Zum 100. Geburtstag von Franz Baermann. Eine Auswahl seiner kulturkritischen Notizen

Bunte Wüste

Zum 100. Geburtstag des Dichters und Ethnosophen Franz Baermann Steiner erscheint eine Auswahl seiner kulturkritischen Notizen.

Als ich meiner Freundin berichte, was für ein Buch ich gerade lese, »Feststellungen und Versuche« von Franz Baermann Steiner, fragt sie erstaunt: »Aber müsste der Titel nicht umgekehrt lauten? Kommen die Versuche nicht vor den Feststellungen?«
Wer begreifen will, was Steiner für ein Mensch war, woher die Anstößigkeit und Anregung seines Denkens rührt, sollte sich genau das fragen. Denn sowohl für den Dichter wie für den Wissenschaftler – und das war er beides auch – hätte das Suchen, Tasten, Prüfen vor dem Feststellen, das Experimentieren vor dem Ergebnis kommen müssen. Das gilt nicht für den Denker und »Ethnosophen«. Für diesen kommt das Finden vor dem Suchen, und so stellt er seinen Notizen voran: »Der Haushalt von Verlieren und Finden ist im Hause der Vergangenheit.«
Gesucht werden kann erst, wenn bereits gefunden worden ist. Was festgestellt und festgehalten, was behauptet und verteidigt wird, wird in einem Haus der Vergangenheit verwahrt, in das Steiner erst eingezogen ist, als es abgebrochen war. Wie viele Juden seiner Generation zunächst der Tradition der Väter fern, gelangt er, auch unter dem Druck einer feindlichen Umwelt, zu einer expliziten Orthodoxie. Er lebt fortan in Erwartung des dritten Tempels. Steiner ist das, was in der Taz oder im Deutschlandfunk ein »Ultraorthodoxer« genannt wird.
Doch dies stellt ihn nicht nur in einen scharfen Gegensatz zur Moderne, sondern gibt ihm auch die Mittel, sie überraschend zu deuten. Medium dieser Deutung sind, mehr noch als die Gedich­te und die wissenschaftlichen Aufsätze, die »Feststellungen und Versuche«. Aus diesen von 1943 bis ins Todesjahr 1952 reichenden Aufzeichnungen wollte Steiner eine Auswahl veröffentlichen. Weder kam die Veröffentlichung zustande, noch gelangte er in seinem Versuch, das gewaltige Konvolut zu ordnen, über erste Ansätze hinaus. Der vorliegende Band umfasst nun etwa ein Zehntel des gesamten Manuskripts und übertrifft damit den Umfang der Auswahl von Marion Hermann-Röttgen (Stuttgart 1988) um ein Vielfaches. »Komme, was kommen mag – aber bleibe es nicht!« Diesen Lieblingsaphorismus aus ihrer Sammlung vermisse ich zwar, aber erst die neue Ausgabe macht vollends deutlich, dass Steiner nicht an Bildungssplittern und verstreuten Einfällen gelegen war, sondern er mit seinen Aufzeichnungen systematisch und energisch ein Ziel verfolgt. Sie schildern die Expedition eines (wie die Herausgeber schreiben) »Zeitentrückten« mitten in die Wüste dieser Zeit.
Es ist eine bunte Wüste und bunt sind Steiners Eindrücke von ihr: Sprachen der Haustiere, Architektur von Toilettenhäuschen, Philosophie der Einkommenssteuer, das Lächeln im Besonderen und das Gesicht im Allgemeinen, Straßenprostitution in England, deutsche und englische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Stalins und Trotzkis Messianismus, Handlesekunst, Namen von Wirtshäusern, Wörterbücher, die bürgerliche Ehe als Vergewaltigung der Frau, das Jüdische an Chaplin, »Vorwortservilität«  usw.  Das soll keine Phänomenologie ergeben, keine europäische Ethnologie und keine pralle Erzählung. Steiner will die europäische Zivilisation nicht revolutionieren, nicht reformieren, nicht beschreiben. Er lehnt sie ab.
