Über den multiplen Roman »Tristano« von Nanni Balestrini

Nimm zwei!

»Tape Mark I« (1961) von Nanni Balestrini gilt als erstes Gedicht, das je auf einem Computer geschrieben wurde. Der Autor verfolgte jedoch einen radikaleren Plan: Er wollte am Rechner einen Liebesroman verfassen, in seine Bestandteile zerlegen und diese willkürlich kombinieren. 1966 erschien sein »Tristano« bei Feltrinelli – als »normales« Buch. 43 Jahre später ermöglicht die digitale Drucktechnik die Verwirklichung dieses Projekts: Balestrinis Hommage an den Tristan-Mythos erscheint in einer Auflage von 2 000 nichtidentischen Exemplaren und mit einem Vorwort von Umberto Eco. Peter O. Chotjewitz hat den Roman übersetzt.

Der Roman »Tristano« erschien 1966 im Verlag Feltrinelli, blieb jedoch Projekt. Erst kürzlich erlaubten es die Fortschritte der ­digitalen Drucktechnik, das Buch so zu veröffentlichen, wie der Autor es ursprünglich geplant hatte. Nanni Balestrini, 1935 in Mailand geboren, ist im deutschen Sprachraum als politisch engagierter Autor bekannt. Seine Romane, die bei Assoziation A vorliegen, handeln vom Tod Feltrinellis, der beim Anschlag auf einen Strommasten gekillt wurde, von militanten Fußballfans, von der Camorra, von Fabrikkämpfen.
Von der Zerschlagung der Bewegung der Autonomen Ende der siebziger Jahre handelt der Roman »Die Unsichtbaren«. Balestrinis Weg zur »Autonomia« war verschlungen. In den sechziger Jahren schien die ästhetische Avantgarde für die bevorstehende soziale Revolution hilfreich zu sein. Später ging der Autor zu »Potere operaio« (»Arbeitermacht«). Nach Liquidierung der »Autonomia« durch einen staatlichen Gewaltakt wurde er mit Haftbefehl gesucht. Der Vorwurf lautete: Mord in sieben Fällen, darunter Aldo Moro, Vorsitzender der Christdemokraten.
Balestrini floh vor den Konstrukten der politischen Justiz nach Frankreich, wo er Asyl erhielt und bis zur Aufhebung des Haftbefehls in den achtziger Jahren blieb.
Dass Balestrini immer auch experimentell arbeitete, blieb angesichts der Erfolgsgeschichte seiner sozialkritischen Romane nahezu unbekannt.
Das Material, aus dem »Tristano« montiert wurde, bezeichnete Jacqueline Risset im Vorwort zur französischen Ausgabe von 1972 als bunt importierte Sätze – »aus allen möglichen Schriftstücken (Aufsätze über Fotografie und Geografie, ebenso wie Kitschmagazine, Zeitungen, Reiseführer)«. Sie hätte weitere Quellen erwähnen können – einen urgeschichtlichen Aufsatz, den Roman »La Jalousie« von Alain Robbe-Grillet.
Die Methode der literarischen Montage besteht darin, dass Sätze vereinzelt werden, während in der traditionellen Erzählweise die Bedeutung der Sätze durch die vorhergehenden und nachfolgenden ergänzt oder überhaupt erst erschlossen wird. Die Sätze der traditionellen Erzählung sind relativ bedeutungslose Bausteine eines größeren Ganzen, im Montageroman tragen sie ihre Bedeutung total in sich, liegen aber auf einem Haufen.
Wer das Genre kennt, weiß, dass unsere Lesegewohnheiten uns zuweilen Streiche spielen. Zufällige Satzfolgen ergeben unerwartete Zusammenhänge, die vom Autor nicht beabsichtigt waren. So findet sich in der Fassung von 1966, auf der die Übersetzung beruht, die Satzfolge: »Er legt die Hand auf die mit Schweißperlen besetzte Stirn. Er dreht sich um. Dir fehlt etwas.«
