Jochen Distelmeyer im Gespräch über sein neues Album

»Wir sind keine Bären mehr«

Der Zeit zufolge ist Jochen Distelmeyer, früher Anführer der Diskurspopgruppe Blumfeld, »einer der besten deutschen Songwriter« und »vermutlich einer der besten Poptexter seiner Generation«. Soeben erschien sein Soloalbum »Heavy«.

Ich finde auf deinem neuen Soloalbum »Heavy« die romantischen Motive stark präsent, auch wenn du sagst, die gäbe es da nicht.

Ich kenne mich mit Romantik nicht so aus. Ich habe davon nicht so viel Ahnung. Das war etwas, was ich mit der letzten Platte mit Blumfeld versucht habe, »Verbotene Früchte«, ob es so etwas wie Naturlyrik überhaupt gibt. Ich habe vielleicht einen anderen Naturbegriff.

Bestimmte Begriffe oder Bilder, auch die Naturlyrik, sind aber einem Arsenal entnommen, das man kennt.

Du erkennst sie wieder aus dem Arsenal, das du kennst. Ich kenne das Arsenal so gar nicht. Ich sehe, dass es regnet. Ich gehe durch den Regen. Ich spüre das, was ich spüre. Ich denke mir das, was ich dabei denke. Und das ist für mich dann ein Song. Wir haben uns darauf geeinigt: Wenn Wasser vom Himmel fällt, nennen wir es Regen. Gerade so lapidarere Zeilen: »Der Regen fällt und macht die Erde nass.« Das ist das, was er tut. Dem Regen wird, vielleicht anders als bei anderen Stücken davor, ob jetzt »Sturm« oder »Graue Wolken« oder was auch immer, erst mal keine andere Bedeutung zugemessen.

Aber kein Mensch spricht ja frei von irgendwelchen Einflüssen. Ich frage mich, wo bestimmte Bilder oder Motive herkommen. Aus der Lyrik der siebziger Jahre? Neue Innerlichkeit?

Ich kenne das nicht. Ich kenne mich damit nicht so aus. Ich bin Sänger und Songschreiber.

Das muss ja nicht automatisch heißen, dass man das nicht kennt.

Ja, klar. Aber in meinem Fall kann ich sagen: Kenn’ ich nicht. Rolf Dieter Brinkmann habe ich vor Ewigkeiten mal gelesen. Aber das ist mir nur noch sehr weit entfernt präsent. Das ist nichts, was mich umtreibt.

Was den Song »Wohin mit dem Hass« angeht, würde ich dir kurz meine Interpretation vortragen.

Ja, klar. Warum ist denn »Wohin mit dem Hass« keine Naturlyrik?

Weil nach meiner Wahrnehmung keine solchen Naturmotive vorkommen. Es gibt in dem Song nicht so etwas wie springende Zicklein …

Ist Hass was Unnatürliches?

Nein, natürlich nicht.

Okay, das wollte ich nur kurz wissen, damit ich schnalle, wie wir hier ticken.

Ich dachte dabei an die Form. Es ist ja ein Unterschied, ob jemand über ein Atomkraftwerk oder über ein Gänseblümchen singt.

Ja. Und jemand, der über ein Atomkraftwerk singt, singt auch über Natur. Und jemand, der über ein Gänseblümchen singt, singt auch über Technik. Der Naturbegriff, der da angelegt wird, der ist nicht genau. Wir sind keine Bären mehr. Wenn ich Naturlyrik schreiben wollen würde, würde ich über Atomkraftwerke schreiben. Über irgendwelche Mülldeponien. Aber darum ging es mir oder geht es mir nicht.

Zurück zu »Wohin mit dem Hass«. Es gibt darin auf der einen Seite einen Erzähler, der sich gegen »die Reichen und Mächtigen« ausspricht. Auf der anderen Seite gibt es frustrierte Spießbürger mit Ressentiments. »Sie laufen mit und leben nach Vorschrift und hassen still vor sich hin.« An einer Stelle heißt es dort: »Gebt mir euren Hass und seht mir zu, wie ich ihn verwandle.« Ist hier der Linke eine Art Erfüllungsgehilfe des Spießbürgers? Oder anders: Teilen beide dieselben Ressentiments? Sind beide unterschiedliche Ausprägungen des Spießbürgers? Sie haben das gleiche Feindbild: »die Reichen und Mächtigen«.