Gleichzeitig bleibt der große Gegenentwurf zu dieser Zivilisation undeutlich. Wie wünscht er sich die Welt eingerichtet? Das ist nur schwer zu sagen. Anders als Gershom Scholem oder Franz Rosenzweig beschäftigt sich Steiner nicht intensiv mit den Lehren des Judentums, er setzt sie voraus. Sie sind die »Feststellungen« oder Fixpunkte, von denen aus er seine »Versuche« oder Expeditionen unternimmt. Er stellt sich dem, was ihm am fremdesten ist, der protestantischen Kultur seines Gastlandes, Großbritannien. Dankbar ist er ihm nicht, aber an Ausreise denkt er auch nicht. Israel erscheint dem Orthodoxen nicht als jüdischer Staat, solange es nur ein Staat der Juden sein will. »Das Judentum steht und fällt mit dem ›Fremden in seiner Mitte‹.« Politischen Lösungen steht er ebenso fern wie dem Reformjudentum. »Die Juden, die eine Aufhebung des Ghettos verlangen, werde ich nie verstehen.«
Auf was ruht diese halsstarrige Orthodoxie? Ist es Religion? Allerdings. Doch fällt es schwer, in Deutschland, dem Geburtsland des Protestantismus, zu begreifen, was Steiner mit Religion meint: keine Transzendenz, kein Glauben, nicht einmal eine Weltanschauung, kein Leben nach dem Tod. Religion ist für ihn ein soziales Prinzip, das Verhältnis von Menschen zueinander. Die Form der Religion (»Ordnung und Weg«) bestimmt ihren Gehalt, nicht umgekehrt. Es ist kollektives Handeln, das den Einzelnen nicht unterjochen, sondern von seiner Partikularität befreien soll. »Die borniertesten Lebensvorschriften und Gesetze geben Freiheit insofern, als sie dem Menschen es ermöglichen, sich einzuordnen, ohne andre Leute nachzuahmen. Erst die Zerstörung jeder Orthodoxie ermöglicht das Massenbewusstsein, wie wir es heute kennen, mit seiner aus Nachäfferei entstandenen ängstlichen, klebrigen Kohäsion.« Religion ist also vor allem eine Art, gemeinsam zu leben, zu essen, zu lieben. Steiner spricht von »religiösem Appetit«. Befriedigt werden kann er nur in einer Gruppe, die ihre Vergangenheit nicht vergisst.
Das sind sämtlich Idealisierungen. Tatsächlich hat Steiner selbst dieses gute jüdische Kollektiv niemals erlebt, und als er es erträumt, lebt er im Exil, in geistiger und sozialer Obdachlosigkeit. Doch werden die bestehenden Ordnungen »nicht von Hungrigen und Kranken, sondern von Obdachlosen gültig angezweifelt«. Vielleicht wirkt gerade deshalb sein Angriff auf die moderne Gesellschaft so stark. Die marxistische Kritik blamiert sich an ihren sozialistischen Plänen, Steiner dagegen macht keine konkreten Vorschläge, er zieht in Zweifel. »Und führe uns nicht in Beweise.«
Religion ist ihm kein Opium, sondern eine Wahrheitsdroge, sie lässt ihn Reife wünschen. Den erwachsenen Menschen, schreibt er, »hat es noch nie gegeben«. Der erwachsene Mensch wäre einer, dem weder der Begriff des Opfers noch der des Leidens fremd ist. Im Christentum vollzog sich eine Vergeistigung, die das Opfer durch das Beten, also eine kollektive Handlung durch eine individuelle ersetzt hat. Zugleich wurde das Opfer Christi zu einem Beispiel stilisiert, dem jeder Einzelne auf seine Weise nachfolgen müsse, um schließlich reich belohnt zu werden. Den grauenhaften Tod am Kreuz überhöhte man zu einer Erlösung.
