Die Debatte über den Bundeswehreinsatz in Afghanistan

Zivil, nicht-zivil, diffizil

Der Bundeswehreinsatz in Afghanistan fordert zivile Opfer. Und die deutsche Entwicklungshilfe scheint vor allem die Geschäfte von transnationalen Konzernen zu befördern.

Jetzt ist es also so gut wie amtlich: Einer Untersuchungskommission der afghanischen Regierung zufolge wurden bei dem von der Bundeswehr angeordneten Luftangriff auf zwei von Taliban gekaperte Tanklastwagen nicht nur 69 Taliban-Kämpfer, sondern auch 30 Zivilisten getötet. Glaubt man dem Wall Street Journal, hat das von der Nato zur Aufklärung des Vorgangs eingesetzte Gremium diese Angaben jüngst bestätigt.
Der Kommandeur des deutschen »Provincial Reconstruction Teams« (PRT) Kunduz, Oberst Georg Klein, der die Bombardierung befahl, ist indes mit sich und der Welt im Reinen, wie er der Bild am Sonntag verriet: »Ich habe mir jede einzelne (meiner) Entscheidungen – auch die bei angeforderten Luftunterstützungen – niemals leicht gemacht, um diese auch im Nachhinein vor meinen Soldatinnen und Soldaten, den afghanischen Menschen und meinem Gewissen verantworten zu können.«

Dass der Oberst ein sehr flexibles Gewissen haben dürfte, geht aus einem Bericht der Financial Times Deutschland hervor. Demnach kam die Gewährung der angeforderten »Luftunterstützung« durch US-Kampfflugzeuge unter »Vorspiegelung falscher Tatsachen« zustande. So habe Klein gegenüber dem Kontrollzentrum der Isaf in Kabul behauptet, die Bundeswehr stehe in »direktem Feindkontakt«. Auf die Rückfrage, um welche Art von »Kontakt« es sich denn genau handele, soll Klein mit »Sichtkontakt« geantwortet haben – dabei befanden sich weder deutsche noch andere Isaf-Einheiten vor dem Luftangriff in der Nähe der beiden geraubten Tanklaster. Auch ließen sich diese – entgegen den wiederholten gegenteiligen Behauptungen – mitnichten zu Mordinstrumenten umfunktionieren, steckten sie doch zum Zeitpunkt des Bombardements bereits seit Stunden in einem ausgetrockneten Flussbett fest.
Während hierzulande intensiv über die Täter, ihre Motive und den Ablauf der Dinge diskutiert wird, interessiert sich kaum jemand für die Opfer der Attacke. Soweit es sich um unbewaffnete Zivilisten handelte, ist ihnen eigentlich nur eines vorzuwerfen: dass sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren und sich »von den Taliban in ein Verbrechen verwickeln« ließen, wie Mohammadullah Baktasch, ein Mitglied der afghanischen Untersuchungskommission, so schön formulierte.
Diese »Verwicklung« wiederum könnte ihrer Armut geschuldet sein: Augenzeugen sagten der Nachrichtenagentur AFP kurz nach dem Luftangriff, die Taliban hätten die Bewohner eines nahe gelegenen Dorfes aufgefordert, sich Treibstoff aus den feststeckenden Tanklastwagen abzuzapfen. Die Kunde vom günstigen Sprit habe sich »wie ein Lauffeuer« verbreitet, weshalb insbesondere Jugendliche mit allerlei Gefäßen zum Ort des Geschehens gelaufen seien. Dafür sollten sie teuer bezahlen: Wie die britische Zeitung Guardian berichtet, konnten die Angehörigen der Getöteten nur noch einzelne, nicht identifizierbare verkohlte Gliedmaßen bergen. Ein Dorfbewohner wird mit folgenden Worten zitiert: »Ich nahm etwas Fleisch mit nach Hause und nannte es meinen Sohn.«