Ich weiß nicht, ob das ein Linker ist. Ich glaube nicht, dass das ein Linker ist. Und darum ging’s mir auch nicht.

Die Stimme im Song redet vom Anzünden von Autos.

Nee: »Lass die Wagen brennen«.

Genau.

Ja, lass sie doch brennen. … Aber das ist ja nur eine Station innerhalb dieses Stückes. In der zweiten Strophe wird dann ja noch mal gesagt: Okay, es lässt sich nicht töten, dieses Gefühl. Dann lässt sich vielleicht beobachten, dass die Leute ihren Zorn nicht artikulieren, sondern dass sie das so hinnehmen oder runterschlucken. Und die Person, die am Ende sagt: »Ja gut, dann gebt mir das, gebt mir diesen Hass«, die stellt sich quasi zur Verfügung. Aber für mich ist das kein Protestsong. Für mich ist das kein linker Song. Es ist kein Linker, der das singt.

Sondern?

Kann jeder sein.

Der letzte Song, »Murmel«, kommt mir so vor, als werde darin ein Milieu beschrieben, das früher auf Demonstrationen war, das politisiert war und das sich aus den WGs mehr und mehr entfernt hat. Dieses Milieu ist älter geworden, es hat jetzt einen Alltag mit Kindern. Familienleben im linksliberalen Milieu.

Wie kommst du auf linksliberal?

Ich habe mir meinen eigenen Freundeskreis dabei vorgestellt.

Ja, das ist ja okay. Aber Leute, die zum Beispiel nicht aus einem linken Umfeld kommen oder nicht aus solchen Gruppen, die sehen vielleicht andere Leute in dem Song.

Ich kenne das ja von Leuten unserer Generation, die Kinder haben. Etwa dass man versonnen dem Kind beim Spielen zusieht. Ist der Song so etwas wie ein Statement? Da heißt es dann: »Ich bin am Ziel, weiß, was ich will, und brauch’ nicht viel.« Das Private, die Familie, eine gewisse Gelassenheit, privates Glück, ein Ja zur Welt, eine gewisse Saturiertheit.

Das muss man nicht als so eine Hausgemeinschaft sehen … kann man so sehen, muss man aber nicht. Das ist halt ein Moment, kein finales Statement. Das ist eine Momentaufnahme, der Song.

Wenn ich einen Zusammenhang herstelle zwischen »Verbotene Früchte« und deinem neuen Soloalbum »Heavy«, setzen sich beispielsweise die gehäuften Naturmotive fort: Sonne, Wolken, Schwalben, Luft, Herbst, Regen, Blitze, Donner, der Berg und das Tal. Du sagst, das seien keine aus einer bestimmten Tradition stammenden Motive.

Ja, aber diese Tradition reicht viel weiter zurück als irgendwelche naturwissenschaftlichen Traditionen. Guck dich doch um.

Ich meinte eine geistesgeschichtliche Tradition aus der Literatur, der Kunst. Natürlich ist es legitim, diese Gegenstände zu verarbeiten. Die Frage ist doch: In welcher Form wird es getan? Ist die Form eine zeitgemäße? Kann ich heute so über ein Gänseblümchen singen, wie es jemand Anfang des 19. Jahrhunderts getan hat?

Warum sollte man es nicht tun können? Leute essen Brot, schon ziemlich lange. Oder Kartoffeln. Was auch immer. Wer sagt, dass das und das nicht geht?

Nicht, dass es nicht ginge. Mich interessiert: In welcher Form geschieht es?

Ich singe von dem, was mich berührt, bewegt, was mir etwas bedeutet.

Aber man macht sich doch Gedanken über den ideologischen Gehalt von Dingen. Gibt es so etwas wie eine Grenze zum Kitsch, zum Schwulst?

Klar, gibt es für mich auch. Ich muss das, was ich mache, nicht verteidigen oder irgendwie rechtfertigen. Was hast du denn für eine Angst? Das verstehe ich gar nicht. Du redest die ganze Zeit so: »Kann man das eigentlich so machen? Bedeutet das dann nicht das und das? Müsste nicht eigentlich, oder wäre das dann nicht so und so?« Das klingt mir zu viel nach inneren Verboten. Als würde da irgendjemand mit Recht sagen dürfen: Das darfst du nicht, das geht nicht. Weil: das ist dann böse. Oder das ist dann kitschig. Das ist spießig. Das ist unfrei. Du hältst an komischen Kriterien fest, deren Plausibilität dir vielleicht einleuchtet, und ringst mit denen, aber es klingt nicht so, als seist das wirklich du.

