonfahrendes Auto zielte und abdrückte, wird Gegenstand der Berufungsverhandlung sein.
So wie die Lage zurzeit aussieht, fällt es leicht, Giorgio Sandri Recht zu geben, der vermutet, dass sechs Jahre wohl kaum genügt hätten, wenn Gabriele Sandri, von der anderen Seite der Autobahn aus, die Pistole in beiden Fäusten, mehrere Sekunden akribisch zielend, auf den abfahrenden Alfa Romeo der »Polizia Stradale« hätte und dabei »fahrlässig« den Polizisten Luigi S. getötet hätte.