Ein Besuch des Endlagers in Morsleben

»Das ist sicher nur ein Messfehler«

In Morsleben in Sachsen-Anhalt wurden von 1971 bis 1991 rund 14 432 Kubikmeter schwach- und mittelradioaktiver Abfall und 6 227 »umschlossene Strahlenquellen« vor allem aus den Atomkraftwerken der DDR eingelagert. Wenn es nach dem Bundesamt für Strahlenschutz geht, werden die dort auch bleiben, obwohl das Amt erst vorige Woche mitteilte, es drohten größere Gesteinsbrocken von der Decke zu fallen. Eine Reise in ein bröckeliges Endlager.

Nackt warten wir vor einem gelben Gerät, das einer stählernen Duschkabine ähnelt und der Strah­lenmessung dient. »Acht, sieben, sechs, fünf … « zählt eine weibliche Computerstimme rückwärts und erteilt Instruktionen. »Umdrehen. Rückenmessung. Kommen Sie näher.« Ein Mann steht nackt in der Kabine, die Arme nach oben in die da­für vorgesehenen Öffnungen gesteckt, und wartet darauf, dass die Stimme, die ein wenig wie aus einem Science-Fiction-Film der achtziger Jahre klingt, nach den acht Sekunden Messzeit endlich meldet: »Keine Kontamination. Keine Kontamination.«
Wer aus dem Kontrollbereich des Endlagers für radioaktive Abfälle in Morsleben kommt, wird »freigemessen«, damit keine strahlenden Partikel nach außen dringen. Mit Männern und Frauen aus der »Bürgerinitiative gegen das Atommüll­end­lager Morsleben«, Heribert Kögler vom Endlagerbetreiber DBE und Herrn Kronemann vom Bundesamt für Strahlenschutz standen wir eben noch tief unten im Bergwerk vor gelben Fässern mit ra­dioaktivem Abfall.

Etwa im so genannten Westfeld des riesigen unterirdischen Komplexes, wo eine Wand aus gelben Tonnen steht. Einen Meter vor den Tonnen hat der Strahlenschutz eine Absperrkette angebracht, ein Zettel an der Kette gibt den hier gemessenen Strahlenwert wieder. Man sollte da nicht so lange davor stehen, meint Herr Kögler von der Betreiber­gesellschaft DBE: »Sie bleiben immer im erlaubten Bereich, dass ist keine Frage.« Nur müsse man zur Kenntnis nehmen: »Es ist strahlender Abfall, ist ja keine Blumenerde, nicht wahr?« Von dem Ab­fall gehe »eine gewisse Gefahr aus, deshalb hat der Strahlenschutz drangeschrieben, das ist Sperr­bereich, dahinter hat keiner was verloren«. Ein stämmiger Herr mit Bart und Brille, der zur Bürgerinitiative gehört, ergänzt: »Erlaubter Bereich heißt aber nicht, dass es da ungefährlich ist, sondern nur, dass jeder Tausendste dann Krebs kriegt oder stirbt, so ist das definiert.« Kögler nimmt kritische Einwände entspannt entgegen, die ist er gewohnt. »Ich rede nur von Gesetzlichkeiten, wir haben das einzuhalten, alles Weitere muss die Politik klären.« Solange alles hier nach Vorschrift läuft, ist es für Kögler in Ordnung. Woran auch sonst sollte er sich orientieren?
Vorschriften zur Orientierung gibt es dabei jede Menge. »Hier die Karte an den Sensor halten«, sagt der Herr vom Sicherheitspersonal am dritten oder vierten Kontrollpunkt. »Jetzt hier her­übersehen, in die Kamera blicken!« Am Eingang wurden wir durchsucht und fotografiert, irgendjemand überprüft jetzt in einem Kontrollraum auf seinem Monitor, ob Kontrollkarte und Gesicht zusammenpassen. Weil die Vorschriften gründlich eingehalten werden und das Sicherheit ja zumindest suggeriert, dauert alles etwas länger. Kein Zollbeamter hat mein Passbild je so lange studiert. Dann sagt die Stimme aus dem Lautsprecher: »Herr Steinmaier, Drehkreuz ist frei.«
Zur Vorschrift gehört auch, dass nichts mit in den Kontrollbereich kommt, was nicht unbedingt notwendig ist, auch nicht die eigene Unterhose. In einem Umkleideraum mit verbeulten Spinden ziehen wir uns um, ein roter Overall liegt bereit, dazu gräuliche Rippunterwäsche, Socken, Arbeitsstiefel und ein weißes Tuch. »Mit dem Tuch haben sich die Arbeiter früher den Schweiß aus der Stirn gewischt, das ist eher Tradition«, sagt Kronemann vom Strahlenschutzamt, während er sein lachsfarbenes Hemd auszieht. Der Beamte mit dem grauen Schnauzer hat selbst Bergbau studiert und erzählt gerne davon, dass man selbst dann, wenn man im Bergwerk läuft, nicht von »laufen«, sondern von »fahren« spricht. »Glück auf!« grüßt Kronemann, als sei der Schacht noch ein Bergwerk und keine Müllkippe für radioaktiven Abfall. »Glück auf!« heißt wohl, dass man wieder heil aus der auch ohne Atommüll schon lebensfeindlichen Tiefe nach oben finden möge, aus der stickigen Luft, dem dreckigen dunklen Labyrinth, ohne verschütt zu gehen und ohne sich etwa von den ineinandergreifenden Stahlteilen der Gruben­förderanlage das Bein abtrennen zu lassen.

