Ye Weili im Gespräch darüber, wie die Kulturrevolution ihr Leben veränderte

»Wir haben einfach rote Armbinden angelegt«

Ye Weili wurde kurz nach der Gründung der Volksrepublik China in Peking geboren. Ihre Eltern waren Revolutionsveteranen und KPCh-Funktionäre. Als Kader-Tochter besuchte sie eine der renommiertesten Mädchen-Mittelschulen des Landes. Nach der Kulturrevolution wurde sie 1968 für fünf Jahre aufs Land geschickt. 1973 kehrte sie nach Peking zurück und konnte als »Arbeiter-Bauern-Soldaten-Studentin« an der Normal University ausländische Sprachen studieren. 1981 bekam sie ein Stipendium für die USA und promovierte in Yale. Heute ist sie Professorin für Geschichte an der University of Massachusetts in Boston. Ihr Buch »Growing up in the People’s Republic« erschien 2005.

Sie gehören zur Generation, die nach der Gründung der Volksrepublik erzogen wurde. Wie haben Sie 1966 den Ausbruch der Kultur­revolution an Ihrer Schule erlebt?

1966 war ich 16 Jahre alt. Für mich waren die Jahre 1964 und 1965 sehr wichtig. Damals fand eine Radikalisierung an unserer Schule statt. Zuvor haben wir Mädchen bunte Röcke und lange Haare getragen. Im Laufe dieser Jahre wurde der Klassenkampf in der Erziehung stärker betont und viele politische Versammlungen fanden statt. Wir Mädchen begannen, uns die Haare kurz zu schneiden und nun schwarze oder graue Jacken als revolutionäres Outfit zu tragen. Wir wurden »männlicher«. Noch gab es an meiner Elite-Schule keinen Unterschied zwischen uns Kader-Kindern und den Kindern aus Familien der alten Elite. Die Hierarchie änderte sich aber und wir, die Kinder der Kader, galten als besonders revolutionär und wichtig. Ich fühlte mich dadurch eher unter Druck gesetzt. Einer meiner Onkel wurde während der Anti-Rechts-Kampagne 1957 verhaftet und ins Gefängnis gesperrt. Wenn ich die Formulare zur Überprüfung meines familiären Hintergrunds und meiner Gesinnung ausfüllen musste, brachte mich das ganz schön ins Schwitzen. Ich hatte den Eindruck, dass ich mit der revolutionären Rhetorik nicht mitkam, und nahm eher die Rolle einer Beobachterin ein.

Sie haben sich im Sommer 1966 den Roten Garden angeschlossen.

Die Roten Garden an der Peking- und Qinghua-Universität wurden spontan im Untergrund gegründet und rebellierten anfangs gegen die Autoritäten ohne Billigung der Regierung. An unserer Schule wurden die Roten Garden erst gegründet, nachdem Mao Zedong öffentlich seine Unterstützung für die Bewegung ausgesprochen hatte. Die Gründung war sehr informell. Wir haben einfach rote Armbinden angelegt und waren die Roten Garden. Ich habe allerdings nicht mehr an der Bewegung teilgenommen, als die Roten Garden in Peking begannen, Häuser zu durchsuchen und im Rahmen der Kampagne gegen die »Alten Vier« – das sind Sitten, Kultur, Gewohnheiten und Gedanken – Gegenstände zu zerstören. Mich stieß die Gewalt ab. Ich übernachtete einmal in einem Wohnheim neben einer Polizeistation. Ich saß vor Angst erstarrt auf meinem Bett, da ich die ganze Nacht die Schreie der Menschen hörte, die von Rotgardisten gefoltert wurden.

Bian Zhongyun, die Parteisekretärin und Vize-Rektorin Ihrer Schule, starb am 5. August 1966 an den Folgen der Schläge und der Folter ihrer eigenen Schülerinnen. Sie wurde beschuldigt, eine »Machthaberin des kapitalistischen Weges« zu sein. Niemand wurde dafür bestraft.

An dem Tag war ich nicht in der Schule. Als die Nachricht von ihrem Tod später durch die Lautsprecher durchgesagt wurde, war es in meiner Klasse totenstill. Ich habe aber auch gehört, dass in anderen Klassen applaudiert wurde. Auf mich wirkte das Ereignis traumatisierend.

Ab dem Herbst 1966 fiel der Unterricht an ­Ihrer Schule für fast zwei Jahre aus, damit die Schülerinnen an der »Revolution« teilnehmen konnten. Was haben Sie damals gemacht?