Mal kommentieren sich zwei Sätze ironisch: »Sie küsste ihn. Hoffen wir, dass es nichts schlimmes ist.« Mal widersprechen sich die Sätze, mal übertreiben sie eine Darstellung, mal vermischen sie sich zu einem sprachlichen Kuddelmuddel, das an den »stream of consciousness« erinnert.
Man muss »Tristano« langsam lesen, darf nicht erwarten, dass mehr passiert, als dass die Sätze miteinander spielen. Es gibt keine Geschichte und sie hat keinen Anfang und kein Ende. So ist der Roman in gewisser Weise altertümlich, was für viele Werke der Avantgarde gilt – die Fluxus-Aktionen, die Filme von Andy Warhol und Jonas Mekas, die musikalischen Performances von John Cage.
Pasolini hat darüber geschimpft: »Nutzlose, aprioristische Suche nach längst anerkannten Neuigkeiten.« Dabei war er selber sein Leben lang auf der Suche nach der verlorenen Zeit.
Der etwas schlicht geratenen deutschen Ausgabe (Edition Suhrkamp 2 579) ist ein Vorwort von Umberto Eco zur italienischen Ausgabe beigegeben, das die historische Dimension des 2007 endlich realisierten Projekts erörtert.
Eco spannt den Bogen bis zu Giordano Bruno, Harsdörffer, Clavius, Guldin, Mersenne, Leibniz – alle jene Propheten der Programmierbarkeit des Schönen, die ausgerechnet haben, wie viele Wörter man mit den Buchstaben des Alphabets herstellen kann. Welche für die Dichtkunst geeignet sind und welche nicht. Wie viele Bücher und Bibliotheken man damit füllen könnte. Wie viele musikalische Sequenzen man aus den notierbaren Tönen bilden könnte und wie viele Notenhefte man bräuchte.
Ihr Antrieb war das Erstaunen darüber, dass man mit so wenigen Buchstaben das gesamte schriftliche Erbe der Menschheit bis ans Ende der Welt erschaffen kann.
Balestrinis Projekt knüpfte hier an. Er gliederte seinen »Tristano« in 200 Abschnitte zu jeweils 15 Zeilen und ließ errechnen, wie oft man diese 200 Textbausteine permutieren kann. Dann wartete er auf die programmgesteuerte Druckmaschine, die in der Lage wäre, lauter Einzelausgaben zu drucken.
Jetzt ist es so weit. Jedes Buch hat einen anderen Text. Bei jedem Druckvorgang werden die Textbausteine anders zusammengesetzt.
Balestrini hat das Dogma der einmaligen und definitiven Originalversion eines literarischen Werks aufgehoben und das Gutenbergzeitalter, das stets nur identische Exemplare einer Schrift reproduzieren kann, hinter sich gelassen. Allein die rechnerisch denkbare Zahl zeigt, dass die derzeitige Weltbevökerung nur ein Zehntel des Romans »Tristano« lesen könnte, sogar weniger.
Balestrinis Buch ist für das ganze Universum nicht zu wenig. Um das zu begreifen, sollte jeder mindestens zwei Exemplare kaufen, was kein Risiko ist. Es gibt keine zwei gleichen Ausgaben des Romans.
Wir haben am morgendlichen Frühstückstisch zu dritt drei Exemplare gleichzeitig gelesen – die Exemplare 7 945, 7 946 und 7 947 »von 109 027 350 432 000 möglichen Romanen«, wie es auf dem Cover heißt, wo auch die Nummer jedes Exemplars vermerkt ist. Das vierte Familienmitglied hat zugehört und bestätigt: Sie sind ungleich. Im Grunde ist der Roman eine Sache für Lesegesellschaften. Auch dies eine Institution aus Omas Zeiten.
Also gründen Sie eine und lesen Sie sich das Buch reihum vor. Absatz für Absatz. So wird Lesen, Zuhören wieder zur Meditation. Ich habe das Buch im Krankenhaus übersetzt. Es hat mir sehr geholfen.

Nanni Balestrini: Tristano. Multipler Roman in Einzelausgaben. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2009. 150 Seiten, 15 Euro