Aussöhnung zwischen Massengräbern

Die Achse der Guten

Zu einer Lösung des Zypern-Konflikts gehören nicht nur Verhandlungen und Abkommen zwischen Regierungsvertretern und Präsidenten. Ohne eine Aussöhnung zwischen den Bevölkerungsgruppen ist sie undenkbar. Unabhängige Aktivisten wie die türkisch-zyprische Journalistin Sevgül Uludag bemühen sich darum.

Sevgül Uludag ist eine mutige Frau. Mit den Ul­tra­nationalisten auf beiden Seiten der geteilten Insel ist nicht zu spaßen. Doch die türkisch-zyprische Journalistin lässt sich nicht einschüchtern. Ein Zweig der türkischen »Grauen Wölfe«, die so genannte Rachebrigade, drohte bereits offen mit ihrer Ermordung. Ihre griechisch-zyprische Entsprechung, die neofaschistische Partei »Goldener Sonnenaufgang« (Hrisi Avgi), ließ die Journalistin im November 2006 von parteinahen grölenden und gewaltbereiten Jugendlichen am Grenzübergang in Nikosia abfangen. Uludag musste wüste Beschim­pfungen über sich ergehen lassen und entkam nur knapp echten Handgreiflichkeiten. Die griechisch-zyprische Polizei griff zwar ein, behauptete aber, obwohl Uludag als sie Anzeige erstattete, Fotos ihrer Angreifer vorlegte, diese nicht ausfindig machen zu können. Die Journalistin wertete das später plausibel als Unterlassung einer notwendigen Strafverfolgung.

Warum ruft eine Journalistin so viele Aggressionen hervor? Zumal Sevgül Uludag sich bemüht, die Positionen beider zyprischer Bevölkerungsteile zu berücksichtigen. Eben der wird von vielen einfach nicht gewollt. Die Faschisten favorisieren ohnehin den Status quo. Verhandlungen mit der jeweils verhassten Gegenseite werden als überflüssig, ja schädlich betrachtet. Und beide Bevölkerungsgruppen und vor allem ihre politischen Führungen haben sich in den vergangenen 35 Jahren jeweils eigene Legenden zugelegt. Die ethnisierten Konflikte der sechziger und siebziger Jahre, das Eingreifen der griechischen Junta in die zyprische Politik, die Invasion der türkischen Armee, all diese machtpolitisch motivierten Schritte werden auf beiden Seiten mit den Gräueltaten der je anderen gerechtfertigt. Im Süden und Norden existiert eine jeweils eigene, völlig eindimensionale Geschichtsschreibung.

Sevgül Uludags Bestreben, diese Bilder und Stereotypen zu verändern, ist heute noch Sysiphosarbeit. Seit 2002 legt sie den Fokus ihrer Arbeit auf ein besonders dunkles Kapitel der zyprischen Geschichte. Das Schicksal von über 2 000 Menschen (1 600 griechischen und 500 türkischen ­Zyprern) ist bis heute ungeklärt. Sie gelten als vermisst. Dass sie noch leben, glaubt mittlerweile niemand mehr. Doch ihre Familien und Freunde wollen zumindest wissen, wo sie begraben sind. (Siehe auch zougla Seiten 12/13)
Uludag hat als Journalistin und Buchautorin in den vergangenen Jahren zahlreiche Interviews mit Angehörigen der Vermissten geführt, ihre Schicksale veröffentlicht und so etwas Licht in das traurige Dunkel gebracht. Viele ihrer Inter­view­partner haben dabei zum ersten Mal über dieses tabuisierte Thema gesprochen. Kein Wunder, dass ihre Bücher einen Schock in der Bevölkerung ausgelöst haben. Doch diese schmerzhafte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist in den Augen der Journalistin, die für Zeitungen beider Inselteile schreibt, der einzige Weg, der in eine friedliche Zukunft Zyperns führt. »Ich stehe auf der Seite aller Zyprer«, sagt Uludag. »Ich möchte, dass beide Bevölkerungsgruppen sich im Spiegel betrachten und dabei nicht nur den eigenen Schmerz, sondern auch den Schmerz der anderen sehen.«

Auch die nordzyprische Internetseite Hamamboculeri.org (Kakerlaken) veröffentlicht ihre Artikel. Etwa die über einen Besuch auf Karpasia, einer langgestreckten Halbinsel im Nordosten Zyperns, die als wirtschaftlich rückständig gilt. Die östlichste Stadt dort ist Rizokarpaso (türkisch: Dipkarpaz). Vor 1974 war die Stadt fast ausschließlich von griechischen Zyprern bewohnt, heute ist Rizokarpaso eine der wenigen Enklaven im türkisch verwalteten Nordteil der Insel, in der noch griechische Zyprer leben. Die 357 griechischen Zyprer werden immer noch von UN-Truppen der UNFICYP mit Lebensmitteln versorgt.
Diese Reportage von der Halbinsel Karpsia trägt den Titel »Die Frau mit den blauen Augen«. Diese ist eine griechische Zyprerin, deren Bruder zu den Verschwundenen gehört, und die Uludag seit Jahren auf Karpasia mit anderen Familien, die Vermisste zu beklagen haben, zusammenbringt. Die Familienbiografie der Frau mit den blauen Augen aus Karpasia ist tieftraurig, aber exemplarisch:
1964 kam es auf Zypern zu einem Austausch von Kriegsgefangenen, bei dem auch der Bruder der »Frau mit den blauen Augen« freikommen sollte. Die Familie glaubte fest an seine Freilassung. Es wurden drei Schafe gekauft und drei Metzger angewiesen, an den drei Türen des Hauses zu warten. Die Schafe sollten geschlachtet werden, sobald der Sohn das Haus betreten würde. Doch er kam nie. Ihr Leben lang wartete die Mutter auf die Rückkehr des Sohnes und konnte seinen Tod nicht akzeptieren. Sie besuchte Wahrsagerinnen in Damaskus, Kairo und sogar der Türkei, um zu erfahren, wo der Sohn sich befinde. Nach dem Tod der Mutter verpflichtete sich die Tochter, das Schicksal ihres Bruders zu erkunden. Sie glaubt nicht mehr an eine Rückkehr, möchte aber sein Grab finden und die Überreste umbetten lassen. Auf dem Familienfriedhof soll er neben der Mutter begraben werden.