Das vermag ich nicht zu beurteilen. Ich versuche nur, ein Werk besser zu begreifen. Wenn in deinen Texten vom »blauen Himmel«, vom »sprudelnden Bächlein« oder vom »goldenen Käfig« oder dergleichen die Rede ist, ist das ja kein neues Bild, sondern etwas, was andere vor dir bereits verwendet haben.

Jaja, klar.

… auch Leute, die es zu ihrer Zeit gebraucht oder missbraucht haben, indem sie damit eine heile Welt vorgegaukelt haben oder gesellschaftliche Affirmation betrieben haben. Und wenn ich dann die gleichen Bilder, Texte, Metaphern in der Gegenwart bei einem Künstler wiederfinde, frage ich mich doch: Wie meint er das? Meint er das so? Eins zu eins? Oder als Zitat?

Nein, ich mein’ das eins zu eins. Ich mein’ das alles so, wie es da ist. Eine Putzfrau kann sich kein Eigenheim in der Oase von Schießmichtot leisten. Schulden sind nur Schulden. Regen ist nur Regen. Dann realisiert man, dass das unsere eigenen Sehnsüchte, Ängste, Dämonen sind, die in uns wirken, miteinander ringen, nicht in Einklang zu bringen sind. All das Ungewusste, nicht Entschiedene. Dadurch fühlt man sich alleine vielleicht, vielleicht überfordert, man empfindet es als anstrengend. Aber das, was dann behauptet worden ist, dass man sich jetzt wieder der Realität, der normativen Kraft des Faktischen stellen müsste, trifft nicht zu. Man sollte zur Kenntnis nehmen, dass auch diese Terminologien oder diese Vorstellungen nichts anderes sind als Bilder.

Welche Vorstellungen oder Terminologien wären das zum Beispiel?

Die Rezessionserfahrung oder sowas. Das sind auch Bilder, Metaphern. Das heißt nicht, dass die nicht real sind. Aber genauso heißt das eben auch nicht, dass diese Träume nicht real sind. Anders können wir gar nicht leben. Und ein Ding auf der Platte ist, dass jemand sich dazu bekennt, dass es ohne dieses Träumen, ohne das Künstliche nicht geht.

Würdest du sagen, dass so etwas wie Ideologiekritik oder Dissidenz in der Kunst oder in der Popmusik keine Rolle spielt?

Hör dir einfach die Platte noch mal an. Und die Fragen, gerade auch diese letzte Frage, werden sich dadurch klären. Ich kann nachvollziehen, dass man seine Interpretationen autorisieren lassen möchte durch denjenigen, den man für den Urheber hält. Aber ich weiß nicht, ob ich das bräuchte, dass bestimmte Künstler, die ich schätze, mir dann sagen: Ja, das stimmt.

Es war mir eine Hilfe, als du vorhin sagtest, deine Texte seien eins zu eins gemeint.

Vielleicht ist es auch nicht eins zu eins gemeint. Das weiß ich nicht. Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass ich Songs geschrieben habe, die habe ich Jahre später gehört, und dann hab’ ich selber etwas darin gesehen oder wiedererkannt, was ich geglaubt habe, gar nicht da reingeschrieben zu haben. Vielleicht haben auch alle anderen Leute Recht und ich nicht.

Es geht nicht um Rechthaben oder einen exklusiven Anspruch auf eine Interpretation. Was entgegnet Jochen Distelmeyer jemandem, der sagt: Wenn ich diese Musik höre, höre ich Schnulzen.

Dein Problem. Es sind keine Schnulzen. Meiner Meinung nach.

Kannst du verstehen, warum jemand an Schnulzen denkt, wenn er deine Musik hört?

Ja, aber ich meine, ich bin doch nicht der Psychoanalytiker von diesen Leuten.

Es hätte ja auch sein können, dass du sagst: Ich werde vollkommen missverstanden. Oder: Ja, das sind Schnulzen und ich bin stolz darauf. Oder was auch immer.

Klar, aber dadurch, dass ich sowas sagen würde, würde sich das nicht ändern.