Deutsche Vertriebene

Eine Kollekte für die Heimatlosen

Die hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann verleiht den deutschen Vertriebenen eine Stimme.

Viel wurde in den vergangenen Jahren über »die deutsche Schuld« geschrieben, zahllose Gedenkfeiern wurden abgehalten, wiederbelebt oder neu eingeführt. Politiker halten pathetische Reden, Schüler lesen das »Tagebuch der Anne Frank«, Schau­spieler rezitieren vor Synagogen Paul Celans »Todesfuge«. Die deutsche Erinnerungspolitik ist als veritable Mischung aus Staatsakten, Sym­bol­poli­tik und Kunstgewerbe höchst lebendig.
Scheinbar bleibt vor dem Antikriegstag am 1. September nur noch eine moralische Pflicht – endlich das Schicksal jener Menschen in Erinnerung zu rufen, denen kaum gedenkpolitische Aufmerk­samkeit zuteil wurde. Viel zu lange mussten jene Deutschen bitter schweigen, deren Recht auf öffentliche Anhörung nun gefordert wird: die deutschen Vertriebenen.
Deutsche Vertriebene als Opfer ohne Stimme? In einem Kommentar für das evangelische Magazin Zeitzeichen schreibt die hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann über das Versagen von Gesellschaft und Kirche im nationalsozialistischen Deutschland. Es gelte, Schuld zu bekennen und »gleichermaßen über eigenes erfahrenes Leid sprechen zu können«. Die Bischöfin im Wort­laut: »Viele Flüchtlinge konnten ihre Geschichten nicht erzählen, sie wurden als Teil der deutschen Schuld gesehen und standen unter dem ständigen Verdacht des Revanchismus.« Wenn vom »eigenen Leid« die Rede ist, so meint man im gedenkpolitischen Sprachgebrach meist nicht die deutschen Juden, die vor 1933 zwischen Aachen und Zwickau lebten. Gemeint sind die Opfer der Bombardierung deutscher Städte oder vorzugsweise die aus den Ostgebieten vertriebenen Lands­leute. Gerade in deren Namen nutzt Bischöfin Käßmann vor dem Antikriegstag 2009 die Gelegenheit für eine pastorale Neufassung des deutschen Revisionismus.
Dass Vertriebene nicht über »ihr Leid« sprechen konnten und unter dem »Verdacht des Revanchis­mus« standen, ist eine merkwürdige Interpretation der Nachkriegsgeschichte. Der Vorwurf des Revanchismus wurde in Deutschland nur von einer kleinen Minderheit und im Ausland von jenen Staaten erhoben, für die das deutsche »Recht auf Heimat« wie eine erneute Kriegserklärung klang. Zumal: Die »Vertreibung« ist das zentrale Motiv literarischer Werke von Günter Grass bis Arno Schmidt; von den zahllosen Auflagen der Ver­triebenenliteratur nicht erst zu reden. Wer seine Geschichte dennoch nicht erzählen wollte, hatte auch andere Gründe als die mangelnde Aufmerksamkeit des Publikums.
Spätestens seit Mitte der neunziger Jahre das »kommunikative Schweigen« (Hermann Lübbe), das zwischen den Tätern und zurückgekehrten Emigranten herrschte, gebrochen und intensiver über die Verbrechen der Wehrmacht und die namenlosen jüdischen Opfer des NS-Regimes geforscht wurde, wird von Professoren, Publizisten oder Predigern wiederkehrend die Klage erhoben, man habe der »eigenen« Opfer zu wenig gedacht. Dieses Zerrbild verbreitet auch die als »progressiv« geltende Bischöfin. Die harten Fakten sprechen eine andere Sprache: Raul Hilberg fand in Deutsch­land für sein Standardwerk über die Vernichtung der europäischen Juden anfangs noch nicht einmal einen Verleger. Die »Vertreibung« ist dagegen seit Jahrzehnten zentrales Thema staatsoffizieller Erinnerungsinszenierungen – vom »Volkstrauertag« bis zum »Tag der Heimat«, dem nationalen Walhalla der Erinnerungspolitik, wo sich bis heute die NPD und andere extreme Rechte tummeln. Noch 2002 wurde dort der damalige Innenminister Otto Schily (SPD) ausgebuht, als er seine Rede mit einem Standardhinweis auf die nationalsozialistische Gewaltherrschaft begann.
Warum aber konnte die Geschichte der Vertriebenen bis heute nicht vollständig erzählt werden? Vielleicht deshalb: 2006 informierte der Spiegel darüber, dass der Bund der Vertriebenen (BdV) vor allem in den ersten drei Jahrzehnten seines Bestehens von früheren Nazis durchsetzt war. Das Nachrichtenmagazin berichtete von knapp 200 Personen, die sämtlich ranghohe Repräsentanten einer in der Bundesrepublik Deutschland fürstlich alimentierten Organisation waren. Angesprochen auf die unterlassene Aufarbeitung der eigenen Verbandsgeschichte, sagte die BdV-Vorsitzende Erika Steinbach trocken: »Das kostet Geld, das wir nicht haben.« Nach öffentlicher Kritik kündigte sie später ein »Forschungsprojekt« an, von dem in der Folge nicht viel zu hören war. Ob Bischöfin Käßmann da mit einer Kollekte Abhilfe schaffen könnte – damit endlich jene Ge­schich­ten Gehör finden, die bislang verschwiegen wurden?