Bevor wir »einfahren«, brauchen wir neben dem Overall noch Helm, Lampe und einen Selbstretter, einen schweren Blechbehälter, in dem eine Art Atemwiederaufbereitungsanlage steckt. »Kommen Sie, nehmen Sie einen Lampenriemen«, sagt Frau Mrozek von der DBE. Wir sind in Eile, aber es dauert, bis wir die Ausrüstung umgeschnallt und das Dosimeter in der Brusttasche verstaut haben, das messen soll, wie viele Strahlen wir abbekommen. »Der Strahlenwert, den Sie erhalten, wird ein Nullwert sein, das kann ich Ihnen jetzt schon sagen«, sagt Kögler. »Ihren persönlichen Wert müssen wir 30 Jahre speichern, das ist ungefähr die Inkubationszeit für Krebs. Und wenn jemand mal Krebs kriegt in seinem Leben, hat sich der Bund eben abgesichert, dass er sagen kann: Diese Person war dann und dann in Morsleben und hat damals einen Nullwert erhalten, von uns kann das nicht kommen.«
Mit der »Schachtförderanlage« fahren wir 500 Meter senkrecht hinunter mit sechs Metern pro Sekunde. »Relativ gemütlich« für eine Bergwerksförderanlage, sagt Kronemann. Förderanlagen, mit denen noch Kohle oder Salz zu Tage gefördert werden, seien schneller. »Aber in diesem Fall muss ja kaum noch etwas nach oben transportiert werden.« Tatsächlich: Geht es nach dem Willen des Bundesstrahlenschutzamtes, soll der strahlende Müll für immer dort unten bleiben. In einem so genannten Planfeststellungsverfahren beantragt es daher die »Stilllegung«. De facto heißt das: zuschütten, Förderturm abreißen, Rollrasen drüber, fertig. »Nicht-rückholbare Endlagerung« nennt sich das.
Das Bundesamt für Strahlenschutz, das nun die Stilllegung beantragt, müsse in diesem Falle »wie ein Unternehmer handeln, der einen Antrag bei der Behörde stellt«, erklärt Kronemann. Seine Bundesbehörde stellt also einen Antrag bei einer anderen Behörde, genauer: beim Ministerium für Landwirtschaft und Umwelt des Landes Sachsen-Anhalt. Das kann den Antrag auf nicht-rück­holba­re Endlagerung abweisen oder Änderungen verlangen. Das sorgt für checks and balances. Aber nur, wenn, wie man unterstellen könnte, nicht etwa die Fachleute ein personelles Netzwerk bilden, das aus den verschiedenen Behörden, die sich gegenseitig kon­trollieren sollen, de facto eine einzige Behörde macht. Und nur, wenn nicht die Reibung zwischen den beteiligten Institutionen diese irrationaler statt rationaler handeln lässt. Wenn nicht schon Hierarchien und Karriereleitern zur Mogelei und zur Vertuschung reizen. Wenn nicht irgendwann nur noch die administrative Eigenlogik zählt. Und vor allem: Wenn nicht der Bund, der Kopf der Struktur, »der Staat«, am Ende doch von der Möglichkeit Gebrauch macht, die Auffassung der jeweiligen Landesregierung per Weisung einfach zu überstimmen.