Eine andere Recherche von Sevgül Uludag handelt von mehreren Massengräbern. Eines davon liegt im Dorf Palekythro (Balikesir) im Norden, es wurde geöffnet, die Toten konnten identifiziert werden. Der historische Hintergrund dazu ist grausam, verdeutlicht aber das Ausmaß des damaligen Hasses zwischen Teilen der Bevölkerung. Parallel zum Einmarsch türkischer Truppen auf Zypern 1974 hatten vier bewaffnete türkische Zyprer das Dorf Palekythro überfallen. Sie wollten die moderne Melkmaschine der Familie Souppouris stehlen. Als diese sich weigerte und Nachbarn zu Hilfe eilten, wurden 18 Dorfbewohner erschossen. Es handelte sich vor allem um Frauen und Kinder. Der damals zehnjährige Petros Souppouris und sein achtjähriger Bruder Costas überlebten ebenso wie der 15jährige Nachbarsjunge George Liasi schwer verletzt. Der zweijährige Sohn von Georges Schwester Yanulla wurde in den Armen seiner Mutter erschossen. Yanulla kam knapp mit dem Leben davon, von dem traumatischen Schock hat sie sich, wie alle anderen auch, niemals erholt.

Doch das ist nur die eine Seite der Recherche. In den Bergen oberhalb des Küstenortes Limassol wurden die Leichen von 84 türkischen Zyprern aus den Dörfern Dochni (Tashkent), Zygi (Terazi) und Mari (Tatlisu) verscharrt. 1974 waren sie drei Wochen nach der türkischen Invasion mit Bussen in das Militärcamp Palodia im Süden der Insel gebracht worden. Die Gefangenen mussten ihre Ausweise, Uhren und andere Schmuckstücke ablegen. Alle Gegenstände, die ihre Indentifikation ermöglicht hätten, mussten verschwinden. Anschließend wurden die Gefangenen erschossen, nur der 19jährige Suat Kafadar konnte verwundet in die Berge fliehen. Er schaffte es bis zur britischen Militärbasis Acrotiri und berichtete dort von dem Massaker. Die Briten flogen den jungen Mann mit dem Hubschrauber in den Norden, da seine Verfolger ihn immer noch in der gesamten Region suchten. Die UN schickte daraufhin einen Erkundungstrupp nach Palodia, um den Vorwürfen Suat Kafadars auf den Grund zu gehen. Sie wurden jedoch von den griechischen Offizieren auf den nächsten Tag vertröstet, da in der Region ein Manöver stattfände. In der Nacht wurde das Massengrab bei Palodia geöffnet, die Leichen wurden an andere Orte nahe Limassol gebracht und systematisch verstümmelt, um die Spuren zu verwischen.

Wichtig für die Aussöhnung der Bevölkerungsgruppen ist die bikommunal arbeitende zyprische Friedensbewegung, die seit über zehn Jahren gegenseitige Besuche organisiert. Zunächst war der Grenzübertritt nur mit Sondergenehmigungen möglich, die durch die UN vermittelt wurden, seit der Liberalisierung des Grenzverkehrs 2003 ist der kleine Grenzverkehr unproblematisch. Eine kleine Gruppe trifft sich regelmäßig in der Hafenstadt Paphos im griechisch-zyprischen Süden. Viele der türkischen Zyprer der Gruppe stammen aus dem alten türkischen Viertel. Die aus dem Norden vertriebene griechisch-zyprische Familie Spyro fand Zuflucht im Haus der türkisch-zypri­schen Familie Irkad, die ihrerseits in den Norden floh. Sophia Spyrou, die in der Friedensgruppe aktiv ist, kam als Kind hierher. An ihr Dorf im Norden kann sie sich kaum erinnern, aber an die Flucht beim Einmarsch der türkischen Armee. »Ich erinnere mich daran, wie wir als große Familie fliehen mussten. Wir waren acht Kinder, sechs Schwestern und zwei Brüder. Wir hatten damals gar nichts mehr, wir mussten alles zurücklassen.« Nach der Vertreibung der Griechen aus dem Norden mussten auch die Türken ihr Viertel in Paphos verlassen.
Ulus Irkad, ebenfalls ein Mitglied der Gruppe, gehört wie Sophia Spyrou zum Jahrgang 1964. Auch er hat kaum Erinnerungen an seine Kindheit, aber an die Sehnsucht der Großeltern, die starben, ohne ihr Dorf noch einmal gesehen zu haben. Ein Großteil des Viertels steht heute leer. Die Häuser sind beschädigt. Die türkischen Zyprer hätten darauf Anspruch. Doch könnten sie hier wieder leben? Selbst die Moschee steht seit 29 Jahren leer, überall finden sich Spuren des Verfalls. Ulus Irkad und seine Familie leben nun im Norden unter viel komfortableren Lebensumständen. Eine Rückkehr jedoch kann sich keiner von ihnen so recht vorstellen.