Für Steiner lässt sich weder das Opfer zu einem Beispiel aufhübschen noch das Leiden wegbeten. Es gibt für ihn auch keine Gratifikation im Jenseits. Aus dieser im Grunde rein theologischen Entscheidung entwickelt er seine scharfe Kulturkritik. Erstens gelten ihr – lange vor Michel Foucault – Renaissance und Aufklärung nicht als Humanisierung, sondern als Begründer neuer Schrecken. »Die Abschaffung des Gottesurteils bedeutete die Einführung der Folter, das war der große Fortschritt von der Barbarei.« Zweitens ist für sie der Protestantismus, diese »Pflege des Ichs jenseits der Welt des Opfers«, nicht nur Grundlage des Kapitalismus (»musste man wirklich auf Weber warten, um dies zu verstehen?«), sondern auch einer öden Isolierung. Drittens sieht sie im Eskamotieren von Tod und Leid eine Verdummung von oben. »Eine Kultur aufbauen, das heißt unter andrem auch: einen Standpunkt finden, von dem aus man Lügen über den Tod verbreiten kann.«
Eindrücklich illustriert er seine Auffassungen am Beispiel Franz Kafkas, dessen Literatur er wieder und wieder betrachtet. Steiner zeigt sich von Kafka angezogen und abgestoßen. Angezogen deshalb, weil »Strafkolonie«, »Urteil«, »Schloss«, »Process« von der »Vielfalt des Menschenopfers« handeln, von der Krankheit als Sonderfall dieses Opfers, von der Gebundenheit und nicht von der Geworfenheit. Aber es ist fraglich, ob die Anziehung auf diesen adversativen Geist so stark gewirkt hätte, hätte sich Kafka ganz und gar im klassischen jüdischen Denken bewegt. Es gibt bei ihm auch christlich-westliche und mystische Motive, die Steiner herausfordern müssen.
In Kafkas sehr kurzer Erzählung »Eine kaiserliche Botschaft« wird von einem sterbenden Kaiser berichtet, der mit letzter Kraft seinem Boten eine Nachricht für den fernsten seiner Untertanen ins Ohr flüstert. Doch der Bote kommt gar nicht erst aus dem von Höflingen überfüllten Schloss heraus. Die Nachricht wird den Untertanen nicht erreichen.
Den sterbenden Kaiser deutet Steiner als Gott, den Boten als Messias. Und deshalb widerspricht er Kafka. Nicht, dass die Botschaft ihren Adressaten nicht erreicht, lässt Gott sterben, sondern die Botschaft selbst, denn das »Totsein ist durch die Botschaft« gesetzt. Lohnt sich also das Warten? An anderer Stelle schreibt er: »Wer glaubt, dass der Messias eine Botschaft bringen, ja überhaupt etwas tun wird, hat über ihn noch nicht viel nachgedacht.« Hier wird deutlich, dass sich Steiners Reflexion nicht nur der christlichen, sondern auch der messianistischen Tradition sperrt. Er glaubt nicht an Verheißung und Vermittlung, sondern an Gesetz und Gerechtigkeit, nicht an das Erlösen, sondern an das Erleiden. Der Mann ist nicht trotz, sondern wegen seiner Religiosität ein herber Pragmatiker. Seine Utopie findet sich im Haus der Vergangenheit. Obwohl alles dafür getan werden sollte, dass seine Aufzeichnungen eines Tages vollständig erscheinen, ist unwahrscheinlich, dass Steiners Zeit noch kommen wird. Den Konservativen wird er zu destruktiv, den Des­truktiven zu konservativ sein. Aber wer über die Kultur, in der wir leben, etwas erfahren will, wird von ihm gründlicher belehrt werden als von irgendeinem Liberalen, der mit ihr im Einklang ist, oder von einem Revolutionär, dem die bessere Welt zum Greifen nah erscheint.

Franz Baermann Steiner: Feststellungen und Versuche. Aufzeichnungen 1943–1952. Aus dem Nachlass heraus­gegeben von Ulrich van Loyen und Erhard Schüttpelz. Wallstein, Göttingen 2009. 534 Seiten, 36 Euro