Ich gehörte nach diesen Ereignissen zur so genannten »Aussteiger-Fraktion«. Am Anfang war ich sehr glücklich, dass die Schule ausfiel und ich mich nicht auf die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium vorbereiten musste. Mein Vater bekam als Kader Probleme und wurde in einem Rinderstall durch Arbeit »umerzogen«. Allerdings konnte er noch regelmäßig nach Hause kommen. Er stand unter starkem Druck und hat nicht viel gesprochen. Ich habe mich mehr für die Kulturrevolution an den Universitäten interessiert und bin oft zur Qinghua-Universität gegangen, um die Wandzeitungen und Untergrund-Magazine der verschiedenen Rebellenfraktionen zu lesen. Ich habe mich allerdings in diesen zwei Jahren oft gelangweilt und die Zeit genutzt, mich durch die Weltliteratur von Autoren wie Stefan Zweig oder Romain Rolland zu lesen. Das haben damals viele gemacht, obwohl diese Bücher als bürgerlich galten. Unsere Haushälterin ist außerdem aus Angst vor Hausdurchsuchungen auf ihr Dorf zurückgekehrt, da musste ich auch bei der Hausarbeit mithelfen.

Wie Millionen andere »gebildete Jugendliche« wurden Sie 1968 aufs Land verschickt, um von den Bauern zu lernen, wie es offiziell hieß. Wie haben Sie die fünf Jahre in einem armen Dorf in der Provinz Shanxi erlebt?

Es war nicht meine freiwillige Entscheidung, aufs Land zu gehen, allerdings war ich trotzdem von der Erziehung beeinflusst, dass sich die städtischen Jugendlichen mit den »armen und unteren Mittelbauern« verbünden sollten. Ich wollte von ganzem Herzen den Bauern helfen und dazu beitragen, die Rückständigkeit des Landes zu überwinden. Allerdings waren meine Erfahrungen eher frustrierend, da es zwischen uns und den Bauern eine unsichtbare Mauer zu geben schien. Viele städtische Jugendliche nahmen die Sache nicht ernst. Außerdem war ich ein junges Mädchen in einer männlichen Umgebung. In dieser Region nahmen die Bauersfrauen nicht an der Feldarbeit teil und blieben zu Hause. Ich habe mehrfach die Buchhaltung für die Brigade der Volkskommune gemacht. Das war nur ein sehr kleiner Beitrag im Vergleich zu meinen ursprünglichen Idealen. Ich kam mir als Einzelne machtlos vor.

Haben die Bauern die städtischen Jugendlichen als zusätzliche Esser und als Belastung empfunden?

Das war bei uns nicht der Fall, weil die Gegend nur sehr dünn besiedelt war und es viel schlechten Boden gab, der urbar gemacht werden musste. Die Bauern waren eher neugierig und haben sich gewundert, was die städtischen Jugendlichen wohl auf dem Land wollen.

Wenn Sie eine Bilanz zum 60. Jahrestag der Volksrepublik ziehen würden – was wären Ihre Hoffnungen und Wünsche für die Zukunft Chinas?

Das ist schwer zu sagen. Ich glaube, die Ungewissheit unserer Zeit verwirrt viele Menschen, besonders die Chinesen. Ich bin eher pessimistisch. Die Wall Street reißt momentan die Welt in den Abgrund, aber es scheint keine Alternativen zu geben. Einen großen Rückschritt hat es in China seit den Reformen bezüglich der Stellung der Frau in der Gesellschaft gegeben, besonders im Arbeitsleben. Das gegenwärtige Konfuzius-Fieber lässt die alte Rollenverteilung wieder aufleben. Für die Reformbewegungen in China um die Wende zum 20. Jahrhundert war die Gleichberechtigung der Frau ein zentrales Kriterium für den Fortschritt des Landes. Das ist heute im China des 21. Jahrhunderts nicht mehr der Fall. Sehen Sie sich etwa die Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele an: Frauen haben eine dekorative und untergeordnete Rolle. Als ich aufwuchs, wurden wir »Kinder der Volksrepublik« genannt. Es hieß nicht ständig wie heute: »Du bist ein Mädchen«, »du bist ein Junge«. Zwar wurde besonders während der Kulturrevolution »weibliches« Streben nach Schönheit unterdrückt und auch die Sexualität der jungen Menschen stark eingeschränkt. Bezüglich Bildung und Arbeit hatte ich allerdings nie das Gefühl, dass ich etwas nicht tun konnte, weil ich eine Frau bin.

Wenige Chinesen reden noch über die Kulturrevolution, die meisten schauen lieber auf die Zukunft. Warum haben Sie das Bedürfnis, sich immer wieder mit den Ereignissen auseinanderzusetzen?

Im Moment beschäftige ich mich gerade mit der Generation, die sich in China Anfang der dreißiger Jahre der Revolution anschloss. Damals war die Sowjetunion das große Vorbild und nicht der Westen. Nach den Reformen in den achtziger Jahren leuchtete dann der Westen und nicht mehr der Osten. Die USA, nicht Europa, wurden zum Vorbild für China. Heute, 30 Jahre später, sind viele Menschen in China verwirrt und leiden unter einer großen Identitätskrise. Der 60. Jahrestag der Volksrepublik ist für mich kein wichtiger Einschnitt. Die Regierung feiert sich selbst, kritische Selbstreflexion findet kaum statt.