Denn so war das im Fall Morsleben schon einmal. In den neunziger Jahren erklärten Mitarbeiter des Bundesamtes für Strahlenschutz und der Landesregierung, das Bergwerk sei für die »Entsorgung« von Atommüll ungeeignet. Aber die Physikerin Angela Merkel, die damals Bundesumweltministerin war, hat 1995 die Bedenken des Landes zurückgewiesen und die Einlagerung weiteren Atommülls befohlen. »Dabei sind sich heute alle einig, dass man hier nie Atommüll hätte lagern dürfen«, sagt Christina Al­brecht von der Bürgerinitiative.
Kögler fährt uns mit einem offenen Fahrzeug durch den Stollen, er fährt schnell und hält ab und zu an, um einen Schalter zu betätigen. Es riecht mal metallisch, mal nach Abgasen. Hier un­ten ist niemand, nur einmal kommen uns zwei Arbeiter auf Fahrrädern entgegen. Dann halten wir am so genannten Südfeld. Über den staubigen Boden führen Rohrleitungssysteme. Wir stehen auf einer großen rostfarbenen Metallplatte, Kögler erklärt uns den Ort: »Die Kammer, die sich genau unter uns befindet, hat fünf Öffnungen, wir stehen auf einer. Durch diese Öffnungen hat man Fässer im freien Fall in die Kammer reingeworfen.« Heute sei man dabei, die Fässer abzudecken und die Resthohlräume zwischen den Fässern mit Filterasche aus Braunkohlekraftwerken aufzufüllen. Warum mit Asche? Kögler zitiert das Reglement: »Asche ist hier zugelassen, deshalb müssen wir auch Asche nehmen.« Kronemann ergänzt: »Das steht in der Dauerbetriebsgenehmigung von 1986.« Die Vorschrift weiß Bescheid.
Kögler gibt dann doch noch eine sachliche Erklärung: »Asche hat ein gutes Fließverhalten, die fließt in die Hohlräume zwischen den Fässern.« »Resthohlraumreduzierung« ist das Ziel der Sache. Wo kein Hohlraum ist, kann wenigstens nichts einstürzen. Wenn aber die Dichte der aufgefüllten Räume sowie die Dichte des radioaktiven Abfalls geringer ist als die Dichte vom Rest des Berges? Wird das Zeug dann nicht doch eines Tages vom Gestein zusammengedrückt und vielleicht nach rechts, nach links, vielleicht irgendwann über Umwege auch nach oben gepresst? Wer hat da die absolute Gewissheit? Die geologischen Gutachter, die in diesem Fall wissen müssten, was in einer Million Jahren passiert, und von denen die einen jene geologische Entwicklung prognostizieren, die anderen eine andere? Oder Herr Kögler? Kronemann? Die Leute von der Bürger­initiative, die sich seit Jahren mit dem Endlager beschäftigen? Wenn man hier wirklich Ahnung hätte, könnte man vielleicht die eine oder andere verdächtige Stelle, einen Riss, eine Wasserpfütze fotografieren und sich einmischen. Aber wie viel Ahnung bräuchte man überhaupt, um hier unten im Grubenlabyrinth durchzublicken, die geologischen, die atomrechtlichen, die verwaltungstechnischen und die kernphysikalischen Aspekte zu kapieren, um zu sagen: Hier ist etwas faul. Und: Das muss man so und so anders machen?
»Wir wollen vor allem für eine kritische Öffentlichkeit sorgen«, sagt Christina Albrecht. Denn was mit dem Müll geschehen soll, darüber sind sich auch die Atomkraftgegner nicht einig. Die einen wollen, dass »das Zeug wieder raus soll«. Kirs­ten Neubig, ein hochgewachsener Mann mit langen grauen Haaren, Bart und Birkenstocksandalen, hat ein Flugblatt geschrieben, in dem er fordert: »Mensch, hol den Atommüll raus!« Aber wohin damit, weiß er auch nicht. »Jede Generation, jede Regierung bestätigt der vorhergehenden, dass sie alles falsch gemacht hat«, sagt Christina Albrecht, »daher dürfen wir den Müll nicht einfach unwiederbringlich vergraben.« Nur wenn der Müll zurückzuholen sei, könnten künftige Generationen verantwortungsvoller mit ihm umgehen, sagt sie.