Dass Brennstoffdiebe in Afghanistan damit rechnen müssen, Opfer eines Nato-Luftangriffs zu werden, verweist auf die soziale Situation im Land, die auch nach fast acht Jahren Besatzung und westlicher »Wiederaufbauhilfe« nur als katastrophal beschrieben werden kann: Angaben der Uno zufolge ist die Hälfte der Afghanen arm; 30 Prozent sind chronisch unterernährt, die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei gerade einmal 43 Jahren. Unter den Staaten mit der höchsten Kindersterblichkeit der Welt findet sich Afghanistan an dritter Stelle. Der Organisation »Revolutionary Association of the Women of Afghanistan« (Rawa) zufolge hat sich die Lage der afghanischen Frauen und Mädchen seit dem Sturz des Regimes der Taliban keineswegs verbessert: »Sie werden entführt, vergewaltigt, zwangsweise verheiratet oder umgebracht.«
Ohnehin gewinnt man bei näherer Betrachtung der Afghanistan gewährten »Entwicklungshilfe« leicht den Eindruck, hier sollten in erster Linie die Profite transnational operierender Konzerne entwickelt werden. So hat Deutschland, wie das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) mitteilt, unter anderem »in eine Übertragungsleitung investiert, die Kabul und die Ballungszen­tren des Nordens noch 2009 mit Strom aus Usbekistan versorgen wird« – der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) zufolge insgesamt 22,4 Millionen Euro. Die Verhandlungen über einen entsprechenden Liefervertrag zwischen Usbekistan und Afghanistan wurden von dem Mannheimer Energieunternehmen MVV geführt, das nach eigenen Angaben mit einem Jahresumsatz von 2,6 Milliarden Euro zu den sieben größten deutschen Stromkonzernen zählt. Die MVV Energie AG wiederum berät im Auftrag der Weltbank das afghanische Ministerium für Energie und Wasser bei der Neugründung einer nationalen Elektrizitätsgesellschaft. Allein für seine »Dienstleistungen« in dieser Sache, die unter anderem das Erstellen von Bilanzen und die Erfassung der Beschäftigten in einer Datenbank beinhalten, erhält das Unternehmen zwölf Millionen US-Dollar, die die Weltbank ihrerseits als »Hilfsgelder« für Afghanistan verbucht.
Dazu passend konstatierte der afghanische Außenminister Rangin Dadfar Spanta bereits im Herbst vorigen Jahres eine »große Machtlosigkeit seiner Regierung beim Aufbau des eigenen Landes«. Er kritisierte, dass Hilfsorganisationen und ausländische Staaten die Verwendung von 80 Prozent der Hilfsgelder kontrollierten, obwohl die Einheimischen die Finanzmittel sehr viel effizienter einsetzen könnten. Beispielsweise koste es 13 000 Euro, wenn Afghanen ein Klassenzimmer bauten, unter der Regie von Ausländern hingegen mindestens 45 000 Euro. Der UN-Sondergesandte für Afghanistan, Kai Eide, hat diese Angaben unlängst bestätigt.
Die beklagte »Machtlosigkeit« der afghanischen Regierung dürfte allerdings nicht zuletzt aus den mit westlichen »Gebern« geschlossenen Investitionsschutz- und Handelsabkommen resultieren, die eine eigenständige Finanz- und Wirtschaftspolitik nahezu unmöglich machen. Der Bundesagentur für Außenwirtschaft gilt Afghanistan derzeit als »eine der offensten Volkswirtschaften überhaupt«, in der Handelsbeschränkungen und Subventionen »praktisch nicht existent« sind – mit der Folge, dass 90 Prozent der auf dem afghanischen Markt erhältlichen Waren importiert werden.

Es verwundert vor diesem Hintergrund nicht, dass sich immer mehr Afghanen von der eigenen Regierung und den westlichen Besatzungsmächten abwenden; die zitierte Frauenorganisation Rawa, die ursprünglich die Nato-Intervention begrüßte, fordert mittlerweile den Abzug des ausländischen Militärs. Führende Politiker scheinen sich unterdessen endgültig von einer emanzipatorischen Perspektive für Afghanistan zu verabschieden – so eine solche denn je gewollt war. Mit Blick auf die von Fälschungsvorwürfen begleitete Präsidentenwahl erklärte der scheidende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion und vormalige Verteidigungsminister, Peter Struck, der Frankfurter Rundschau, dass es wohl »niemals eine parlamentarische Demokratie unserer Prägung« in Afghanistan geben werde.
Die Aufstandsbekämpfung geht indes unverdrossen weiter – und die Tötung Unbeteiligter wird dabei in Kauf genommen. Es sei »eben nie leicht, Zivile und Nichtzivile zu unterscheiden«, ließ der Generalinspekteur der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhan, die »Zentrale Online­redaktion« seiner Truppe wissen.