Wir fahren weiter, an Abzweigungen und zugemauerten Kammern vorbei. Irgendwo hier im Bergwerk liegen Kammern, in denen zwischen 1944 und 1945 KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter Teile für Hitlers V1- und V2-Raketen bauen mussten. Irgendwo hier soll auch Wasser ins Endlager eintreten, aber »wenig«, »viel weniger als in der Asse«, und das werde aufgefangen, sagen Kögler und Kronemann. Hat es da gerade von der Decke getropft? Ist es in Ordnung, dass die Mauern an der Oberkante einfach mit Bauschaum abgedichtet sind? Wir fahren noch ein Stück und halten an einer Stahltür. Wir gehen durch die Tür, die Luft hier lässt einem den Atem stocken. Wir stehen in einer in den Fels gehauenen Loge, von der man in eine riesige Halle blickt. Decke und Wände sind mit Netzen und Stahlankern gesichert. Seit einem »Löserfall«, bei dem 2001 im Bergwerk ein riesieges Stück aus der Decke brach, versuchen die Betreiber, die Hohlräume zu füllen und die Decken abzusichern. »Das ist die wohl bestgesicherte Decke überhaupt«, sagt Kronemann und zeigt auf das Gewölbe. Jedes der Löcher, in die man die Anker gedübelt habe, sei vorher mit einem Endoskop untersucht worden. Alles, damit sich nicht ein Felsblock löst und auf die gelben Fässer fällt, die zu Hunderten in der Halle stehen.
Was dann passieren würde? Wie sähe das Worst-Case-Szenario aus? Sagen wir, wenn in Tausenden von Jahren das Zeug doch komplett an die Ober­fläche des Allertales gelänge? Vielleicht wäre das gar nicht so schlimm, wie es in diesen Jugend­büchern zu lesen ist, die »Die letzten Kinder von Schewenborn« oder »Die Wolke« heißen, mit denen ökologisch angehauchte Eltern ihren Kindern die eigenen Schuldgefühle in Form von apokalyptischen Phantasien aufdrängen. Vielleicht ist alles in besten Händen, und vielleicht sind die Anti-Atom-Ökos mit ihren langen Haaren und Birkenstocksandalen ja doch ein Haufen technikfeindlicher Hypochonder? Aber im Gegensatz zu mir haben die meisten Männer der Bürgerinitiative hier unten gute Laune, fast, als machten sie einen Touristenausflug in ein ganz normales stillgelegtes Bergwerk.
Ich dagegen will einfach nur noch raus. Zurück im Eingangsbereich muss ich mein Dosimeter abgeben. Das Dosimeter zeigt eine Achtzig mit einem Kreis dahinter. »Das ist nur der Akkuladezustand«, erklärt mir eine Frau. Hände und Stiefel muss ich in ein Strahlenmessgerät halten. »Acht, sieben, sechs … okay«, ist auf dem Bildschirm zu lesen. Ich gehe in die Umkleide, und während ich darüber nachdenke, dass ich diesen intensiven Geruch gammligen Linoleumbodens wohl aus den alten Lesesälen der Humboldt-Universität ken­ne, merke ich: Ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe vergessen, den Helm abzunehmen. Ich habe den vielleicht ja kontaminierten Helm nicht ins Regal gestellt, sondern ihn hier mit hineingenommen. Offenbar hat das niemand gesehen. Ich lege ihn einfach still auf die Bank vor einen Spind und demonstriere typisch menschliches Verantwortungsgefühl. Ich denke: Es wird in Ordnung sein. Es wird sich jemand darum kümmern. Und denke auch: Hoffentlich sind die, die hier Verantwortung tragen, nicht so wie ich. Jetzt schnell ausziehen, unter die Dusche, diese unsichtbaren, vielleicht ja todbringenden Atome abwaschen.

Und dann stehen wir nackt vor dem Ganzkörpermonitor. Der Mann, der vor mir an der Reihe ist, steht bereits in diesem stählernen Kasten, in dem sich hinter kleinen Gittern irgendwelche Sensoren befinden müssen, und wartet seine acht Sekunden: » … fünf, vier, drei, zwei, eins: Kontamination. Kontamination. Gehen Sie zurück! Schauen Sie auf den Bildschirm!« »Ich bin kontaminiert«, sagt der Mann aus der Bürgerinitiative erstaunt und lacht, offenbar nimmt er es locker. Dann bin ich dran. »Acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins. Kontamination, Kontamination, gehen Sie zurück!« Mit fehlt der Humor, ich spüre meinen Herzschlag. Dann kommt Kögler und probiert es. Auch er ist kontaminiert. »Das ist sicher nur ein Messfehler«, sagt er. Zum Glück kann man im Zweifelsfall ja einfach noch einmal nachmessen. Und dann schlicht dem wünschens­wertesten Ergebnis vertrauen. Rational zu verant­worten ist das nicht. Aber psychologisch sehr nach­vollziehbar. Notfalls einfach so lange messen, bis nichts mehr gemessen wird. Also probieren wir es an einem anderen Gerät. »Acht, sieben, sechs … «, zählt die Stimme und sagt diesmal end­lich: »Keine Kontamination. Keine Kontamination.«